Die Geburt der Moderne aus dem Geiste der Phantastik?

Charles Baudelaires Edition von Edgar Allan Poes Erzählungen liegt in neuer Übersetzung vor

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es muss als unerhörte Begebenheit der Geistesgeschichte gelten, dass der französische Dichter Charles Baudelaire, nachmals einer der größten Lyriker der europäischen Literatur, in den 1840er Jahren Texte des amerikanischen Autors Edgar Allan Poe entdeckte – und geradezu eine Besessenheit für den Kollegen entwickelte. Sowohl thematisch als auch poetologisch ermöglichte die Bekanntschaft mit Poes Œuvre Baudelaire, den Horizont der vorherrschenden romantischen Ästhetik zu sprengen. In Poe fand er einen literarischen Wahlverwandten. Der in Europa zu dieser Zeit weitgehend unbekannte und allenfalls abschätzig beurteilte Amerikaner wurde von Baudelaire als Genie gefeiert, zu einem der größten Dichter des Jahrhunderts erklärt und in eine Reihe mit Honoré de Balzac, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann gestellt. Bei bloßer Bewunderung ließ es der französische Dichter freilich nicht bewenden. Er schrieb einige (längere und kürzere) Essays über den poetischen Bruder im Geiste, übersetzte zwischen 1848 und 1865 zahlreiche Poe-Texte, publizierte seine Übertragungen in nicht weniger als fünf Bänden und verfolgte geradezu missionarisch das Projekt, Poe in Frankreich bekannt zu machen.

Mit der Propagierung der phantastisch-befremdlichen Poetik Poes konnte Baudelaire eigene ästhetische Positionen legitimieren und den Zugang zu neuen thematischen Feldern und Schreibweisen ebnen. Johann Wolfgang Goethes häufig zitiertes Bonmot „Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke“ erfährt bei Poe und in dessen Nachfolge bei Baudelaire Mitte des 19. Jahrhunderts seine vorläufige weltliterarische Zuspitzung. Das Groteske, Abgründige, geradezu Kranke, das Poes Texte so meisterhaft zelebrieren, sollte von entscheidendem Einfluss auf Baudelaires skandalumtoste Les Fleurs du Mal (1857) sein, eine der ganz großen Gedichtsammlungen der Weltliteratur. Will man es plakativ formulieren, dann stellt Baudelaires Hinwendung zu Poe eine Geburtsstunde der literarischen Moderne dar. Diesem Umstand trägt der Band Unheimliche Geschichten Rechnung, der eine von Andreas Nohl neu übersetzte (und angenehm lesbare) Auswahl von Poes Erzählungen und einige Baudelaire-Texte über den verehrten Dichter enthält.

Dieses Buch ist eine große Freude, und doch auch ein Ärgernis. Die Texte sind über jeden Zweifel erhaben, das Ansinnen, sie in dieser Kombination zu präsentieren, verdient uneingeschränkt Applaus, die Umsetzung lässt aber einige Fragen offen. Geboten werden dreizehn Erzählungen Poes aus den Jahren 1832 bis 1845 und eine Handvoll Texte Baudelaires, insbesondere die Studie Edgar Poe, Leben und Werk (1856). Gerade dieser Essay hat allerdings etwas Patina angesetzt, da Baudelaire in erster Linie mit biografischen Fehlurteilen aufräumen wollte, die unseren Blick auf Poe längst nicht mehr in dem Ausmaß verstellen, wie es für das 19. Jahrhundert noch zu konstatieren war.

Die versammelten Erzählungen eignen sich gleichermaßen als Einstieg in das verzweigte Werk Poes wie als Anregung zur Neulektüre. Sie stellen einen durchaus gelungenen Querschnitt dar. Enthalten sind unter anderem klassische Detektiverzählungen (Der Doppelmord in der Rue Morgue, Der entwendete Brief), die jeder, der sich für Kriminalliteratur interessiert, gelesen haben muss – und die eindrucksvoll unter Beweis stellen, dass Arthur Conan Doyle zwar ein unterhaltsamer Autor war, aber unverkennbar auf den Schultern des Giganten Poe steht. Dazu gesellen sich die Blaupause der Abenteuer- und Schatzgräber-Erzählung (Der Gold-Skarabäus – in früheren Übersetzungen meist weniger manieriert einfach Der Goldkäfer), deren Raffinesse Robert Louis Stevensons Schatzinsel wie ein betuliches Kinderbuch wirken lässt, Erzählungen von teils dezidiert fingierten grotesk-phantastischen Fahrten (Ente einer Ballonfahrt, Das beispiellose Abenteuer eines gewissen Hans Pfaal), von mesmeristischen Experimenten (beispielsweise Die Fakten im Fall Waldemar) und anderen grauenhaften Erlebnissen. Poe, der ganz nebenbei auch als großer Humorist zu entdecken ist, wird durch diese Auswahl als Autor begreifbar, der als Adept, nicht aber Epigone der schwarzen Romantik und Vorläufer des Ästhetizismus nahezu sämtliche Spielarten moderner Phantastik von der subtilen Horrorgeschichte bis zur satirischen Science-Fiction präfiguriert. Wer etwa wissen will, woher H. P. Lovecraft (der den Einfluss Poes freilich nie leugnete) seine Inspirationen hatte, möge „Manuskript in Flasche gefunden“ studieren, während Metzengerstein, Hommage und ironische Übersteigerung der deutschen Romantik, Motive von Theodor Storms mehr als ein halbes Jahrhundert später entstandener Schimmelreiter-Novelle vorwegnimmt.

Die Erzählungen, so heterogen sie sind, kreisen um die fragile Grenze von Tod und Leben, von Vernunft und Wahnsinn und exponieren unglaubliche, sich bis ins labyrinthische ausweitende Wahrnehmungen. Einige lösen die ausgebreitete Phantastik am Ende auf, andere verunsichern die Glaubwürdigkeit der Erzählinstanz bis zur Unentscheidbarkeit. Von großer Bedeutung ist für Poe das Motiv des Doppelgängers und der (meist weiblichen) Wiedergängerin. Es steht außer Frage, dass Poe einer der Klassiker des Unheimlichen und Phantastischen des 19. Jahrhunderts und sein Œuvre geradezu eine Enzyklopädie unheimlicher Phänomene und Erzählweisen ist. Dennoch erschließt sich die Betitelung des Bandes nicht. Ein Leser, der zu einem Poe-Buch mit dem Titel Unheimliche Geschichten greift, erwartet mit einigem Recht Genre-Klassiker wie Der Fall des Hauses Usher, Die Maske des roten Todes, Die schwarze Katze oder Das verräterische Herz. All diese Texte sind hier nicht enthalten. „Unheimlich“ ist mithin für diese Sammlung eine eher sinn-, weil völlig konturlose Klassifizierung.

Die Angemessenheit der Vokabel steht in mehrerer Hinsicht infrage. Zum einen, weil genuin „unheimliche“ Texte fehlen, zum anderen, weil etwa die Detektiv- und Abenteuergeschichten nun wahrlich nicht unheimlich sind, und nicht zuletzt deswegen, weil Baudelaires Ausgabe der Erzählungen Poes den Titel Histoires extraordinaires trägt. Das aber (statt etwa mit „Ungewöhnliche Geschichten“) mit Unheimliche Geschichten zu übersetzen, rückt das gesamte Unternehmen in ein eigentümliches Licht. Es geht um den wohlfeilen Effekt – das Unheimliche erregt immer Aufmerksamkeit, und klar, Poe ist ein Klassiker des Unheimlichen. Dann aber bräuchte es nicht das ganze Brimborium mit Baudelaire, der seine Übersetzung eben nicht so plakativ betitelte.

Dazu fügt sich auch die Beobachtung, dass der Band zwar ausnehmend schön gestaltet und mit klugen und hilfreichen Anmerkungen versehen ist, offenbar lästige philologische Informationen aber ausgespart bleiben. Nun wäre das für eine reine Leseausgabe nicht allzu verwunderlich. Der Band verbleibt aber in einer Unentschiedenheit, ob er nun aktualisierte Übersetzung eines spezifischen literarhistorischen Dokuments sein will – eben der Histoires extraordinaires – oder eine mehr oder weniger beliebige Poe-Sammlung, wie es sie vergleichbar alle Jahre wieder gibt (für das Frühjahr 2018 ist übrigens schon wieder eine Poe-Sammlung mit dem Titel Unheimliche Geschichten angekündigt, nun im Galiani Verlag, ausgewählt von Fjodor M. Dostojewski, mit ganz anderen Texten). Die Unklarheiten beginnen mit der kryptischen Information, es handle sich um eine „Auswahl“, die auf Baudelaires Ausgabe der Histoires extraordinaires basiere. Ist der Textbestand also die Auswahl aus der Auswahl, die Baudelaire 1856 getroffen hat? Oder handelt es sich um alle Erzählungen des fraglichen Bandes? Leider gibt auch das lesenswerte Nachwort darüber keinen Aufschluss. Außerdem wird nicht ersichtlich, wieso die Widmung Baudelaires – es ist zu vermuten, dass er seine Ausgabe damit eröffnete – in den Anhang verlegt wurde. Es bleibt mithin unklar, ob es womöglich Überschneidungen mit den Nouvelles Histoires extraordinaires von 1857 gibt (über die hier jedwede Information fehlt), wie die Originalanordnung der Texte beschaffen war und welche der im Anhang enthaltenen Baudelaire-Texte Bestandteile der Sammlung von 1856 waren. Zudem gibt es keine weiterführenden Informationen darüber, welche sonstigen Poe-Essays Baudelaire verfasst hat. Das ist umso bedauerlicher, als es ja ein Nachwort und Erläuterungen zu den einzelnen Texten gibt – wieso dann mit diesen Informationen gegeizt wird, ist nicht recht einsichtig.

Das klingt nun alles sehr akademisch und kompliziert, wäre aber ohne allzu großen Aufwand zu erledigen gewesen. Kurz: Als Einstieg in den Erzählkosmos Poes ist dieses Buch hervorragend geeignet – wer nach der Lektüre dieser Erzähltexte kein Poe-Anhänger ist, wird es nimmermehr. Als Dokument der literarhistorisch einzigartigen Konstellation Poe-Baudelaire ist es eine vertane Chance.

Titelbild

Edgar Allan Poe: Unheimliche Geschichten.
Herausgegeben von Charles Baudelaire.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Nohl.
dtv Verlag, München 2017.
421 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783423281188

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch