Von Kampfschriften, Kanonenfutter und kroatischen Inseln

Vielfältige, interessante und lesenswerte Fundstücke des Nachkriegsautors Gert Ledig

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Autor Gert Ledig (1921–1999) war in den späten 1950er-Jahren nicht nur ein in West-Deutschland bekannter Autor. Sein bei Claasen in Hamburg erschienener Debütroman Die Stalinorgel, eine in verknappter Sprache verfasste, atemlose Schilderung des Krieges an der Ostfront 1942, wurde ein internationaler Bestseller. Seinem zweiten Buch Vergeltung (bei S. Fischer, Frankfurt/Main), das sehr verdichtet und drastisch einen Bombenangriff auf eine namenlose deutsche Großstadt schildert, war weder beim Publikum noch bei der Literaturkritik Erfolg beschieden. Sein dritter und letzter Roman Faustrecht (bei Desch, München), eine lakonische Gangsterstory, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Herbst 1945 spielt, ging klanglos unter. Ledig schrieb noch bis in die 1960er-Jahre weiter, war als Journalist, Kritiker, Hörspiel- und später Sachbuchautor tätig, bevor er sein Schreiben, zumindest sein veröffentlichtes Schreiben, einstellte und in der Nähe Münchens in einem Ingenieurbüro sein Auskommen verdiente. Sowohl der Autor als auch seine drei Bücher gerieten in Vergessenheit.

Ende der 1990er-Jahre wurde Ledig im Zuge einer Auseinandersetzung mit dem Thema Luftkrieg wiederentdeckt. Alle drei Bücher wurden von Suhrkamp beziehungsweise Piper wiederveröffentlicht, Vergeltung wurde im Literarischen Quartett besprochen, es gab eine öffentliche Diskussion und positive Neubewertung insbesondere der beiden ersten Bücher. Mittlerweile gibt es Dissertationen über seine Werke, Theater- und Hörspielbearbeitungen, sogar eine offizielle Gert-Ledig-Facebookseite existiert, gepflegt von seiner Enkelin. Ein Blick auf die Verfügbarkeit im Buchhandel zeigt allerdings, dass Anfang 2018 nur Vergeltung – als preiswertes Taschenbuch mit Kommentar bei Suhrkamp – erhältlich ist. Die beiden anderen Bücher sind bereits vergriffen.

Mit dem 190 Seiten schmalen Taschenbuch Gert Ledig. Gesammelte Werke und Briefe ist Ende 2017 ein weiteres, unerwartetes Buch hinzugekommen. Wobei der Titel täuscht: Der von Ledigs Tochter Petra Weichel zusammengestellte Band enthält weder die drei erwähnten Bücher noch alles jemals vom Autor Publizierte, gar Geschriebene. Der höchst lesenswerte und willkommene Band ist eine recht wild zusammengestellte Fundgrube aus in erster Linie aus Archiven zusammengetragenen Stücken. Ledig, der Korrespondenz und Manuskripte nicht aufbewahrte, war ein aktiver, fleißiger Autor. Doch viele seiner Arbeiten für Zeitschriften und Zeitungen oder im Hörspielbereich sind verschollen, vielleicht vernichtet oder in Archiven vergraben.

Der Band startet und endet mit einer ausführlichen Lebensbeschreibung des Autors, die er für den Claasen-Verlag Mitte der 1950er-Jahre anfertigte. Am Anfang steht die vom Verlag stark bearbeitete Version, am Ende ist die lektorierte Schreibmaschinenfassung abgedruckt. Wer möchte, kann hier im Detail Lektoratsarbeit nachvollziehen, darüber hinaus fällt natürlich ins Auge, dass ganze Passagen, die sich mit dem Thema Kommunismus beschäftigen, gestrichen worden sind. Doch von solch historisch-kritischer Auseinandersetzung abgesehen, steht die Frage im Raum: Was von dieser Lebensbeschreibung ist Dichtung, was Wahrheit?

Im Nachwort zur Neuausgabe von Stalinorgel bei Suhrkamp, erschienen im Jahr 2000, hat der Germanist Florian Radvan einen weiterhin informativen Text über Ledigs Karriere geschrieben, aber auch darin findet sich nichts über dessen Kindheit und Jugend, was über die Eigenauskunft hinausgeht. Radvan gibt die Eckdaten von Ledigs selbst erzählter Geschichte wieder, ohne diese zu hinterfragen. Eine umfassend recherchierte, mit dem Blick von Außen geschriebene Biografie existiert bis jetzt nicht; die Lebensgeschichte bleibt auch mit der Herausgabe des neuen Buches weiterhin im Nebel der Geschichte verborgen. Wenig findet sich hierzu in den editorischen Anmerkungen. Es bleibt unklar, in welchem persönlichen Verhältnis die Tochter zu ihrem Vater stand. Vermutlich hatten sie keinen Kontakt, denn am Ende findet sich eine Danksagung der Herausgeberin an einen Herrn Wolf, der ihren Vater als „attraktiven Mann mit sehr dunklen Augen, der gerne geheimnisvoll auftrat“, beschreibt.

Was gibt es zu entdecken in diesem Band? Es finden sich dort Kurzgeschichten, Filmkritiken, weitere journalistische Arbeiten, ein Interview, jeweils einen Brief an Anna Seghers, Bertolt Brecht und den Initiator der „Gruppe 47“, Hans Werner Richter, dem der zum Gruppentreffen eingeladene Ledig eine bemerkenswerte Absage schrieb.

Das Buch enthält außerdem die auf der Schreibmaschine getippte testamentarische Verfügung über meine körperlichen Reste, ein irritierender und radikaler Wunsch nach einer anonymen Urnenbestattung ohne jede Feierlichkeiten. „Alles soll so billig als möglich ablaufen“. Ledig möchte sich gegenüber dem Bestattungsunternehmen absichern, sodass dieses nach seiner Bestattung mit keinen finanziellen Forderungen an Angehörige herantreten kann. Ledigs letzter Satz, ein hingeschleudertes: „Ja, Ja, Ihr Gauner – bei mir läuft da nichts.“

Ein Hörspiel, das unter verschiedenen Titeln sowohl in der DDR als auch in der BRD Ende der 1950er-Jahre veröffentlicht wurde und als Thema den realen Mordfall an der Prostituierten Rosemarie Nitribitt mit der Geschichte eines fiktiven Staatsanwalts verwebt, der im Nationalsozialismus als „faschistoider Blutrichter“ Todesurteile aussprach, wird ebenfalls wiederveröffentlicht. Der Staatsanwalt im Hörspiel heißt Strecker mit Nachnamen, doch wie man durch den Abdruck eines Offenen Briefes auf Seite 87 erfährt, gab es einen weiteren realen Hintergrund: Ledig selbst hatte eine Anzeige wegen Beihilfe zum Totschlag gegen einen Oberlandesgerichtsrat Muhs aus Hamm/Westfalen gestellt und dazu einen Offenen Brief mit der Überschrift Im Namen der vergasten Kinder! geschrieben, der 1958 in zwei Zeitungen abgedruckt worden war. Wie man den editorischen Anmerkungen entnimmt, „versandete“ das Verfahren gegen diesen Richter Muhs. Dieser hatte, wie man dem Brief entnehmen kann, 1944 als Richter in Radom zwei Polen, die jüdische Kinder versteckt hatten, zum Tode verurteilt. Woher Ledig von diesem Fall wusste, ob er den Richter kannte und was ihn in diesem Fall bewogen hatte, selbst Anzeige zu erstatten – man erfährt es nicht. Fest steht, dass Ledig ein sehr politischer Mensch war, ein politischer Autor, der seine Stalinorgel selbst als „Kampfschrift“ bezeichnete. Die Bigotterie, die Heuchelei, ein wieder aufkommender Militarismus, die geschichtsklitternde Auseinandersetzung mit dem Krieg und dem Nationalsozialismus in den 1950er-Jahren sind alles Themen, die im Zentrum von Ledigs Arbeiten stehen.

Und Weiteres bleibt im Verborgenen: In einem Brief aus dem November 1959 an die Schriftstellerkollegin Dinah Nelken (1900–1989, wichtiges Werk: ihre Auseinandersetzung mit dem Faschismus Spring über deinen Schatten, spring! aus dem Jahr 1954) erwähnt Ledig ein Buch, das bei Hoffmann und Campe erscheinen soll. Er spricht von dem großen Erfolg, den er mit einer Rundfunksendung über Spuk hatte – „400 Leserbriefe. Wer soll die beantworten“ – und erwähnt en passant die Premiere von Faustrecht, seinem dritten Roman, beim „SK-Neumann-Theater in Prag“. Ein paar Zeilen weiter schreibt Ledig, dass der Desch Verlag ihm einen neues Theaterstück in Auftrag gegeben habe. Es mutet seltsam an, dass nur wenige Jahre später dieser umtriebige Mann komplett aus dem Kultur- und Literaturleben aussteigen sollte.

Es mag ein Zufall sein, dass die Briefadressatin Dinah Nelken 1938 vor den Nationalsozialisten auf die kroatische Insel Korčula floh. Diese Insel ist der Schauplatz von Ledigs unveröffentlichtem Roman Die Kanonen von Korcula. Er spielt vier Jahre nach der Französischen Revolution. Internationale Revolutionstruppen sollen die von Italienern belagerte Insel befreien. Zum ersten Mal überhaupt erscheinen jetzt zwei Kapitel dieses Romans, der „im Nachlass von Gert Ledig versteckt“ entdeckt worden war (von wem, bleibt ungenannt).

Der erwähnte Radvan schreibt in seinem Nachwort, dass sich Ledigs endgültiger Bruch mit dem Schreiben „Mitte der sechziger Jahre“ vollzogen habe, nachdem sein Romanmanuskript Die Kanonen von Korcula von einigen Verlagen abgelehnt worden war. Im vorliegenden Band konstatiert die Herausgeberin: „Vermutlich stammt der Roman aus den Siebzigern“. Ein ungeklärtes Rätsel mehr, seufzt man.

Diese zwei Kapitel machen den literarischen Höhepunkt des Sammelbandes aus. Der erste Auszug ist eine drastisch-überdrehte Ekelszene um einen polnischen Seemann, der sich vergiftet hat und mit furchtbaren Magenkrämpfen auf Deck liegt. Der Ich-Erzähler, hauptberuflich Schlachter, wird in Ermangelung eines Arztes an Deck geholt und um Hilfe gebeten. Der zweite Teil spielt auf der Insel. Es ist Nacht. Der Erzähler sucht seine vermissten Kameraden und Proviant. Er findet einen Seemann, mehr tot als lebendig, dem die Arme abgetrennt worden sind und der jetzt von einer alten Nonne gepflegt wird. Er soll für die Pflege aufkommen, zieht aber unverrichteter Dinge wieder ab. Unterwegs trifft er eine Greisin, die ihn Richtung Marktplatz begleitet und ihm von seltsamen Vorgängen auf der Insel berichtet: „Auf Korcula sind die Geister zu Besuch“. Der Fortgang dieses kleinen Kapitels kippt ins Düster-Surreale. Die Alte trägt in einem Korb eine frische Plazenta, die sie als Glückbringer gegen die Jacke des Seemannes eintauschen möchte. Dieser möchte nicht tauschen und tötet schließlich die Greisin, als sich herausstellt, dass sie ihn in einem Hinterhalt führt. Er dreht „ihren Kopf leise krachend um“ und kann der Falle entgehen. „Vom Strand dröhnte die Brandung“ sind die letzten Worte dieses Auszugs.

Man kann sich kein abschließendes Urteil über dieses Werk erlauben, zu kurz sind die beiden Auszüge. Doch bereits diese beiden Kapitel machen neugierig auf den ganzen Roman. Im Hinblick auf den literarischen Stellenwert Ledigs, dem diesen mittlerweile zurecht zugeschrieben wird, kann es nur heißen: Dieser Roman, laut der Herausgeberin Petra Weichel ein „Abgesang auf die Französische Revolution“, sollte unbedingt veröffentlicht werden. Die wenigen Briefe, die es hier zu lesen gibt, sind spannende literatur- und zeitgeschichtliche Dokumente mit einem eigenen Stil. Auch ein Band mit Ledig-Briefen samt Erläuterungen hätte seine Berechtigung. Hoffentlich findet sich ein größerer Verlag, der die Herausgeberin bei solchen Vorhaben unterstützt.

Titelbild

Gert Ledig: Gesammelte Werke und Briefe.
Herausgegeben von Petra Weichel.
Independently Published, 2017.
189 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9781549596049

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch