Während man sich vor Aids und dem Klimawandel zu fürchten begann, fiel die Mauer

Michael Rutschky erinnert mit „In die Neue Zeit. Aufzeichnungen 1988–1992“ an die Zeit vor und nach der Wiedervereinigung

Von Marita MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marita Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Rutschky hat einen weiteren Band mit tagebuchartigen Aufzeichnungen veröffentlicht. In gewohnt lakonischer Sprache, mit Sinn für Komik und Doppelbödiges, hat er darin seine soziologisch geschulten Beobachtungen von Menschen, Situationen und Diskursen literarisch verdichtet. Stand im Band Mitgeschrieben der Beginn der 1980er Jahre, die persönliche Zeit des Übergangs vom angestellten Redakteur der Zeitschrift Transatlantik zum freien Autor, im Fokus, sind es nun die sogenannten Wendejahre 1988 bis 1992, aus denen die Aufzeichnungen stammen.

Als freier Autor hat Rutschky in dieser Zeit seinen Platz gefunden, er ist offenbar bestens vernetzt, wird regelmäßig von Kulturinstitutionen in Berlin, neuerdings auch in die USA, nach Kanada oder nach Japan eingeladen. Die kulturellen Netzwerke beginnen mit größerer Selbstverständlichkeit den Globus zu umspannen. Viele Namen, darunter bekannte aus dem akademischen, journalistischen und kulturellen Milieu, aber auch eher unbekannte werden genannt. Durchaus interessant sind die privaten und beruflichen Verflechtungen und ihre Durchdringung, die der Autor vor uns offenlegt. Anders als in Mitgeschrieben handelt es sich diesmal aber nicht um ein Porträt des Kulturbetriebs oder des Arbeitsalltags eines professionell Schreibenden, zumindest nicht in erster Linie und auch nur begrenzt. „R“, so der Name des zwischen personalem Erzähler und Alter Ego angesiedelten Erzählers, geht gern spazieren, trifft Leute in Cafés, tauscht sich mit der Ehefrau „Kathrin“ (leichte Variation der realen Ehefrau Katharina Rutschky) aus, telefoniert und träumt viel. Manchmal fotografiert er auch.

Die Beobachtungen und gesammelten Geschichten folgen vor allem den Leitthemen „soziale Unterschiede“ und „Mobilitäten“, „Krankheiten“ und „Todesfälle“ sowie „deutsch-deutsche Entwicklungen und Veränderungen“. Im Zentrum stehen immer wieder wechselvolle Lebensgeschichten. Manche weisen in die Neue Zeit hinein, andere gehören noch ganz dem vorigen Jahrhundert an, wie die der 1937 geborenen Bekannten, die mit ihrer Mutter in einem Berliner Versteck das Dritte Reich überlebte. In den 1960er Jahren war sie im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) aktiv, wirkte am Aufbau einer Kindertagesstätte mit, arbeitete dann eine Zeit lang in einer russischen Bar als Bardame, studierte Psychologie und arbeitete schließlich bis zu ihrem – relativ frühen – Tod Anfang des Jahres 1989 in einer studentischen Beratungsstelle. Ihre jüdische Herkunft macht „den Eisernen Vorhang durchlässig“ und sie kann auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee (Ostberlin) beerdigt werden.

Besonders interessieren R die Geschichten der sozialen AufsteigerInnen, die die Milieus und die Schichten wechseln. So der schwarze junge Soziologie-Professor, den R auf einer längeren Reise (gemeinsam mit Karl Schlögel und Gerd Koenen) durch die USA trifft und der ihm beim Abendessen nicht nur von seiner schwierigen Kindheit, den früh verstorbenen Eltern, sondern auch von seiner Einsamkeit im weißen akademischen Milieu erzählt. Wir verstehen, dass R die Menschen zum Sprechen bringen kann, dass er aber auch weiß, wie man sich wieder zurückzieht: „All dies, wiegelt R ab, sei doch eine gute Voraussetzung, um Soziologe zu werden.“ Mit einem anderen sozialen Aufsteiger, auch er ein Soziologe, führt R eines seiner vielen Telefonate in Berlin. Es ist Heinz Bude, dessen ältere Brüder Schreiner und Lastwagenfahrer sind. „Haben Sie manchmal Heimweh? – Doch. Es äußere sich vor allem in Wutanfällen gegen Repräsentanten seines neuen Milieus.“ Nicht allen gelingt der soziale Aufstieg, die Unterschiede können beträchtlich sein: „Während manche Achtundsechziger ziemlich weit nach oben kamen, blieben andere weit unten.“ Dramatisch anders können die Unterschiede aussehen, blickt man auf eine Ost-Biografie derselben Generation. Im noch geteilten Berlin trifft R auf einen Dichter aus der DDR, der 1968 als Schüler kritische Leseabende nach der Zerschlagung des Prager Frühlings veranstaltete, wofür er mehrere Jahre ins Gefängnis musste. Darauf folgen eine Gärtnerlehre und eine kurzzeitige Anstellung als Regieassistent. Ausreisen will er nicht: „Er betrachtet die DDR als sein Heimatland.“

Im Westen verharren auffallend viele, besonders unter den jüngeren FreundInnen und KollegInnen, unentschieden in prekären Situationen oder ziehen bewusst die Freiheit des Provisoriums dem vermeintlich sicheren Leben vor. R diagnostiziert immer wieder Unentschlossenheit. Eine junge Frau überlegt, die Berliner Zeitung, bei der sie nun schon zwei Jahre arbeitet, obwohl sie „bloß reinschmecken“ habe wollen, zu verlassen, um entweder in Frankfurt zu promovieren oder doch als Korrespondentin nach Kambodscha zu gehen. Auch im Privaten beobachtet R viel Unentschlossenheit. Man fürchtet zu frühe Bindungen im Allgemeinen, und auch die Entscheidung für eine homosexuelle Partnerschaft im Besonderen fällt noch schwer. Alte Rituale sind verdächtig geworden, neue haben sich noch nicht etabliert.

Gleichzeitig ragt in die beginnende neue Zeit noch vieles aus der alten Zeit hinein. Helmut Schmidt, so Willi Winkler am Telefon, beklage in einem Brief an Theo Sommer und Robert Leicht die „Unachtsamkeit bei der Neuanstellung von Redakteuren: So sei künftig strikt darauf zu achten, dass der Kandidat seinen Wehrdienst absolviert habe“. Oder wenn eine französische Schriftstellerin gegenfeministische Positionen vertritt: „Männer müssen mehr verdienen als Frauen. Männer haben nämlich Angst vor Frauen.“ Diese Angst müsse durch Erfolge im Berufsleben ausgeglichen werden, ansonsten drohe das Ende der menschlichen Fortpflanzung. Die neuen Ängste der Zeit sind Aids und der Klimawandel (ja, schon Ende der 1980er Jahre!), die dann in den kommenden Jahren wieder aus dem Blick geraten werden.

Insgesamt ist es die Heterogenität der beobachteten Personen, die die Lektüre lebendig macht. Der Obdachlose wird genauso in seinem Aussehen und Habitus beschrieben wie die Feuilletonredakteurin, junge und ältere Menschen bevölkern den Freundeskreis, komfortabel und prekär lebende. Die LeserInnen werden immer wieder dazu animiert, zu entscheiden, wie viel Zeit- oder Generationentypisches in diesen Porträts, Momentaufnahmen und Geschichten steckt. Man folgt auch gern der Lust des Autors, Vermutungen über den sozialen Hintergrund und die berufliche Stellung anhand von „Lektüren“ der Kleidung, des Geschmacks und anderer feiner Unterschiede anzustellen. Warum ein so stilsicherer und gewandter Autor allerdings das Wörtchen „fett“ derart inflationär benutzt, bleibt rätselhaft. Handelt es sich um eine Obsession oder um eine Idiosynkrasie? Auch die ein oder andere Erzählung zweiter Hand vom Typus Klatschgeschichte hätte zum Schutz der realen ProtagonistInnen stärker verfremdet werden müssen.

Die Zurückhaltung, mit der der Westberliner Intellektuelle auf die welthistorischen Veränderungen reagiert, mag aus heutiger Sicht verblüffend sein, hält aber doch eine weit verbreitete westliche Befindlichkeit der Zeit fest. Eine Art wohlwollendes Staunen prägt die Haltung von R. So hat die – mehr für BerlinbesucherInnen als für einheimische WestberlinerInnen – bedrohliche Mauer Ende November 1989 ihren „Seinszustand gewechselt“: „Sie existiert in vollkommener Harmlosigkeit, als eine Ruine“. Der stetige Stadtflaneur registriert ohne Pathos, aber mit Aufmerksamkeit die Veränderungen der Berliner Topologie. Eine „zweite Stadt“ ist hinzugekommen. Der Stadtraum hat sich „ins Unfassliche, aber Glückliche erweitert“. Mangelndes Interesse kann man R nicht vorwerfen. Nicht nur dehnt er seine Stadtspaziergänge in die „zweite Stadt“ aus, er macht auch bald mehrtägige Reisen ins Beitrittsgebiet, neugierig auf Orte und BewohnerInnen. Hier gerät er zuweilen in komische Kommunikations- wie Funklöcher oder hat ernüchternde Begegnungen mit WiedergängerInnen einer vergangen geglaubten Zeit. Zwei Damen in seinem Alter erinnern ihn in Aussehen, Sprache und Habitus an seine Mutter vor 30 Jahren: Bourgeosie, „die den Sozialismus durchgestanden hat und jetzt ohne autoplastische Veränderungen die Neue Zeit betritt“.

Aber es gibt auch sympathischen Zuwachs. Der Bekannten- und Freundeskreis erweitert sich, und es betreten kleine, aber signifikante Verhaltensänderungen die Szenerie, die es zu entziffern gilt. So begleitet R eine aus dem Osten stammende Schriftstellerin beim Einkaufsbummel, die sich für die Vielfalt der westlichen Warenwelt begeistert. Ein – aus ihrer Sicht – leicht erworbenes Honorar tauscht sie mit ebensolcher Leichtigkeit für ein luxuriöses Abendkleid ein, das sie bei einer akademischen Eröffnungsfeier zu tragen gedenkt. Am entscheidenden Tag wird sie es aber nicht anziehen, um die anderen anwesenden Frauen nicht zu demütigen. Der Autor hält sich mit Urteilen zurück. Es bleibt viel Raum für Fantasie und Räsonnement der LeserInnen, wie die Zeichen zu deuten sind. Die Auswahl und Anordnung der Geschichten aber ist weniger zufällig als es die Tagebuchform nahelegt. Es handelt sich bei diesen Aufzeichnungen um ein Mosaik an Geschichten und Beobachtungen aus einer Zeit des Übergangs, als Deutschland weiter, die Welt kleiner und die Zeit knapper wurde. Mehrheitlich sind es dichte Beschreibungen voller Anregungen abseits der Stereotype medialer Berichterstattung. Wir beneiden manchmal unsere französischen Nachbarn um ihre literarisch schreibenden Soziologen. Seien wir glücklich über diesen soziologisch blickenden Literaten.

Titelbild

Michael Rutschky: In die neue Zeit. Aufzeichnungen 1988-1992.
Berenberg Verlag, Berlin 2017.
288 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783946334231

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