Mann und Hahn

Die neue Verbrüderung

Von Luise F. PuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luise F. Pusch

In unserem Alnatura-Laden gegenüber las ich vor ein paar Tagen vom Einsatz der Firma für sogenannte „Bruderküken“. Mit der poetischen und bedeutungsgeladenen „Bruder“-Bezeichnung werden neuerdings männliche Küken bedacht, die bis vor kurzem allgemein als so überflüssig galten, dass sie gleich nach dem Schlüpfen erst vergast und dann geschreddert – oder sogar lebend geschreddert werden. Vielmillionenfaches Elend, denn die Hähne „taugen … nicht wirklich als Masthähnchen […], weil diese Rassen darauf gezüchtet sind, viele Eier zu legen, nicht als Fleischlieferant.“ (Focus) Weibliche Küken „dürfen“ überleben und zu Legehennen heranwachsen, die erst getötet werden, nachdem sie in qualvoller Enge 12-15 Monate lang fast achtmal so viele Eier legen mussten wie in „naturbelassenem“ Zustand (bis zu 300 Eier im Jahr statt bis zu 40) und sich dabei gegenseitig zerhackten in ihrer Not. 

Beim Wort „Bruder“ wird jede Feministin hellhörig, wenn nicht missmutig. Zu oft werden wir Frauen schlicht vergessen oder, wenn wir uns beschweren, rückwirkend als Brüder vereinnahmt, wenn die Brüder bspw. ihre „Woche der Brüderlichkeit“ zelebrieren und Widersinniges wie „Alle Menschen werden Brüder“ brüllen. Ich beschloss also, dieser Sache mal nachzugehen.

Neben Alnaturas „Bruderküken-Initiative“ gibt es noch die „Bruderhahn-Initiative Deutschland“, erfuhr ich. Andere Namen anderer Lebensmittelketten für dieselbe Idee sind „Herzbube“ (Penny) und „Spitz&Bube“ (Rewe). 

Die Idee ist folgende: Die hochgezüchtete Legehennenrasse, deren männliche Abkömmlinge als nutzlos gelten, wird zurückgefahren zugunsten einer „Zweinutzungsrasse“: Die weiblichen Exemplare legen noch reichlich Eier, nur nicht ganz so viele wie die „richtigen Legehennen“, und die männlichen Exemplare setzen ein wenig Fleisch an, so dass sich ihr Weiterleben für den Hühnerhalter lohnt. Erwachsene Bruderhähne haben sogar schon ihre ganz speziellen Fans gefunden auf der Webseite Kochmonster: Hier kocht der Mann

Die Namen für dies neue „Tierwohlprojekt“ sind herzig (Herzbube), denn sie sollen ja unser verstocktes Herz anrühren. Oder sie sind gar religiös getönt. Franz von Assisi sah in allen Geschöpfen Gottes seine Brüder und Schwestern. An diese Sehweise sollen uns die Bezeichnungen „Bruderhahn“ und „Bruderküken“ sicher auch unterschwellig erinnern. Die Küken, die da herzlos geschreddert werden sollen, sind unsere Mitgeschöpfe, und deshalb ist es ja wohl selbstverständlich, dass wir für jedes Alnatura-Ei jetzt 4 Cent mehr zahlen, damit die Bruderküken ihr Leben noch eine Weile fristen können, bevor sie geschlachtet werden. 

Zweitens sind die Bruderküken „Brüder“ insofern sie männlichen Geschlechts sind. Zwei Fliegen mit einer Klappe: Nicht nur wird Männlichkeit „in netter Form“ zur Sprache gebracht, es wird auch zugleich ein Familienbild heraufbeschworen – die Vermarktungsstrategen kennen unsere Schwachpunkte. Die „Schwestern“ dürfen leben und Eier legen, die Brüder dürfen nicht leben, da sie nicht legen können. Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch ungewohnt (denn sonst ist eher das Weiblichsein mit Nachteilen verbunden) – und muss besonders das männliche Gemüt irritieren. 

Ich meine, wenn die Tierwohl-Anwälte uns schon ins Gewissen reden, sollten wir sie unsererseits daran erinnern, dass bei Massentierhaltung heutzutage weder von Tierwohl noch von Menschenwohl die Rede sein kann. 

Statt auch das Bruderküken eine Weile im Elend leben zu lassen, um es dann zu schlachten, sollten wir – besonders wir Frauen natürlich – an die Schwesterküken denken und daran, welches „Leben“ ihnen zugedacht ist: Der reine Horror, nachzulesen hier

Wenn wir unsere Schwestern, die geschundenen Legehennen, und unsere Brüder Hähne wirklich achten, respektieren (und was der schönen Ausdrücke mehr sind) wollen, dürfen wir sie nicht schlachten und ihre Eier nicht essen. 

Zu dieser Konsequenz habe ich mich erst vor einem halben Jahr durchgerungen. Bis dahin glaubte ich, wie wohl die meisten, dass die Menschen leider zum Leben Eiweiß brauchen und deshalb Eier essen müssen, so leid es uns tut. Tiere fressen auch andere Tiere und ihre Eier; wir sind in bester animalischer Gesellschaft und haben keine Wahl. Mir war diese Lehrmeinung nur Recht, ich konnte damit mein Gewissen beruhigen, denn ich esse sehr gerne Eier (– und Käse, aber das arme Milchvieh lassen wir heute mal außen vor). Zudem wird dieser lebenswichtige Nährstoff auf Deutsch meist nicht „Protein“ genannt wie in anderen Ländern, sondern „Eiweiß“, als sei Protein mit dem Eiweiß des Eis geradezu identisch. 

Als ich meinen Freundinnen erzählte, dass ich mich seit kurzem vegan ernähre, fragten sie sofort: „Und woher bekommst du dann genügend Eiweiß?“ Ich erklärte, naturbelassene Pflanzen enthielten mehr als genug Eiweiß, aber sie konnten es nicht glauben und begannen, sich Sorgen um meine Gesundheit zu machen. Aber es geht mir gut, viel besser als früher. Das ist hier aber nicht das Thema. 

Das Thema ist, dass es lächerlich ist, von Tierwohl zu reden, wenn männliche Küken eine Weile am Leben gelassen und dann doch nach kürzester Zeit geschlachtet werden. Von dem maßlosen Elend ihrer Schwestern Legehennen und der Schädigung des Menschenwohls durch den Verzehr von Tieren und ihren Produkten ganz zu schweigen. 

Denken wir doch auch ein wenig an unsere Schwestern Frauen und Brüder Männer! Herzkrankheiten, Bluthochdruck, Diabetes, Krebs, Übergewicht sind entsetzliche Krankheiten, an denen jährlich Abermillionen Menschen zugrunde gehen. Diese Krankheiten sind die Folge falscher und grausamer Ernährungspraktiken und zu 90 Prozent vermeidbar. Mehr dazu hier und vor allem hier

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag gehört zu Luise F. Puschs Glossen „Laut & Luise“, die seit Februar 2012 in unregelmäßigen Abständen bei literaturkritik.de erscheinen.