Von Menschen und anderen Tieren

Die Februarausgabe von literaturkritik.de widmet sich den Human-Animal Studies

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Als kürzlich publik wurde, dass im Auftrag eines deutschen Fahrzeugherstellers zehn Affen in eine Box gesperrt wurden, in die stundenlang Autoabgase geleitet wurden, war die Bestürzung in den Medien groß. Durch den Versuch sollte die Behauptung der Weltgesundheitsorganisation, Dieselabgase seien krebserregend, entkräftet werden – er blieb jedoch ohne konkretes Ergebnis. Dass ein solches Vorgehen zu kritisieren und generell abzulehnen ist, steht außer Frage. Das Überraschende an diesem Fall ist aber gar nicht so sehr, dass ein solcher Tierversuch überhaupt durchgeführt wurde, sondern die öffentliche Reaktion. Sie zeigt, dass sich das gesellschaftliche Verhältnis zu Tieren und deren Wahrnehmung gewandelt haben; für mehr und mehr Menschen ist es selbstverständlich, dass Tiere geschützt werden müssen und sie eigene Rechte beanspruchen. Noch vor einigen Jahrzehnten hätte der Fall in den Medien vermutlich keine solche Breitenwirksamkeit erreicht.

Die gesellschaftlichen Debatten um Massentierhaltung, fleischlose Ernährung und Tierversuche führten seit dem Ende des 20. Jahrhunderts – vor allem im angloamerikanischen Raum – in der wissenschaftlichen Forschung zu einer vermehrten Auseinandersetzung mit die Verhältnisse, Beziehungen und Interaktionen zwischen Tieren und Menschen betreffenden Fragen. Hatten sich zuvor vor allem die Naturwissenschaften mit den Tieren beschäftigt, so wurden sie nach und nach ebenso in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften zum Thema. Tiere werden nun nicht mehr nur als Objekte, sondern als Subjekte, Akteure und Individuen wahrgenommen. Ihnen wird, genauso wie den Menschen, im Zuge der Human-Animal Studies ein intrinsischer Wert zugesprochen. Dass in einigen Publikationen von menschlichen und nichtmenschlichen Tieren gesprochen wird, mag zwar zunächst befremdlich und konstruiert erscheinen, zeigt aber, dass der Mensch auch ‚nur‘ ein Tier unter vielen ist. Sigmund Freud bezeichnete die Abstammung des Menschen vom Affen in seinen drei „Kränkungen der Menschheit“ als „die zweite, die biologische Kränkung des menschlichen Narzißmus“. Dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier längst nicht so groß ist, wie oft angenommen, wird deutlich, wenn man sich die vielfältigen Fähigkeiten von Tieren vergegenwärtigt, die häufig lediglich dem Menschen zuerkannt worden sind – sei es der Gebrauch von Werkzeugen (Bonobos), die Verständigung in Menschensprache (Papageien und Schimpansen) oder das Lügen (Raben). Um mit Roland Borgards zu sprechen: „Was immer die Menschen können, das kann auch irgendein Tier“. Auf die Fähigkeiten von Tieren, die im Zuge der historischen Tierpsychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Fokus genommen wurden, geht Maike Riedinger in ihrem Text zum Themenschwerpunkt näher ein.

Lange Zeit jedoch hat sich der Mensch als den Tieren haushoch überlegen stilisiert. So sprach der antike Philosoph Protagoras beispielsweise davon, dass den Tieren jegliche Vernunft abgehe, während Aristoteles die Auffassung vertrat, Tiere könnten keine Zukunftspläne schmieden. Am Übergang zur Neuzeit sah René Descartes in den Tieren „lebende Maschinen“, die nach einem streng mechanischen Prinzip funktionierten. Neben diesen Stimmen gab es jedoch auch stets tierfreundliche Strömungen in der Geistesgeschichte, in denen die anthropologische Differenz relativiert wurde. So nimmt etwa Michel de Montaigne in seinen berühmten Essais mehrfach das Tier-Mensch-Verhältnis kritisch in den Blick – oft zu Gunsten der Tiere. Der Mensch sei das „jämmerlichste zerbrechlichste Geschöpf unter allen“, ein Mängelwesen, freilich das „hochmütigste“. Er fragt: „Wenn ich mit meiner Katze spiele, wer kann es entscheiden, ob sie sich mehr Zeitvertreib mit mir mache als ich mir mit ihr?“ Und konstatiert anschließend: „Wenn ich nach meinem eigenen Gefallen den Scherz anfangen und endigen kann, so kann sie das ebenso wohl.“ Damit stellt er das Tier auf eine Stufe mit dem Menschen und spricht ihm sowohl Handlungsmacht als auch Entscheidungsfähigkeit zu (in den Human-Animal Studies spricht man von Animal Agency).

Überlegungen zu Bestrebungen, Tiere zu schützen, finden sich bereits bei antiken Denkern, ein spezifisches Tierrechtskonzept bildete sich allerdings erst im 20. Jahrhundert heraus. Als Vorreiter der modernen Tierethik sind vor allem die beiden Philosophen Peter Singer und Tom Regan zu nennen. Dass die Debatten um Rechte von und Pflichten gegenüber Tieren gegenwärtig längst nicht abgeschlossen sind, zeigt das eingangs erwähnte Beispiel, das eine erneute Diskussion über Tierversuche ausgelöst hat. In unserem Themenschwerpunkt widmet sich insbesondere der Beitrag von Björn Sydow tierethischen Fragen.

In literarischen Texten finden sich Tiere nahezu überall, sei es als lebendige Gestalten, die an reale Tiere angelehnt sind, als Phantasiewesen, in Metaphern, Namen oder Redewendungen. In Ovids Metamorphosen verwandelt Iuppiter den König Lycaon, der versucht hatte, den auf Erden wandelnden Gott zu ermorden, in einen Wolf, während etwa der Protagonist in Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre den Namen Christian Wolf trägt. In Lew Tolstois Anna Karenina erfährt man gar, was ein Hund von den Anweisungen seines Herrchens (Lewin) hält: „‚Tja, wenn er das möchte, tu ich es, aber verantworten kann ich das nicht mehr‘, dachte sie [die Hündin] und stürmte zwischen den Mooshöckern voran.“ Dass seit jeher Hunde und auch Affen – man denke nur an Herrn Nilsson oder Rotpeter – in der Literatur besonders präsent sind, zeigt sich ebenfalls in einigen Beiträgen unseres Themenschwerpunkts, beispielsweise in den Texten von Uwe Neumann, in dem es um die Grenze(n) zwischen Mensch und Affe geht, und Maren Lickhardt, der sich mit Hunden in der Literatur der Weimarer Republik beschäftigt. Daneben ist die Literatur von zahlreichen phantastischen Tierwesen besiedelt: In J.K. Rowlings Harry-Potter-Universum tummeln sich so illustre Tiere wie Basilisk, Hippogreif oder ungarischer Hornschwanz, in Daniel Kehlmanns neuestem Roman Tyll ist von einem Drachen die Rede: „Er war siebzehntausend Jahre alt, und er war es müde, sich zu verstecken.“ Alle FreundInnen von Fantasy und phantastischer Literatur dürfen sich bereits auf den entsprechenden Themenschwerpunkt im März freuen.

Dass die politische Instrumentalisierung von Tieren zuweilen krude Formen annahm, zeigt Oliver Kohns in seinem Beitrag zu Hühnerexperimenten im Zuge der NS-Rassenideologie. Der Vergleich von „Nordhühnern“ und „Südhühnern“ ging, wenig überraschend, zu Gunsten der „Nordhühner“ aus, deren Handeln als „planvoll, eindeutig zielgerichtet, sinnvoll, ökonomisch, und ohne unzweckmäßigen Kraftaufwand“ beschrieben wurde. Man wagt sich kaum vorzustellen, dass irgendjemand solche Versuche ernst genommen hat.

Vielen Dank an alle, die zum Gelingen dieser Ausgabe beigetragen haben!

Eine anregende und horizonterweiternde Lektüre wünscht Ihnen

Stefan Jäger