Der Bartforscher und der einsame Junge

Marion Poschmann geleitet in „Die Kieferninseln“ durch düstere japanische Wälder

Von Jenny SchiemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jenny Schiemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gilbert Silvester träumt, seine Frau habe ihn betrogen. Ob das der Wahrheit entspricht, ist ihm egal. Er macht sich auf den Weg nach Tokio und entflieht so seiner Frau Mathilda und seinen Verpflichtungen als Privatdozent an der Universität. Gilbert ist Bartforscher, obwohl er von seiner eigenen Forschung nicht viel hält, und hat es für seine eigenen Ansprüche nicht weit genug gebracht. Obskure Fragen, die ihn beschäftigen, sind etwa: Warum wird Gott immer mit einem weißen Vollbart dargestellt und warum „das Böse“ mit einem Ziegenbärtchen? Wieso gibt es in Japan eigentlich keine Bartträger? Schnell wird klar, dass Gilbert zur Beantwortung dieser Frage wohl nicht hätte nach Japan reisen müssen. Viel wichtiger an dieser Reise ist für ihn der Abstand von Zuhause. Er kauft sich Bücher japanischer Schriftsteller und plant mit Hilfe ihrer Berichte eine Reise, ja fast eine Pilgerfahrt durch Japan.

Als er jedoch auf einem Bahnsteig in Tokio steht, rettet er durch gutes Zureden den jungen Japaner Yosa davor, sich auf die Gleise zu werfen. Gilbert wird auf ihn aufmerksam, weil Yosa einen Bart trägt. Diesen hat er sich jedoch nur, in Japan nicht außergewöhnlich, angeklebt, um von seinem glatten und braven Gesicht abzulenken. Von da an ist der junge Japaner sein Begleiter. Sie reisen zusammen, trinken Unmengen an grünem Tee, und Yosa bringt Gilberts Pläne durcheinander, weil er Orte besuchen möchte, an denen Menschen Suizid begehen. Dazu gehört unter anderem ein düsterer Wald, in dem Leichen liegen, die nur einmal im Jahr entfernt werden. Yosa ist verzweifelt: Seine Noten in der Universität sind nicht sehr gut, sondern nur gut, und den Teeladen seiner Eltern möchte er auch nicht übernehmen. Deshalb hat er ein Suizid-Handbuch gekauft, an das er sich während der Reise klammert. Beide Reisenden verbindet, dass sie an ihren eigenen Ansprüchen gescheitert sind. Gilbert flüchtet deshalb nach Japan, Yosa will in den Tod flüchten. 

Während der Erzählung reisen sie schließlich zu den Kieferninseln, die Gilbert dann doch nicht mehr so spannend findet, wie er sie sich vorgestellt hatte: „Immer war man umgeben von unproblematischem Azaleengrün, positivem Moosgrün, einfachem Bambusgrün – und dem geheimnisvollen, dunklen Grün der Kiefern. Sie standen lichtnadelig und kompakt […].“

Marion Poschmann beschreibt eindrucksvoll und beinahe märchenhaft die Farbenpracht der japanischen Natur. Oftmals scheint es so, als verliefen sich die Protagonisten darin, jedoch finden sie immer wieder zum nächsten Bahnhof und Gilbert wiederholt einen Ausweg aus Yosas suizidalen Gedanken. Die Geschichte wird außerdem von Briefen Gilberts an Mathilda durchzogen, in denen er von seinen Erlebnissen oder der Historie japanischer Schriftsteller berichtet, sich jedoch nicht zu ihrem Beziehungsstand äußert.

Das japanische Flair wird durch melancholische Haikus, die die Protagonisten passend zum jeweiligen Aufenthaltsort schreiben, perfektioniert. Sie unterstreichen nochmals die düsteren und nachdenklichen Aspekte der Geschichte, die spannender wird als Gilbert Yosa an einem Bahnhof verliert. 

Auf den knapp 170 Seiten von Marion Poschmanns Roman Die Kieferninseln passiert nicht besonders viel Unvorhersehbares und es gibt wenige handelnde Personen. Das Buch stand jedoch zurecht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2017, denn sprachlich ist es einmalig raffiniert geschrieben. Geschichte und Sprache – alles wirkt stimmig und zueinander passend und genau das macht Die Kieferninseln zum Lesegenuss.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Marion Poschmann: Die Kieferninseln. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
165 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427606

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