Rühren im postsäkularen Brei
Katharina Weiss‘ Dissertation zum „Religionsdiskurs unter dem Paradigma von Individualität in Literatur und Film der Gegenwart“ steht auf schmaler Materialbasis
Von Silke Horstkotte
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseReligion, jahrzehntelang ein Stiefkind der Literatur, ist seit den 1990er Jahren wieder zu einem wichtigen Thema der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geworden. Studien und Aufsätze von Georg Langenhorst, Christoph Gellner und Andreas Mauz haben zuletzt immer wieder auf diese Konjunktur aufmerksam gemacht. Die Verfasser sind Theologen, das interdisziplinäre Gebiet Literatur und Religion ist mithin bisher vor allem von der Seite der Literaturtheologie her bearbeitet worden. In der Literaturwissenschaft dagegen wird Religion in der Gegenwartsliteratur stiefmütterlich behandelt: Zwar existieren verstreute Aufsätze und Sammelbände zu einzelnen Aspekten, doch konzentrieren sich diese überwiegend auf wenige Autoren und Werke, insbesondere immer wieder auf die Christus-Trilogie von Patrick Roth. Ein monografischer Überblick zur Darstellung der Religion in der Gegenwartsliteratur stellt dagegen bislang ein Desiderat germanistischer Forschung dar.
In diese Lücke stößt die Dissertation von Katharina Weiss, die sich vornimmt, die Reaktualisierung der Religion in neuen Texten unter dem Paradigma eines individualistischen Nonkonformismus zu untersuchen. Dieses Paradigma wird in dem fast 200 Seiten umfassenden Einleitungsteil der Arbeit in immer neuen, ein begrenztes Wortmaterial je unterschiedlich kombinierenden, jedoch kaum präzisierenden Wendungen umschrieben. Den Textanalysen in der zweiten Hälfte der Arbeit wird damit einerseits ein fester interpretatorischer Rahmen gesetzt, bei dem die Ergebnisse von vornherein feststehen; andererseits wird aber nie wirklich greifbar, worin dieser Rahmen eigentlich besteht, weil die vielfältig wiederholten Kernbegriffe der Arbeit – Religion, Diskurs, nonkonform, postsäkular, postmodern – nirgendwo verbindlich expliziert werden.
Ausgangspunkt dieses Rührens im postsäkularen Brei ist die psychoanalytisch angehauchte These einer Wiederkehr der Religion in Gestalt eines entstellten Wiedergängertums. Die Arbeit sitzt einer banalisierten Säkularisierungstheorie auf, nach der Religion aus der Gegenwart verschwunden war und in Literatur und Filmen nun in fremdem Gewand wiederkehrt. Religion ist für Weiss per se ein Relikt der Vergangenheit, kein lebendiger Teil der Gegenwart; dass die Mehrheit der Bundesbürger auch heute einer Religionsgemeinschaft angehört, ignoriert Frau Weiss, auch die vielfältigen religionssoziologischen Arbeiten zum religiösen Wandel und zur religiösen Renaissance der Gegenwart (beispielsweise von José Casanova, Grace Davie, Friedrich Wilhelm Graf oder Hartmut Lehmann) haben keine Spuren in ihrer Dissertation hinterlassen. Stattdessen postuliert Weiss bereits zu Beginn ihrer Einleitung ein „Spannungsverhältnis zwischen Religion als zeitungemäßer Tradition und zeitgemäßer, (post)moderner Ideologiebildung“ in Texten und Filmen. Dass die Verfasserin hier und anderswo durchweg von ‚der‘ Religion spricht, ohne zwischen unterschiedlichen Traditionen zu differenzieren oder die gelebte Religion von literarischen Darstellungen des Religiösen zu unterscheiden, gehört zu den vielen ärgerlichen Aspekten der Arbeit.
Die Bezugnahme auf vorliegende Religionskonzepte bleibt dabei inkonsistent: Immer wieder spricht Weiss von Religion als Diskurs, ohne Bezug auf die praktischen und performativen Aspekte von Religion zu nehmen; an anderer Stelle bezieht sie sich jedoch auf den funktionalen Religionsbegriff Thomas Luckmanns, für den gerade die Performanz das entscheidende Merkmal der Religion ist und letztlich alles Religion sein kann, was religiöse Funktionen wie Gemeinschaftsstiftung, Ritualisierung und Sinnstiftung übernimmt. Ähnlich widersprüchlich wird der Titelbegriff „Nonkonformismus“ gebraucht. Er scheint primär eine Individualisierung der Religion in der Moderne zu bezeichnen, sekundär jedoch auch die Religion insgesamt zu umfassen, weil Religion für Weiss immer im Widerspruch zur Moderne steht und insofern eine „explizit nonkonformistische Weltsicht“ konstituiert. In einem engeren literaturwissenschaftlichen Sinne schließlich beschreibt Nonkonformismus bei Weiss – drittens – die Darstellung von Religion in gegenwärtigen Texten, die „Religion individualistisch denken und auf akzentuiert subjektive Sinnkonstitution hin befragen“. Nicht gemeint ist dagegen das, was der Begriff gemeinhin bedeutet, also religiöser Nonkonformismus im Sinne der Zugehörigkeit zu einer religiösen Sondergemeinschaft (veraltet: Sekte) – ohne, dass diese Abgrenzung jedoch formuliert würde.
Zum Beleg ihrer weitschweifigen Behauptungen analysiert Katharina Weiss in der zweiten Hälfte ihrer Arbeit Patrick Roths Novellen Riverside und Magdalena am Grabe, zwei außerordentlich häufig im Zusammenhang mit Religion in der Gegenwartsliteratur untersuchte Texte, sowie den Sci-Fi-Thriller Das Jesus Video von Andreas Eschbach, den Film Hereafter in der Regie von Clint Eastwood und den ARD-Fernsehfilm Bis nichts mehr bleibt – ein äußerst schmales und heterogenes Korpus (weitere Texte werden nicht erwähnt). Auf dieser dünnen Basis will Weiss zeigen, was sie in ihrer Einleitung – die übrigens den gleichen Umfang hat wie die gesamten folgenden Analysen – bereits konstatiert hat: dass Nonkonformismus im „postsäkularen Diskurs […] als ein Topos“ herrsche, über den „Religion dem dominierenden Individualitätsparadigma anvertraut, gleichzeitig institutionellen Hegemonien entzogen und dadurch postsäkular re-aktualisiert und re-legitimiert“ werde. Natürlich wird auch der Begriff „postsäkular“ nicht definiert, die einschlägigen Arbeiten zur postsäkularen Literatur (John McClure, Jo Carruthers, Kathryn Ludwig, Paul Corrigan) nicht angeführt, so dass die Implikationen dieser These vage bleiben. Dabei sind die Analysen im Detail sogar plausibel und gut beobachtet – nur müssen sie immer wieder zu dem vorhersehbaren Ergebnis führen, dass Religion im „postsäkularen Diskurs bzw. Interdiskurs“ eine Sache allein des Individuums sei.
Dass die Analysen tatsächlich immer wieder auf dieses Ergebnis hinauslaufen, hat Weiss zum einen durch ihre Textauswahl sichergestellt (statt des Scientology-Films Bis nichts mehr bleibt hätte sie beispielsweise auch den Tatort Perfect Mind auswählen können, in dem die Sekte über das Individuum siegt). Zum anderen ist die Konformität der Ergebnisse auch der theologischen und kulturhistorischen Unkenntnis der Verfasserin geschuldet – beispielsweise sieht Weiss in der Figur Diastasimos in Patrick Roths Riverside nur den individualistischen Religionsdissidenten, der die innere Heilung über das äußere Wunder stellt, ohne jedoch zu bemerken, dass die innerpsychischen Heilungsgeschichten bei Roth in einer jungianischen Tiefenpsychologie fußen, der es gerade nicht um das Individuum, sondern um ein kollektives Unbewusstes geht, in dem die Romanfiguren als Archetypen agieren. Auch scheint es zu simpel gedacht, dass die Heilungsgeschichte bei Roth „eine individuelle Erfahrung und das individuelle Zeugnis gegen eine institutionalisierte Form von Religion“ stelle. Die Heilungswunder der Evangelien werden schließlich ebenfalls an Individuen vollzogen, ihre Pointe besteht aber darin, dass sie zum Glauben der Geheilten führen oder diesen Glauben bestätigen („dein Glaube hat dir geholfen“), während die Figur Diastasimos ungläubig bleibt. Die Differenz zwischen diesen Wunderberichten ist nicht die zwischen Individuum und Institution, sondern zwischen Glaube als Vertrauen und Glaube als Wissen. Hier und anderswo steht Katharina Weiss ihre theologische Unbelecktheit im Wege – sie weiß auch nicht, was der deus absconditus ist und verwendet „apokalyptisch“ für Transzendenzerfahrungen (nicht für die Apokalypse); Jesus hält sie für ein „Symbol der Menschwerdung Gottes“.
Die Dissertation von Katharina Weiss ist nicht empfehlenswert. Sie wurde offensichtlich schlecht betreut und hätte zumindest für die Veröffentlichung umfassend überarbeitet werden müssen. Im viel zu umfangreichen Einleitungsteil der Arbeit fehlen klare Definitionen der zentralen Begriffe; die Textanalysen verfahren zu schematisch und nehmen keinen Bezug auf die vorliegende Forschung zu postsäkularer Literatur.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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