Dichter, Bänkelsänger und Bürgerschreck

Zum 100. Todestag von Frank Wedekind

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir kennen ihn nicht“ – so beginnt der Literaturhistoriker Rolf Kieser seine Wedekind-Biografie Biografie einer Jugend (1990). Und tatsächlich, schlägt man diverse Literaturgeschichten, Biografien und Feuilletons auf, so finden sich die unterschiedlichsten Urteile zu Frank Wedekind und seinem Werk – von „sentimentaler Moralprediger“ (Alfred Biese) über „schweifender Revolutionär […] und grotesker Marionettenspieler“ (Fritz Martini) und „provokativer Außenseiter“ (Kindler) bis hin zu „Bürgerschreck“ und „skandalumwitterter Autor“. Selten ist ein Schriftsteller einer solchen Fülle von Deutungen und Missdeutungen ausgesetzt gewesen. Spät und äußerst schleppend wurde seine literatur- und theatergeschichtliche Bedeutung erkannt – erst seit zwei, drei Generationen gehört Frank Wedekind zu den Klassikern der Moderne und neben Bertolt Brecht zu den wichtigsten und bedeutendsten deutschen Theaterautoren des frühen 20. Jahrhunderts. „Seine Vitalität war das Schönste an ihm“, so jedenfalls der junge Brecht in dem berühmt gewordenen Nachruf für sein Dichter-Vorbild.

Doch soweit sind wir noch nicht. Benjamin Franklin Wedekind wurde am 24. Juli 1864 in Hannover als zweites von sechs Kindern des Arztes Friedrich Wilhelm und der Schauspielerin und Sängerin Emilie Wedekind Kammerer geboren. Als Linksliberaler war der Vater 1849 aus Enttäuschung über die gescheiterte 1848er Revolution nach Amerika ausgewandert, wo er durch Grundstücksspekulationen zu einigem Reichtum gekommen war. In San Francisco lernte er schließlich die kunstsinnige Emilie kennen. Nach der Heirat (1862) kehrte das Ehepaar nach Deutschland zurück und wählte Hannover als Wohnsitz. Seinen Arztberuf übte der Vater hier jedoch nicht mehr aus, sondern widmete sich – finanziell abgesichert – seinen politischen Interessen. Seine amerikanische Staatsbürgerschaft behielt er jedoch bei, die später auch alle Familienmitglieder erhielten (Frank Wedekind erwarb die deutsche Staatsbürgerschaft erst 1916.) Die Erziehung der Kinder war stark geprägt von den Amerika-Erlebnissen der Eltern. So wurde keines der Kinder kirchlich getauft, vielmehr erhielten sie amerikanische Vornamen, um sie stets an die demokratischen Freiheitsideale der Vereinigten Staaten zu erinnern. Überhaupt war es ein ungleiches Elternpaar: Der Vater verkörperte Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit, während die Mutter eher leichtlebig war; die Auseinandersetzungen wurden häufig vor den Kindern ausgetragen.

Weil die Familie 1872 in die Schweiz auswanderte – der Vater war ein entschiedener Gegner des Wilhelminischen Kaiserreiches –, verbrachte Franklin Kindheit und Jugendjahre im Kanton Aargau. Dort bewohnte die Familie das Schloss Lenzburg, das aber zu einem Gefängnis für Frau und Kinder wurde. In dieser Abgeschiedenheit hinter den Mauern der siebentausend Quadratmeter umfassenden Burganlage erwachte der rebellische Geist des hochbegabten Jungen. Hier wurden wahrscheinlich die Ideen ausgebrütet, die später ihren literarischen Niederschlag finden sollten. Erste Gedichte entstanden, wobei der Halbwüchsige eine unglaubliche Sprach- und Versgewandtheit besaß. Dazu spielte er Gitarre und genoss bald den Ruf eines Bänkelsängers und Lenzburger „Bürgerschrecks“. So interessierte er sich frühzeitig für den Schriftstellerberuf, doch der Vater wünschte ein Jurastudium. Allein den Besuch eines Übergangssemesters für deutsche und französische Literatur (1884) in Lausanne genehmigte er seinem Sohn. Doch danach musste Franklin sein Jurastudium in München aufnehmen, das er aber nach kurzer Zeit abbrach, weil er sich doch mehr zu Literatur und Kunst hingezogen fühlte. Neben der Novelle Galathea (1885) entstand die Posse Der Schnellmaler oder Kunst und Mamon (1886, Druck 1889, Uraufführung 1916), in der er den Selbstmord eines befreundeten und künstlerisch begabten Mitschülers verarbeitete. Natürlich kam es zum Zerwürfnis mit dem Vater und er musste seinen Lebensunterhalt nun selbst verdienen, unter anderem als Presse- und Reklamechef der Firma Maggi & Co. in Kempthal bei Zürich. Die finanzielle Lage zwang ihn zur Versöhnung mit dem Vater und zur Wiederaufnahme des Jurastudiums (1888). Als der Vater jedoch kurze Zeit darauf verstarb, verwarf er das Studium wieder und beerdigte damit endgültig ein mögliches Juristen-Dasein. Der Erbanteil ermöglichte ihm nun für einige Jahre finanzielle Sicherheit und das Leben eines freien Schriftstellers und Lebemanns – jetzt unter dem schlichten Namen Frank Wedekind.

In den folgenden Jahren machte sich Wedekind vor allem als Dramatiker einen Namen. Im Mai 1889 reiste er nach Berlin und hatte hier auch Kontakt mit Gerhart Hauptmann. Wegen seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft konnte er sich dort aber nicht dauerhaft niederlassen. Deshalb übersiedelte er nach München, wo er zunächst an zwei bereits begonnenen Projekten arbeitete, an der Komödie Kinder und Narren (Druck 1891) und dem Romanprojekt Die große Liebe – 1903 unter dem Titel Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen veröffentlicht. Hier beschrieb Wedekind die züchtigende Erziehung in einem hermetisch abgeriegelten Ballett-Internat inmitten eines großen Parks. Zwischen Oktober 1890 und April 1891 entstand dann Frühlings Erwachen (Zürich 1891 mit dem Untertitel Eine Kindertragödie). Zunächst „ohne irgendeinen Plan“ und ohne an eine Aufführung zu denken, wollte Wedekind (nach eigenen Worten) „die Erscheinungen der Pubertät bei der heranwachsenden Jugend poetisch gestalten“. Im Mittelpunkt stehen die beiden Gymnasiasten Melchior Gabor und Moritz Stiefel sowie die 14-jährige Wendla Bergmann, die mit gemischten Gefühlen ihre Sexualität entdecken. Sie suchen nach Antworten auf ihre drängenden Probleme, stoßen in der Erwachsenenwelt aber auf sexuelle Tabuisierung und hohle Wertvorstellungen, sodass sie selbst ihren eigenen Gefühlen misstrauen: „O glaub mir, es gibt keine Liebe! Alles Eigennutz, alles Egoismus! – Ich liebe dich so wenig, wie du mich liebst.“

Neben ihren sexuellen Nöten belastet sie zusätzlich der Leistungsdruck durch Elternhaus und Schule. Große Teile des Stücks basierten auf persönlichen Schulerlebnissen von Wedekind, denn drei seiner Mitschüler in Lenzburg hatten Selbstmord verübt. Mit Onanie, Homosexualität, ungewollter Schwangerschaft und Abtreibung mutete Wedekind seinen Zeitgenossen jedoch gleich mehrere Tabubrüche zu, sodass es noch bis 1906 dauern sollte, ehe das Stück durch Max Reinhardt in den Berliner Kammerspielen zur Uraufführung kam. Kritik und Publikum waren begeistert, monatelang spielten die Kammerspiele fast ausschließlich dieses Stück. Trotz ständiger Pornografie-Vorwürfe wurde Frühlings Erwachen bereits zu Lebzeiten als Wedekinds wichtigstes Werk angesehen, obwohl der Autor selbst diese Ansicht nicht teilte. Mit seinem gesellschaftskritisch-satirischen Drama hatte Wedekind jedoch die Probleme Heranwachsender in jeder Generation aufgegriffen.

Im Dezember 1991 ging Wedekind nach Paris und blieb – abgesehen von kurzen Aufenthalten in Lenzburg, London, Berlin und München – bis 1894 an der Seine. In dieser Zeit entstand die Urfassung seiner Tragödie Die Büchse der Pandora. Eine Monstretragödie, die jedoch wegen erheblicher Zensurprobleme nicht erscheinen konnte. Daher entschloss sich der Autor zu einer Überarbeitung und so erschien mit Der Erdgeist der erste Teil, dem dann 1902 der zweite Teil mit dem Titel Die Büchse der Pandora folgte. 1913 fasste Wedekind schließlich die beiden Dramen zu der Doppeltragödie Lulu. Tragödie in fünf Akten zusammen. In Der Erdgeist gelangt die verwahrloste Lulu als Prostituierte an der Seite zahlreicher Männer in die höheren Kreise der bürgerlichen Gesellschaft. Als sie von ihrem „Erzieher“ und dritten Ehemann zum Selbstmord gedrängt wird, erschießt sie ihn. Während der erste Teil den sozialen Aufstieg Lulus schildert, handelt Die Büchse der Pandora von ihrem Abstieg. Lulu ist als Mörderin unterwegs, bis sie dort landet, wo ihr Aufstieg begann. Schließlich wird sie von ihrem letzten Liebhaber, der sich als Jack the Ripper entpuppt, umgebracht. Das Stück war eine radikale Abrechnung mit der bürgerlichen Prüderie und Scheinheiligkeit, wobei Wedekind neben Motiven aus der Theater- und Zirkuswelt auch auf eigene Erfahrungen mit Prostituierten zurückgriff. Häufig wurde Lulu als Femme fatale interpretiert, als „Allzerstörerin“ (Karl Kraus) und dämonische Verführerin, der die Männer reihenweise zum Opfer fallen. Doch Wedekind hatte seine Lulu nicht als eine solche konzipiert, vielmehr als Frau, die geliebt und als liebendes Individuum wahrgenommen werden will: „Ich habe getanzt und Modell gestanden und war froh, meinen Lebensunterhalt damit verdienen zu können. Aber auf Kommando lieben, das kann ich nicht!“

Seit dem Vorliegen der „Urfassung“ im Jahr 1988, ist sich die Forschung außerdem darin einig, dass dieser frühe Textentwurf viel radikaler und moderner ist als die späteren Überarbeitungen. Wedekind arbeitete hier mit Zitaten, Montagen und Verfremdungen und entwickelte damit einen eigenen Stil, der später für die Expressionisten zum Vorbild wurde. Als das Stück 1904 im Intimen Theater in Nürnberg (in einer geschlossenen Veranstaltung) uraufgeführt wurde, kam es zwangsläufig zum Skandal. Erst 1918, nach der Aufhebung der Zensur, konnte sich das Stück durchsetzen und erlebte ab 1937 mit dem gleichnamigen Opernfragment von Alban Berg weitere Resonanz. Heute ist Lulu neben Frühlings Erwachen das meistgespielte Wedekind-Stück auf deutschsprachigen Bühnen.

Im März 1896 reiste Wedekind nach München, um der Gründung der satirischen Wochenschrift Simplicissimus beizuwohnen, die dann am 4. April unter anderem mit seiner Erzählung Die Fürstin Russalka erschien, in der die sexuellen Wirrnisse einer Adligen und ihr Weg zu Aufklärung, Frauenrecht und Sozialdemokratie thematisiert werden. In den nächsten Ausgaben der Zeitschrift gehörte Wedekind (auch unter wechselnden Pseudonymen) mit Zeitsatiren, die tagesbezogen und eminent politisch waren, zu den meistgedruckten Autoren. Doch irgendwann wurde die Mitarbeit am Simplicissimus zur Fronarbeit. Im Jahr 1897 konnte Wedekind den Sammelband Die Fürstin Russalka und den Gedichtband Die Jahreszeiten veröffentlichen; außerdem entstand der Einakter Der Kammersänger. Die komödienhafte Abrechnung mit dem Kunstbetrieb der damaligen Zeit sollte nicht nur sein erster Bühnenerfolg, sondern auch sein meistgespieltes Stück zu Lebzeiten werden.

Anfang 1898 konnte Wedekind im neugegründeten Leipziger Ibsen-Theater von Carl Heine als Sekretär, Schauspieler und Regisseur Fuß fassen. Hier kam es auch zur Uraufführung von Der Erdgeist, wobei Wedekind selbst eine Rolle übernahm. Anschließend ging er mit dem Theater für einige Wochen auf Tournee. Im Oktober erschien im Simplicissimus sein Gedicht Im Heiligen Land – eine humorvolle Persiflage auf die Palästina-Reise von Kaiser Wilhelm II., die Wedekind (unter dem Pseudonym „Hieronymos“) als großes Spektakel bloßstellte. Außerdem amüsierte er sich über die persönlichen Eitelkeiten seiner Majestät:

Willkommen, Fürst, in meines Landes Grenzen,
Willkommen mit dem holden Ehʼgemahl,
Mit Geistlichkeit, Lakaien, Exzellenzen
Und Polizeibeamten ohne Zahl.
Es freuen rings sich die historischen Orte
Seit vielen Wochen schon auf deine Worte,
Und es vergrößert ihre Sehnsuchtspein
Der heiße Wunsch, photographiert zu sein.

Die Nummer wurde umgehend beschlagnahmt und die Staatsanwaltschaft beim Reichsgericht in Leipzig sah sich veranlasst, gegen den Autor wegen des Verdachts der Majestätsbeleidigung zu ermitteln. Wedekind musste sich ins Ausland (Zürich und Paris) absetzen, wo er an der ersten Fassung von Der Genussmensch (später Ein gefallener Teufel und schließlich Der Marquis von Keith) arbeitete. Im Mittelpunkt des Stücks steht der Hochstapler und Glücksritter Keith, der durch ein windiges Finanzprojekt in der bürgerlichen Geschäftswelt aufsteigen will. Sein Widerpart, der selbstlose Moralist und Spießer Ernst Scholz, möchte dagegen stets ein „guter Mensch“ sein. Zwei Figuren, die nicht unterschiedlicher sein können; am Ende scheitern aber beide. Jeder andere würde sich als Bankrotteur erschießen, doch der Egoist Keith legt am Ende den Revolver „grinsend“ zur Seite und greift schon nach der nächsten Chance: „Das Leben ist eine Rutschbahn …“ lautet der Schlusssatz. Die Uraufführung am 11. Oktober 1901 im Berliner Residenztheater endete mit Buhrufen und Pfiffen. Wedekind machte die Schauspieler dafür verantwortlich. Daher fasste er wohl den Entschluss, sich selbst als Schauspieler zu versuchen. Trotz des Misserfolges hielt Wedekind den Keith für sein „künstlerisch reifstes und geistig gehaltvollstes Stück“. Und tatsächlich – mit einer Inszenierung von Max Reinhardt im November 1907 in den Berliner Kammerspielen stellte sich schließlich ein Bühnenerfolg ein.

Doch zurück zum Jahr 1899. Da die finanziellen Verhältnisse keinen längeren Auslandsaufenthalt zuließen, kehrte Wedekind Ende Mai nach Deutschland zurück, um sich den sächsischen Behörden zu stellen. Nach langer Untersuchungshaft wurde er in erster Instanz zu Gefängnis, in zweiter zu sechs Monaten Festungshaft auf der Burg Königstein/Sachsen verurteilt. Am 21. September wurde er auf die einsame, später winterliche Festung überstellt, die ihn an das verhasste Schloss Lenzburg seiner Kindheit erinnerte. Vor dem Haftende erfolgte Anfang Februar 1900 seine Begnadigung. Nach seiner Entlassung bezog Wedekind in München seine erste eigene Wohnung, er hatte aber kaum Geld, sie einzurichten. Er engagierte Hildegard Zellner als Haushälterin, mit der er eine Liebesbeziehung einging und die ihm im Mai 1902 einen zweiten unehelichen Sohn (Frank Zellner) schenkte. (Aus einer Affäre mit Frida Strindberg, der Ehefrau von August Strindberg, war schon der erste Sohn Friedrich Strindberg (1897) hervorgegangen.)

Als im April 1901 in München mit „Elf Scharfrichter“ das erste politische Kabarett in Deutschland eröffnet wurde, trat Wedekind hier regelmäßig auf. Eine grandiose Gelegenheit, um populär zu werden, und so trat er auch unter eigenem Namen auf: „Ich will mich nicht verstecken, sondern bekannt werden.“ Nach eigenen Kompositionen sang er seine Lieder, Balladen und Moritaten zur Gitarre, dabei begann er seinen Vortrag meist mit den Worten: „Ich singe zunächst die Lieder, die von der Polizei erlaubt sind, und später diejenigen, die von der Polizei verboten sind.“ Mit den satirischen und provozierenden Versen ging es ihm um die Brüskierung des Bürgertums und die Bloßlegung eines überholten Moralbildes. Das Publikum war fasziniert, nicht nur von der unkonventionellen, ja aggressiven Vortragslyrik, sondern auch von dem schaurigen Vortragenden: „Untersetzt, ein scharfgeschnittener Kopf mit Cäsarenprofil, die Stirn unheilverheißend gesenkt und von geschorenen Haaren ausgezackt. Augen aber, die anzüglich aufzuckten, unbekannt warum. Auch zuckte Gereiztheit mit, und gleich danach verstummten sie schwermutsvoll“, so beschrieb ihn Heinrich Mann. Viele dieser Verse und Balladen sind Klassiker ihres Genres geworden, ja man findet sie heute sogar in Gedichtsammlungen, wie die Bänkelballade Brigitte B. oder Der Tantenmörder:

Ich habʼ meine Tante geschlachtet,
Meine Tante war alt und schwach;
Ich hatte bei ihr übernachtet
Und grub in den Kisten-Kasten nach.

[…]

Ich habʼ meine Tante geschlachtet,
Meine Tante war alt und schwach:
Ihr aber, o Richter, ihr trachtet
Meiner blühenden Jugend-Jugend nach.

Nebenbei hatte Wedekind auch Schauspielunterricht genommen und verstärkt Rollen in seinen Stücken übernommen. Trotzdem blieb er Amateur und über seine schauspielerischen Fähigkeiten waren die Zeitgenossen geteilter Meinung. In München lernte er die 22 Jahre jüngere Schauspielerin Tilly Newes kennen und beide heirateten 1906. Aus der konfliktreichen Ehe gingen die beiden Töchter Pamela (1906) und Kadidja (1911) hervor. Tilly wurde vor allem bekannt durch ihre Hauptrollen in den Stücken ihres Mannes – so glänzte sie zum Beispiel als Lulu. Häufig traten die beiden auch gemeinsam auf.

Die in den folgenden Jahren entstandenen Theaterstücke – Dramen und Einakter – König Nicolo oder So ist das Leben (1902), Karl Hetman, der Zwergriese (1904), Totentanz (1905), Musik (1907), Die Zensur (1908), Oaha (1908), Der Stein der Weisen (1909) und Franziska (1911) kamen zwar alle zur Aufführung, hatten aber nicht die gedankliche Tiefe und Geschlossenheit seiner früheren Werke. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden seine Stücke kaum noch aufgeführt, die Zensur erklärte sie für unerwünscht. Nichtsdestotrotz sah sich Wedekind, wie viele Intellektuelle zu Kriegsbeginn, dazu berufen, das Wort für eine patriotische Gesinnung zu ergreifen. Nicht anders ist sein Vortrag am 18. September 1914 anlässlich der „Vaterländischen Feier“ in den Münchner Kammerspielen zu verstehen, den er mit den Worten beendete: „Wird des jungen deutschen Reiches Heldenkampf vom Siege gekrönt, dann wird auch den Söhnen Deutschlands ein Vaterstolz daraus erwachsen …“ War es echter Patriotismus oder versteckte Satire? Immerhin hatte er nie einen „patriotischen Aufruf“ unterschrieben, die damals zahlreich kursierten. Trotzdem arbeitete er an einem Bismarck-Drama mit dem Arbeitstitel Waffenruhe – mehr ein Dokumentarstück zum Deutschen Krieg von 1866 und hauptsächlich zusammengesetzt mit Zitaten aus Quellen und Schriften über Bismark. Wegen seines angeschlagenen Gesundheitszustandes (Blinddarmoperation Ende 1914) musste Wedekind die Arbeit an dem Stück mehrfach unterbrechen, ehe es im Oktober 1915 unter dem Titel Bismarck. Bilder aus der deutschen Geschichte im Erstdruck erschien. Die geplante Uraufführung am Deutschen Theater wurde jedoch von der Berliner Polizeibehörde abgelehnt. (Der Kommunikationswissenschaftler Hartmut Vinçon setzte sich in seinem Essay Frank Wedekind und der Erste Weltkrieg mit diesem umstrittenen Thema auseinander.) Ab Frühjahr 1916 fanden es Wedekind-Stücke langsam wieder auf die deutschen Bühnen, darunter auch Gastspielauftritte von Frank und Tilly. Gleichzeitig begann Wedekind mit der Niederschrift des mythologischen Dramas Herakles, in dem er die Herakles-Sage benutzt, um eine Antwort auf die zeitgenössische Situation in Deutschland zu finden. Es sollte das letzte Stück sein, das er vollenden konnte.

Zusehends verschlechterte sich Wedekinds gesundheitliche Verfassung, Nachfolgeoperationen waren notwendig geworden. Dazu kam eine ernste Ehekrise mit einem Selbstmordversuch Tillys. Im März 1918 folgten dann weitere medizinische Eingriffe. Schließlich führten Herzschwäche und eine Lungenentzündung am 9. März den Tod herbei. Drei Tage später wurde Frank Wedekind unter großer öffentlicher Teilnahme auf dem Münchner Waldfriedhof beigesetzt.

Frank Wedekind und sein Werk, im wilhelminischen und nationalsozialistischen Deutschland vielfach zensiert und verboten, mussten auch nach 1945 lange auf eine kritische Aufarbeitung und Rehabilitation warten – als würde dem Autor immer noch das Image eines Bürgerschrecks oder Sexualneurotikers anhaften. Nur spärlich wurden in den Nachkriegsjahren seine Stücke ins Repertoire westdeutscher Bühnen übernommen – in der DDR sogar erst Anfang der 1970er Jahre. Wedekind passte einfach nicht in die Kulturpolitik der beiden deutschen Staaten. So musste fast ein halbes Jahrhundert vergehen, bis 1994 der Darmstädter Häusser Media Verlag eine Kritische Gesamtausgabe des Wedekindʼschen Werkes in Angriff nahm. Nach über 20-jähriger Editionsarbeit lagen dann 2013 die 15 Bände des literarischen Gesamtwerkes vor, einschließlich aller Fragmente und Entwürfe und in philologisch gesicherten Textfassungen, dazu mit ausführlichen Erläuterungen sowie rezeptionsgeschichtlichen Berichten zur Werkkritik und Aufführungsgeschichte.

Diese „Darmstädter Ausgabe“ wurde 2016 vom Göttinger Wallstein Verlag übernommen. Zum 100. Todestag startete der Verlag außerdem die Ausgabe Frank Wedekind. Werke in Einzelbänden, um die maßgeblichen Werke des Autors preiswert und in handlicher Form zugänglich zu machen. Die Einzelbände basieren dabei auf der Grundlage der Kritischen Studienausgabe. Startband ist Wedekinds Schauspiel Der Marquis von Keith. Gleichzeitig hat der Wallstein Verlag mit Frank und Tilly Wedekind. Briefwechsel 1905–1918 erstmals die gesamte Korrespondenz des Künstlerpaares in einer zweibändigen Ausgabe herausgebracht. Band 1 präsentiert rund 700 Briefe, die aber nicht verfasst wurden, um sie der Nachwelt zu hinterlassen. Aber gerade deshalb geben sie intime Auskunft über eine leidenschaftliche und verhängnisvolle Liebe sowie die Rollenverteilung in der Ehe. So endet der Briefwechsel am 24. Februar 1918 mit einem Abschiedsgedicht von Frank an Tilly:

Ich bin alt. Des Gebrechens Last
Zwingt mich ins Eigenbrödeln.
Nimmer wolltʼ mit dem siechen Gast
Ich meine Zeit vertrödeln.
Tilly, gib mir noch einen Kuss!
Es kommt ja doch, wie es kommen muss.

Darüber hinaus erfährt man auch etwas über gemeinsame Theaterarbeit und Bühnenerfolge sowie Kontakte und Bekanntschaften zu anderen Künstlern. Der umfangreiche Briefwechsel wird in Band 2 ausführlich kommentiert, ergänzt durch einen Anhang, der unter anderem eine kompakte Werksgeschichte und eine Zeittafel mit detaillierten biografischen Fakten umfasst. Außerdem beleuchtet der Herausgeber Hartmut Vinçon in seinem Essay Intime Briefe neben dem Wedekind-Briefwechsel auch die Kommunikationsmöglichkeiten seit dem 19. Jahrhundert.

Noch einmal Rolf Kieser, der seine Wedekind-Biografie mit dem Resümee beschließt: „vom großbürgerlichen Schloss […] bis zum Zirkuszelt, in dem er in roter Weste und mit knallender Peitsche als Direktor“ auftrat. Frank Wedekind war mit seinem Werk auf der Suche nach einem Weg zwischen Naturalismus und Expressionismus, ohne dass man ihn einer Epoche zuordnen kann. Mit provokativen Themen entlarvte er die bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit und ihre Moralvorstellungen. Er zeigte den Menschen in seinem natürlichen Geflecht von Egoismus, Instinkten und erotischen Trieben und stürzte damit das klassische Menschenbild vom Sockel, ohne sich dabei als Richter aufzuspielen. Hier hat er wahre Ausgräberarbeit geleistet.

Titelbild

Frank Wedekind: Werke. Kritische Studienausgabe.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
13900 Seiten, 499,00 EUR.
ISBN-13: 9783835319721

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Frank Wedekind: Der Marquis von Keith. Schauspiel in fünf Aufzügen.
Herausgegeben von Ariane Martin.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
152 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783835331778

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Titelbild

Frank Wedekind / Tilly Wedekind: Briefwechsel 1905-1918.
Herausgegeben von Hartum Vincon unter Mitwirkung von Elke Autermühl, Miroslav Brei, Wolfgang Finn, Martin Hahn, Inge Opitz und Katharina Penner.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
960 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783835331716

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