Die Auflösung einer Figur führt nicht zur Auflösung des Problems

Der dritte Band von Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga erzählt von der Liebe und Rivalität zweier Freundinnen

Von Britta TekotteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Britta Tekotte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie auch in den vorherigen Bänden, Meine geniale Freundin und Die Geschichte eines neuen Namens, behandelt Ferrantes neustes Werk die Freundschaft und deren –  vermeintlich –  individuelle Entwicklungen zwischen zwei Freundinnen aus dem Rione, einem verarmten Stadtteil Neapels, der 1950er bis 1970er Jahre. Die Freundinnen sind Elena Greco, genannt Lenu, und Raffaella Cerullo, Lina oder Lila genannt. Die beiden Figuren sind, trotz ihrer nun getrennten Wege, weiterhin schicksalhaft miteinander verwoben. Ein ständiger Vergleich ihrer Intelligenz, Einstellungen, Liebesbeziehungen, die zwischenzeitlich in Rivalität ausartet, begleitet die Beziehung der beiden Freundinnen. Elena ist nicht nur die Ich-Erzählerin, sondern auch die Schriftstellerin, die die Saga in hohem Alter, vierzig Jahre nach den Erlebnissen, aufschreibt. Im dritten Band wird erstmals deutlich, dass sie damit versucht, Lila, die verschwunden ist, hervorzulocken: „Seit Wochen schreibe ich nun schon fieberhaft, ohne Zeit damit zu verlieren, meine Sätze erneut durchzulesen. Wenn Lila noch lebt […], wird sie nicht widerstehen können und kommen, um in meinem Computer herumzuschnüffeln, sie wird lesen und sich als die schrullige alte Frau, die sie ist, über meinen Ungehorsam aufregen, sie wird sich einmischen wollen, wird korrigieren, wird ergänzen und wird ihren Drang vergessen, sich aufzulösen.“ An diesem Zitat  lässt sich noch etwas feststellen: Lila braucht Elena, um wieder aufzutauchen. Und Elena wiederum braucht Lila, um zu schreiben. Eine Tatsache, die sich auch zuvor schon bewiesen hat: Elena ist seit Ende des zweiten Bandes Schriftstellerin. Jedoch ist es kein gegenseitiges Unterstützen, vielmehr ein Wechselspiel des Glücks und Unglücks. Geht es der einen gut, geht es der anderen schlecht. Diese besondere Beziehung der beiden Freundinnen, das ständige Wechselspiel zwischen Anziehung und Abstoßung, Nähe und Distanz, macht den dritten Teil von Elena Ferrantes Saga so gut wie die ersten beiden.

Was bedeutet es, dass diejenige der beiden, die gelernt hat, sich anzupassen, es schafft, gesellschaftlich aufzusteigen? Es herrscht keine Gerechtigkeit. Sexismus ist einer der in diesem Roman offengelegten Missstände der Gesellschaft. Fast keine der Frauen aus dem Rione wird gleichwertig behandelt, so auch Lila: „Er behandelt mich vor allem wie einen Fußabtreter. Und ich weiß auch, warum. Er hat nie was für mich übriggehabt. Er heiratet mich, um ein treues Dienstmädchen zu haben, alle Männer heiraten aus diesem Grund“. Aber Ferrante bleibt nicht beim Offenlegen der Ungerechtigkeiten stehen, sie zeigt auch Lösungswege auf. Denn es gibt eine wirksame Waffe und die haben auch die beiden Freundinnen für sich entdeckt: das Schreiben. Elena hat das Glück, von ihrer Schwiegermutter, die bei einem Verlag arbeitet, gefördert zu werden: „Du bist Schriftstellerin, nutze deine Rolle, probiere sie aus, verleihe ihr Gewicht. Wir leben in entscheidenden Zeiten, alles ist im Umbruch. Mach mit, sei präsent. Und fang mit dem Gesindel in deiner Stadt an, dränge sie mit dem Rücken an die Wand.“ Der maßgebliche Unterschied zwischen den jungen Frauen findet sich in ihrer Einstellung zur Welt. Elena flirtet mit dieser, weil sie sich leer fühlt und die Lücke mit Anerkennung von außen füllen möchte: „Ich war zum zweiten Mal schwanger und trotzdem leer.“ Lila hingegen ist erstaunlich neugierig und offen, sie will alles lernen und bis ins kleinste Detail verstehen. Aber trotz ihrer hochintelligenten, jedoch unangepassten und vorlauten Art schafft sie es nicht, aus ihrem sozialen Stand auszubrechen. Und so verschwindet Lila auch nicht, weil sie, was eine einfache Deutung sein könnte, eine ihrer Launen hat, sondern weil sie sich nicht gesehen fühlt. Deshalb muss Elena sie „herbeischreiben“.

Die beiden vorherigen Bände behandeln die Kindheit und Jugend der beiden Freundinnen, die bei Elena damit endet, dass sie aus dem Rione auszieht, um zu studieren und bei Lila damit, dass sie Hausfrau, Mutter und Verkäuferin im Rione wird. Einst die klügere Schülerin, der die Fähigkeit, Neues zu erschaffen, angeboren ist und die deshalb bei allen gleichermaßen bewundert und gefürchtet wird, bricht sie die Schule ab und fängt an, zu arbeiten. Lila wird durch ihre Heirat mit Stefano Carracci am Ende des zweiten Bandes zunächst die begehrenswerteste und gleichzeitig verhassteste Frau im ganzen Rione. Es bleibt ein Auf und Ab: Sie ist dynamisch, kreativ, kann alles schaffen, wenn an sie geglaubt wird, und vor allem, wenn sie selbst an sich glaubt. Aufgrund amouröser Enttäuschungen steigt Lila jedoch ab und zieht aus dem Rione weg in eine kleine Wohnung, arbeitet in einer Fabrik. Aber auch hier wird sie erneut zur Heldin: Sie ist diejenige, die die neue Computersprache lernt und beherrscht. Aber wie sie zuvor ihrem Bruder geholfen hat, die Schuhmacherei zu einer soliden Marke zu machen und ihrem Mann verholfen hat, ein noch erfolgreicherer Geschäftsmann zu sein, so hilft sie auch jetzt wieder einem Mann zum Aufstieg, obwohl eigentlich sie diejenige ist, die das nötige Wissen dafür hat, und bleibt selbst unentdeckt. Elena arbeitet weiterhin hart daran, in der akademischen Welt anzukommen. Auch ihr Leben ist von Auszeichnungen und Abstiegen gezeichnet. Ihr Erstlingswerk wird hoch gelobt und übersetzt, mit dem zweiten Schriftstück tut sie sich schwer, ebenso wie ihre Kritiker. Elena und Lila sind zwei bemerkenswerte Frauenfiguren, die in jeder Hinsicht mit den männlichen Figuren mithalten können, diese sogar häufig übertrumpfen. Aber sie haben es nicht leicht im Leben, weil sie eben Frauen sind. Und darin liegt die Stärke von Elena Ferrantes Saga. Es ist nicht nur eine Liebesgeschichte zwischen zwei Freundinnen, ein Entwicklungsroman zweier Frauenfiguren. Der Roman ist auch ein gesellschaftskritischer Aufruf, an sich selbst zu glauben, zu kämpfen. Er ist schlussendlich eine Liebeserklärung an das Schreiben und daran, diese Stimme auch zu nutzen gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt und die Kontraste zwischen Arm und Reich, zwischen Linken und Faschisten, zwischen Natur und Maschinerie, und eben zwischen Frauen und Männern zu erzählen.

Die Generation von Elena und Lila, und auch das macht die Weiterführung der Saga so interessant, arbeitet sich an dem Erbe der Eltern ab. Viele Problematiken wiederholen sich in der neuen Generation. Nino Sarratore, seit ihrer Kindheit Elenas große Liebe, zeitweise Liebespartner von Lila, ist seinem Vater, Donato Sarratore, sehr ähnlich geworden, auch wenn er sich vehement von diesem, vor allem intellektuell, abgrenzt. Auch Nino enttäuscht in Liebesbeziehungen. Die Tochter von Elena spielt mit Ninos Sohn, genau wie Elena und Nino es in ihrer Kindheit taten. Und das verhasste Hinken von Elenas Mutter taucht bei Elena selbst kurzzeitig auf. Die Geschichte der getrennten Wege ist eine kluge und interessante Weiterführung der Neapolitanischen Saga von Elena Ferrante, zu der auch die deutsche Übersetzerin, Karin Krieger, maßgeblich beigetragen hat. Der vierte und letzte Band Die Geschichte des verlorenen Kindes ist seit dem 02.02.2018 auf Deutsch erhältlich.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Elena Ferrante: Die Geschichte der getrennten Wege. Band 3 der Neapolitanischen Saga (Erwachsenenjahre). Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Karin Krieger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
541 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425756

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