Der Index der Künste
Diedrich Diederichsen entfaltet in seinen Adorno-Vorlesungen seine ästhetische Theorie
Von Chris W. Wilpert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDen Ausgangspunkt von Diedrich Diederichsens als Körpertreffer betitelten Frankfurter Adorno-Vorlesungen aus dem Jahr 2015 bildet die Verknüpfung zweier Thesen. Zum Einen sei der „Epochenschnitt“ um 1960, den die „technischen Aufzeichnungsmöglichkeiten Phonographie und Photographie“ in den Künsten ermöglichten, lange nicht in den Blick genommen worden. Zwar waren diese Techniken bis dato schon „mehr als ein halbes Jahrhundert“ alt, doch wurden die kulturindustriellen Bedingungen, die sie zu populären Künsten machten, erst nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen. Entsprechend wurde ihr medientheoretischer Einschnitt vereinzelt schon gewürdigt – am prominentesten wohl in Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz –, aber seltener ihr ästhetisches Potenzial, das sie eben erst ab den 1960ern entfalteten und deren Wirksamkeit bis heute besteht. Wo dagegen die bloße Ästhetik in den Blick genommen wurde, zuvorderst in Adornos Ästhetischer Theorie, wurden die medialen und technischen Komponenten kaum wahrgenommen, da weiter an der Trennung zwischen Kultur in Nachfolge des bürgerlichen Autonomieverständnisses als ästhetischem Raum hier und Kulturindustrie als technisch-industriellem „Massenbetrug“ dort festgehalten wurde.
Die volle ästhetische Wirkung und ihre Verbreitung zeitigte der mediale Wandel erst später mit dem Entstehen der Populärkultur. Diederichsens zweite These, die er mit der ersten verknüpfen möchte, lautet daher, dass diese Verbreitung zu dem Fall der „vormals scharfe[n] Trennung von ‚hohe' und ‚niedere' Kunst“ führte. Wenn diese These bisher nicht genug beachtet worden sei, heißt das jedoch nicht, dass sie gänzlich neu wäre. Sie findet sich in Diederichsens eigener Arbeit bereits 1985 in Sexbeat als emphatisches Bekenntnis. Dort schreibt er noch aus der Position subkulturellen Aufbegehrens: „Die Pop-Kultur, so dubios das sein mag, hat entscheidend dazu beigetragen, die alte bürgerliche Hochkultur restlos verschwinden zu lassen.“ Durchgesickert ist diese Erkenntnis freilich noch lange nicht in alle bürgerlichen Feuilletons. Mindestens die Besucherinnen der Wagner-Festspiele in Bayreuth möchten an dieser Trennung bestimmt noch gerne festhalten, auch wenn es ihnen Schlingensief oder Castorf mitunter schwer machen. Für die amerikanische Popkultur registrierte bereits Leslie Fiedlers zentraler Text Überquert die Grenze, schließt den Graben! von 1968 über die ästhetischen Bedingungen der Postmoderne in der literarischen Produktion, dass diese Grenze fiel (und der Text trug selbst maßgeblich dazu bei, erst Recht in seiner westdeutschen Rezeption). Wenn Diederichsen daher beklagt, die Verbindung der beiden Thesen sei „bislang selten wahrgenommen und diskutiert“ worden, so ist das einschränkende „selten“ nicht zu unterschätzen. An den Rändern der Poptheorie, an den Rändern des akademischen Betriebs, der mit noch größerer Verspätung als es ohnehin schon meist der Fall ist amerikanische Entwicklungen wahrnimmt, bestand ein Bewusstsein über diese Thesen und ihre Folgen. Diederichsen selbst hatte sie auch 2014 in seinem Kompendium Über Pop-Musik in wesentlichen Teilen schon entwickelt. Dort allerdings mit Blick auf die titelgebende „Pop-Musik“ als Facette der Pop-Kultur, während er in den Adorno-Vorlesungen dezidiert von den „nachpopulären Künsten“ schreibt, aber noch einmal an seine Begrifflichkeit von der „Kulturindustrie II“ erinnert, die er in Über Pop-Musik ebenfalls schon schematischer entfaltet hatte.
Sowohl die Rede von den „nachpopulären Künsten“ im Untertitel als auch der metaphorische Titel „Körpertreffer“ bleiben aber erklärungsbedürftig. Denn sie erklären sich nicht ohne Weiteres aus dem Text selbst, der häufig nur implizite Definitionen bietet. Es überrascht daher nicht, dass Diederichsen in einem Interview in der Tageszeitung taz vom 6. Oktober 2017 explizit zu beiden Begrifflichkeiten befragt wurde. Die Antworten dort liefern einen rudimentären Eindruck von der Komplexität der beiden Begriffe. Die Rede von „nachpopulären“ Künsten soll dabei der bereits beschriebenen Aufhebung der Trennung von high und low culture Rechnung tragen. Wo populäre Kultur ab Anfang des 20. Jahrhunderts und Popkultur ab ca. Mitte des 20. Jahrhunderts immer gegen die vermeintlich hohe Kunst in Anschlag gebracht wurden, selbst da wo sie in deren Tradition und vor allem in der Tradition der modernen Avantgarden stand, ist diese Unterscheidung inzwischen obsolet geworden. Auch hier ist dies nicht in erster Linie einem ästhetischen Effekt, sondern vor allem technisch-medialen Umbrüchen geschuldet. Tom Holert und Mark Terkessidis haben dies bereits in den 1990ern als „Mainstream der Minderheiten“ beschrieben: In der Vielzahl an Gleichzeitigkeiten gibt es keinen Mainstream mehr, keine Garde, der – wie noch Punk in den 1970ern – eine Avantgarde voraus sein könnte. Völlig entfaltet hat sich dieser Wandel aber erst im neuen Jahrtausend durch die digitale Revolution, die eine globale Unübersichtlichkeit produziert, bei der sich Moden, Trends, Popphänomene nicht mehr im gleichen Maße wie im 20. Jahrhundert noch nach Jahren, sondern beinahe nur nach nach täglichen Hashtags sortieren lassen. Trotzdem resultieren die ästhetischen Formen und Mittel – so eben Diederichsens zentrale These – immer noch aus dem Fall dieser Grenze und aus der Ästhetik der Avantgardekunst der 1960er. Diese ästhetischen Formen und Wirkungen versucht er mit dem Bild „Körpertreffer“ zu fassen.
In dem benannten taz-Interview heißt es daher weiter zu diesem Titel: „Die Eindrücklichkeit der Künste hat damit zu tun, dass Spuren von echten Körpern übertragen werden.“ Diese Spuren und Wirkungen der Körper, die Treffer erzielen die Künste durch ihre Indexialität. Indexialität bzw. Index-Effekte wäre daher als der zwar sperrigere und sprödere, aber deutlichere, zumal deutlicher ausgeführte Begriff der geeignetere Buchtitel gewesen. Die Index-Effekte hatte Diederichsen ebenfalls schon in Über Pop-Musik als konstitutives Merkmal von Popmusik beschrieben, aber sie treffen auch für zahlreiche Facetten der populären – oder eben nachpopulären – Künste zu. Mit dem aus Pierces Zeichentheorie entlehnten Begriff des Index ist ein Anzeichen für etwas gemeint, das in seinem Effekt für die Körperlichkeit des aufgezeichneten Artefakts zeugt. Der Index transportiert das Moment der Verursachung in der Aufzeichnung und damit ein Stück Wirklichkeit mit und bürgt so für eine gewisse Singularität, für ein Ereignis, das seinen Reiz vermeintlich gerade aus der Vervielfältigung und Bearbeitung zieht. Doch der Index zeitigt seinen Effekt eben nicht aus der scheinbaren Austauschbarkeit dessen, was aufgezeichnet wird, sondern aus der Einzigartigkeit. Es ist gerade das „Stolpern, Kleckern“, z. B. ein Kaugummi auf einem Kanaldeckel, der diesen Effekt erzeugt als eine „technische[] Übertragung von Lebendigkeit“. Man könnte unterstellen, hier würde Benjamins Konzept der Aura wiederbelebt, hier würde gerade in der technischen Reproduzierbarkeit nach einer Reauratisierung gesucht. Denn was der Index transportiere, sei gleichsam „die Direktübertragung einer anderen Menschenseele vermittels der technischen Aufzeichnung des Körpers“. Diese Präsenz, beispielsweise in Form der Stimme, bedarf jedoch einer Erklärung. Wie in der Popmusik so spielt auch in den bildenden Künsten die Paratextualität eine immense Rolle. Die Entstehungsbedingungen, der Kontext, der Grad der Bearbeitung und Verfremdung, gerade die Wirklichkeitseffekte, die nicht in einem Kunstwerk, beispielsweise auf einem Foto, sichtbar sind, werden immer erklärungsbedürftiger. Performativ macht das Buch schließlich genau das Gleiche. Der so simple wie zuerst undurchsichtige Satz auf der Umschlagrückseite bringt diesen Gedanken auf den Punkt: Denn der Index „brüllt aus der Wirklichkeit, sagt aber erstmal nichts“.
Der Blick auf die Etablierung der Aufzeichnungsmöglichkeiten und des Wandels zu einer Kulturindustrie II wirft nun auch die Frage nach den Folgen und Wirkungen dieser Effekte jenseits des körperlichen Reizes auf. Doch technische und mediale Umbrüche bringen meist noch keine ästhetischen oder gar gesellschaftlichen mit sich. Diese Wechselwirkung wird im zweiten und dritten Teil des Buches thematisiert (analog zu der Aufteilung in drei Vorlesungen). Ausgehend von der theoretischen und begrifflichen Grundlage werden die diagnostizierten Realitätseffekte exemplarisch an der Avantgardekunst des New Yorker Underground um 1960 und für die gegenwärtige „Real(polit)-kunst“ untersucht. Die Beobachtung für die 1960er lautet, dass sich in einer speziellen Übergriffsästhetik jene Effekte realisieren, die aus einem radikalen und radikal politischen Programm zur Veränderung heraus den Boden bereiteten für nahezu alle Spielarten der gegenwärtigen nachpopulären Künste. Besonders einleuchtend lässt sich dies an Figuren wie Tony Conrad zeigen. Mit John Cale und La Monte Young gehörte er zum Dream Syndicate, das mit seiner Drone-Musik einerseits auf extreme konzeptuelle Kunst setzte, andererseits die Vorstellung von westlicher Tonkunst radikal transzendierte. Dies alles fand im Umfeld bzw. an den Rändern von Andy Warhols Factory statt (entsprechend bilden Velvet Underground eine Art Knotenpunkt, zu dem der Faden von Tony Conrad und anderen hinläuft). Conrads Film The Flicker markiert bildästhetisch eindrücklich die Übergriffsästhetik, die Diederichsen beschreibt. Gleichzeitig wurden in den 1960ern Effekte der Theatralität, der Marginalität, der Körperkunst, der devianten Sexualität etabliert und politisiert. Dies führt in der Erzählung über die (westlichen) Avantgarden von den 1960ern nun fast geradlinig zu der Industrial Music von Throbbing Gristle. Für die Gegenwart setzt sich diese Wirkung aber gerade in scheinbar nicht dem Underground verpflichteten Ausdrucksformen und Übergriffsästhetiken der Künste fort: in HipHop, Metal und Pornographie. Am Metal führt Diederichsen etwa vor, wie sich die Orientierung an den Reizen aus dem Drone der 1960er speist, wie dieser Effekt aber fortgeführt und dezidiert gesteigert wird – nicht, ohne dabei auf ein Maß an Selbstreferenzialität und Übersteigerung zurückgeworfen zu sein.
Inwiefern die gegenwärtige Kunstproduktion durch die Indexeffekte und den Blick auf Wirkung und Reize womöglich eine ganz neue Rezeptionsästhetik entwickelt, wird vor allem an den letzten Beispielen des Bandes klar. Die Stärkung der Kuratorinnenrolle, die Vielzahl an Symposien und Kunstfestivals – die Diederichsen ebenfalls in der Tradition des vormals gegenkulturellen, inzwischen völlig kommerzialisierten Form des Rock-Festivals sieht – führen zu einer zunehmenden Fixierung auf die Rezepientinnengemeinschaft. Was die häufig kollektive Kunstproduktion und die gemeinschaftliche Rezeption aber nicht verschleiern können, ist die – von Benjamin schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderst beklagte – Armut an Erfahrung, die sich, ebenfalls durch einen medialen Wandel, nur verstärkt hat. Diederichsens Verdienst ist es jedoch, diese nie kulturkritisch zu sehen, sondern immer dialektisch und mit einem scharfen Blick für die Spezifik der Künste.
Es ist definitiv eine Schwäche des Textes, dass zentrale, eben titelgebende Begriffe sich nur schwer freilegen lassen und man dazu auf Para- oder Epitexte angewiesen ist. Trotzdem entfaltet der eigentlich schmale Band seinen eigenen Indexeffekt, wenn diese Schwierigkeiten überwunden sind. Denn wie nebenbei handelt es sich dabei um nicht weniger als Diederichsens eigene ästhetische Theorie. Obwohl zentrale Momente daraus an anderer Stelle schon entwickelt worden waren, obwohl gerade das umfangreichere, aber an vielen Stellen auch zerfasernde Über Pop-Musik als sein Opus Magnum betrachtet wurde, wäre es angebracht, das „Zur“ im Untertitel durch ein „Die“ zu ersetzen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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