Warum genaues Lesen Spaß macht
Holger Helbigs gesammelte und Breschen schlagende Johnson-Studien
Von Michael Braun
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUwe Johnson war ein skrupulöser Leser und ein raffinierter Schriftsteller. Er verwischte Fährten, richtete die verbleibenden Angaben im Text immer so genau, dass seine Interpreten schon irgendwann auf die richtige Spur kommen würden. Holger Helbig berichtet gleich eingangs in seinem Uwe Johnson-Buch von einem solchen Fall. Im Kommentar zu Uwe Johnsons Roman Jahrestage, einem Masterplan für die Johnson-Forschung, hatte er das einzige Buch, das Gesine Cresspahl, die Erzählerfigur, im Roman liest, mit der Einschränkung „vermutlich“ einem amerikanischen Soziologen zugeordnet.
Das war ein Irrtum, den Helbig nunmehr korrigiert. Wer, wenn nicht er, könnte das so ohne Not tun? Helbig hat die Johnson-Forschung auf neue Wege geführt und ihr eine breite Grundlage verschafft. Er ist Inhaber der Johnson-Professur an der Universität Rostock, hat das Johnson Jahrbuch mitbegründet, den oben genannten Kommentar mitediert, er leitet das Johnson-Archiv und das Akademieprojekt „Uwe Johnson Werkausgabe“. Das vorliegende Buch versammelt einige seiner Aufsätze.
Es sind, kurz gesagt, Lektionen der Textinterpretation und funkelnde Essays über Werk und Autor, die beide nicht zu den unkompliziertesten Gegenständen der Germanistik gehören. Der rote Faden, der die Aufsätze verbindet, ist der intertextuelle Grundzug von Johnsons Schreiben. Sie untersuchen, wie der Autor – als olympischer Gestalter, als diskreter Erzähler, als eigene Figur im Getümmel – seine Quellen findet, auswertet und dem narrativen Geschehen dienstbar macht und welche Techniken er dabei anwendet. Der Leser geht dem Autor also voraus, und dieser Leser vor der Schrift, der vom „lesenden Beobachter“ zum Schriftsteller wird, lässt sich gut bei seiner Autorwerdung studieren. Das ist das Projekt, für das diese Publikation maßgebliche Vorarbeit leistet: die „Verfahren der ‚Autorwerdung durch Aneignung‘ bei Uwe Johnson“.
Im Einzelnen geht es um die Inszenierung von Autorschaft in einem Nachruf zu Lebzeiten, den Johnson 1970 über sich selbst schrieb, über die Entstehung der Poetologie des Autors aus der Interpretation seiner Leser (in den Jahrestagen), über die Ecken und Kanten von Johnsons nicht nur gelegentlichen Protesten, über seine Rede zum Büchner-Preis und seine „ästhetische Erziehung der Staatssicherheit“ in dem Roman Mutmaßungen über Jakob (1959). Um Johnson näher zu kommen, darf man nicht hinter seine stilistischen und hermeneutischen Ansprüche zurückfallen, und nicht das geringste Verdienst dieser Studien ist es, das Vergnügen der Johnson-Lektüre durch mitgehend und mitlesend gewonnene Erkenntnisse zu mehren – und das ist ein im Übrigen auch, wenn es sein muss, selbstkritisches Konzept, kein Korsett!
Und der eingangs erwähnte Irrtum? Nun, es ist Dieter Oberndörfer, ein Mitglied der Freiburger Schule, dessen 1958 erschienene Dissertation Gesine „mitten im Juchhe des bedrängten Bahnsteigs“ liest, und nicht der amerikanische Starsoziologe David Riesman. Über die Schienen der Forschung geht ein unendlicher Verkehr, und Johnson lässt seine Figuren ebenso unbeirrt lesen, wie seine besten Leser es tun sollten. Und dazu zählt der Autor dieses Buches an vorderer Front. Mehr davon, möchte man sich, nicht nur in der Johnson-Forschung, wünschen.
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