Bis keiner mehr übrig ist

Caren Heuers Dissertation „Im Zeichen der Hermannsschlacht“ über den deutschen Selbstvernichtungsdrang in der nationalen Literatur des 18. Jahrhunderts regt zu Reflexionen über gegenwärtige Debatten an

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Intro aus gegebenem Anlass: Einigkeit und Recht und Freiheit

In Deutschland gab es kürzlich eine kleine Debatte darüber, ob man den Text der Nationalhymne nicht so umformulieren könne, dass auch Frauen sich darin deutlicher mit angesprochen und einbezogen fühlen. Aus feministischer Sicht sind dringendere Probleme denkbar. Schließlich besteht kein Zweifel daran, dass jener Diskurs, der absurde Rituale wie das gemeinsame Singen einer Nationalhymne überhaupt erst hat entstehen lassen, immer schon von phallozentrischem Größen- und Vernichtungswahn bestimmt war. Wieso also sollten Frauen diese Ideologie heute auch noch dadurch unterstützen, dass sie fordern, deutlicher als Teilhaberinnen an dieser Katastrophe benannt und adressiert zu werden?

Frauen kommen in den genuin aus männlicher Perspektive entworfenen Konzeptualisierungen des Nationalen seit dem 18. Jahrhundert nur insofern vor, als sie auf den bloßen Zeichencharakter ihres Körpers reduziert werden. Frauen dienen dem Nationalismus seither bestenfalls als erotisches Ornament oder erscheinen als willige Gebärerinnen kommender Heldengenerationen. Sie werden von Nationalisten zudem bis heute als bloße Metapher des Territorialen und damit als prospektives Opfer von Vergewaltigungen durch den Feind imaginiert, der in den Bereich des nationalen Eigenen einzudringen droht.

Auch im Deutschlandlied, dessen Text der Bonner Burschenschafter, Germanist und Hochschullehrer August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1841 gedichtet hat, sichern die Grenzen der Nation vor allem einen „brüderlichen“ Zusammenhalt, und zwar „Von der Maas bis an die Memel, / Von der Etsch bis an den Belt“ (erste Strophe), während die Frauen in der zweiten Strophe bloß mit deutscher Treue, deutschem Wein und deutschem Gesang assoziiert werden. Sie sollen also offenbar beim kollektiven Männerbesäufnis brav und verlässlich verfügbar sein bzw. die tapferen Kämpfer „zu edler Tat begeistern“.

Wie bei soldatischen Männern üblich, ist bei dieser edlen Tat im Kontext der ersten Strophe wohl weniger an die Liebe denn als an totale Eroberungskriege zu denken, zu denen das ewig Weibliche die Herren hinanziehen soll. Nicht zuletzt avancierte der Begriff der „Treue“ später, im 20. Jahrhundert, zu einem zentralen Terminus der SS- und Nazi-Moral zur Festigung des deutschen Volkstums und zur Exkludierung ‚fremder Rassen‘, wie ihn Raphael Gross in seinem Buch „Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral“ (2012) analysiert hat:

Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält,
Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt –
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt!

Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang
Sollen in der Welt behalten
Ihren alten schönen Klang,
Uns zu edler Tat begeistern
Unser ganzes Leben lang –
Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang!

Es ist nur logisch, dass die Perspektive in der darauf folgenden letzten Strophe, die bis vor Kurzem noch für politisch korrekt gehalten wurde und in Deutschland nach 1945 als Hymne in Benutzung blieb, nach diesem soft-erotischen Stammtisch-Intermezzo wieder auf den „brüderlichen“ Männerbund zurückschwenkt, der, angefeuert durch Alkohol und die weltberühmte deutsche weibliche Anmut, nun stramm für „Einigkeit und Recht und Freiheit“ im „Vaterland“ sorgt:

Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand –
Blüh’ im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland!

Der nunmehr diskutierte Versuch, dieses chauvinistischen Konzept des Geschlechterverhältnisses dadurch zu zähmen, dass man den Gebrauchstext der dritten Strophe des Deutschlandliedes gender inclusive umformuliert und an den Stellen gleichberechtigt an Frauen adressiert, wo im Wortlaut vom Vaterland und exklusiv von Brüderlichkeit die Rede ist, ist zum Scheitern verurteilt. Denn an diesem vollkommen unzeitgemäßen Text ist durch derartige Wortkosmetik nicht mehr viel zu retten.

Eher rückt die aktuelle Debatte erneut das Ensemble des Deutschlandliedes zurück ins Blickfeld, das durch das bloße Weglassen der ersten beiden Strophen ja nicht aus der Welt verschwunden ist. Nimmt man die ersten beiden Strophen wieder hinzu, so wird deutlicher, wie der Wortlaut der dritten Strophe im Zeitkontext ihrer Entstehung gemeint war und warum auch er nach Auschwitz schrill klingen muss. Gibt er doch genau jene Stichworte wieder, die den Franzosenhasser, Antisemiten und radikalen Nationalisten Ernst Moritz Arndt, bei dem Hoffmann von Fallersleben in Bonn studierte, zu Beginn des 19. Jahrhunderts umtrieben.

Arndt stritt vehement für eine „Einigkeit“ einer seinerzeit noch nicht gegründeten deutschen Nation, die durch einen blutigen Guerilla-Kampf gegen die Franzosen erreicht werden sollte, die Preußen bis 1813 besetzt hielten. „Recht“ meinte im deutschen Verständnis nach 1813 zunächst einmal die Abschaffung des – unter anderem gegenüber Juden fortschrittlich toleranten – Code Napoleon. Die „Freiheit“ schließlich wurde von Macho-Autoren wie Arndt ebenfalls zum Schlüssel- und Signalbegriff des totalen deutschen Krieges gegen die Franzosen umkodiert, der, wie etwa in Heinrich von Kleists allegorischem Propagandastück „Die Hermansschlacht“ (1808), bis hin zu allegorisch verbrämten Genozid-Szenarien ausgedeutet und -phantasiert werden konnte.

Nicht zuletzt bedeutet „Freiheit“ für Arndt und Hoffmann von Fallersleben eine Befreiung vom Judentum, dessen Einfluss sie im Innern des deutschen Volkes als Hemmnis einer ‚gesunden‘ Nationsbildung halluzinierten. Mehr noch: Die Amalgamierung der als Erzfeinde entworfenen Franzosen und der Juden war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert ein zeittypisches Motiv der Konstruktion dessen, was in Opposition dazu ‚deutsch‘ heißen sollte. Sowohl bei dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte als auch bei Ernst Moritz Arndt finden wir die Tendenz, die Franzosen und die Juden gleichermaßen als „gestaltloses und gehaltloses Nichts“ (Arndt) zu beschimpfen, wobei die Franzosen dem Rassisten Arndt als „verfeinerte schlechte Juden“ sowie als „Mittelding von einem Chinesen und Juden“ galten. 

David Nirenberg hat diese Tendenz, alle möglichen Feinde oder missliebigen Ideologien zu ‚judaisieren‘, eingehend als eine „andere Geschichte westlichen Denkens“ beschrieben, so der Untertitel seiner lesenswerten, 2015 erschienenen Studie „Anti-Judaismus“. „Die Juden als Juden“, schreibt Arndt 1814, „passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, daß sie auf diese ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten wünsche.“

Hat man einmal begriffen, dass diese Affekte gegen Juden und Franzosen zur Bildung der deutschen Nation als unabdingbar angesehen wurden und zur Zeit der Romantik und des Vormärz gewissermaßen zum Gefühlshaushalt des intellektuellen deutschen Mainstreams gehörten, versteht man den Ursprung jener Codes und Chiffren besser, um die es hier geht. Auch der Verfasser des Textes der deutschen Nationalhymne predigte den „Hass gegen dies verworfene Franzosengeschlecht, diese Scheusale der Menschheit, diese tollen Hunde“. Genauso wie sein Lehrer Arndt war Hoffmann von Fallersleben zudem Antisemit, schrieb polemische Gedichte gegen Baron Rothschild und Heinrich Heine. Er widmete dem „Volk Israel“ hasserfüllte Verse, in denen er behauptete, die Juden hätten den Deutschen ihr „Vaterland“ geraubt und seien nur auf „Wucher, Lug und Trug“ bedacht.

Selbst die im deutschen Gedächtnis seit jeher positiv konnotierte, gescheiterte Märzrevolution von 1848, ein erster Versuch der Bildung einer geeinten deutschen Nation, kam nicht ohne Ambivalenzen gegenüber den Juden aus. „Die Agrarunruhen im März/April 1848 gingen häufig mit antijüdischen Exzessen einher“, erinnert ein aktueller Artikel in der „Jüdischen Allgemeinen“. Oftmals griffen die Bauern dabei „auf traditionelle antijudaistische Stereotype wie das des ‚Kornjuden‘ zurück. Andere formulierten eine antijüdische Kapitalismuskritik und bedienten sich dabei schon wichtiger Argumente eines modernen Antisemitismus.“ Die Reichgründung von 1870/71 schließlich brachte zwar endlich die rechtliche Gleichstellung der Juden in Deutschland, markiert jedoch gleichzeitig die Radikalisierung des modernen Antisemitismus, etwa in den judenfeindlichen Schriften Wilhelm Marrs, der das Jahr 1848 rückwirkend als Beginn eines Krieges ‚der Juden‘ gegen ‚die Deutschen‘ deutete.

Kurz: Zielführender als Versuche, Frauen durch Umformulierungen in das Deutschlandlied einzubeziehen, wäre es vor diesem historischen Hintergrund wohl, den durch die deutsche Nationalhymne symbolisierten deutschen Patriotismus von geschlechtertheoretischer Warte aus schärfer zu kritisieren. Diese althergebrachten Formen der Zurichtung der Frauen zu einem dienenden Element in der imaginierten Männergemeinschaft, die durch das Lied beschworen werden, sind strikt abzulehnen. Jeder Versuch, nationales Denken und nationale „Erinnerungsorte“ (Pierre Nora) wie die deutsche Nationalhymne mittels frauenfreundlicherer Kompromissformulierungen zu neutralisieren, muss in der Konsequenz auf eine selbstnivellierende Kollaboration mit dem kritisierten Diskurs hinauslaufen.

Nationen werden erfunden. Sie basieren buchstäblich auf Lug und Trug, den sich in der Geschichte vor allem antisemitische Männer ausgedacht haben, um, unter anderem, Frauen zu unterdrücken. Als Idee können sich Nationen zudem nur dann profilieren, wenn ihre Verfechter die Welt strikt in Freunde und Feinde aufteilen, in das Eigene und das – abgewertete – Andere. Nationen beruhen damit auf Hirngespinsten, die letztlich auf Mord und Totschlag hinauszulaufen. Innerhalb der Nation setzt sich diese Aggression fort und kann jederzeit auch gegen ambivalent beäugte Anteile des Eigenen gerichtet werden. „Brüder“ werden plötzlich „mit Herz und Hand“ zu Todfeinden gemacht, aber auch Frauen können in dieser Gewaltspirale stets sehr schnell wieder dort landen, wo sie im nationalen Denken nach der kurzen, frivolen Episode mit „Wein und Sang“ hingehören – an den häuslichen Herd, in die Kindbett-Quarantäne – oder aber, in letzter Konsequenz, ins Grab.

Spätestens seit der Shoah sollte klar sein, dass das ursprüngliche Prinzip, für das die sentimentale, einst von Joseph Haydn komponierte Melodie der Nationalhymne heute symbolisch und angeblich so demokratisch-unverfänglich steht, in letzter Konsequenz bereits einmal auf einen totalen Völkermord hinauslief, in dem jüdische Frauen von deutschen Männern vergewaltigt wurden, bevor sie von ihnen am Massengrab erschossen oder nackt in die Gaskammern geprügelt wurden. Inwiefern sich Frauen heute in Deutschland wünschen sollten, nach alledem von der aktuellen Rumpfversion der deutschen Nationalhymne „mit angesprochen“ zu werden, bleibt ein Rätsel.

Intelligente und historisch informierte Menschen, egal ob Männer oder Frauen, können nach dem, was zwischen 1939 und 1945 geschehen ist, in Deutschland überhaupt keine Nationalhymne mehr mitsingen. Besser wäre es, stattdessen niederzuknien, leise zu weinen und eine Schweigeminute einzulegen.

Alles begann bereits in der Aufklärung

Caren Heuers Dissertation „Im Zeichen der Hermannschlacht“ kommt, wenn auch aufgrund ganz anderen Textmaterials und nicht ganz so explizit, zu ähnlichen Egebnissen. In ihrem Schlusswort unterstreicht die Autorin, wie problematisch Vorstellungen von nationaler Homogenität bis heute generell sind. Jedwedes Konstrukt einer wie auch immer gearteten nationalen Gemeinschaft produziere unweigerlich Tote, so Heuer: Selbst die Europäische Union könne sich selbst nicht denken, ohne ein Anderes von sich abzugrenzen, nunmehr in Gestalt von Flüchtlingen, die seit vielen Jahren zu Tausenden und Abertausenden im Mittelmeer ertrinken. „Es müssten neue Begriffe erfunden werden, die eine Abkehr von einer Politik des Familialen, Fraternalistischen und Androzentrischen markieren“, formuliert die Autorin mit Jacques Derrida.

Heuer verdeutlicht den nationalistischen Trend zur mörderischen Eskalation anhand der Interpretation früher Dramatisierungen des Hermannsschlacht-Mythos im 18. Jahrhundert. Friedrich Gottlieb Klopstock, Justus Möser und Johann Elias Schlegel entpuppen sich dabei als rabiate Nationalisten. Bereits mitten im Zeitalter der Aufklärung legten diese Autoren poetische Fundamente einer Ideologie, welche die Forschung bislang eher erst zu Zeiten der Befreiungskriege im frühen 19. Jahrhundert ausmachte. Die demokratische Distanzierung von christlichen und absolutistischen Denkmodellen führt in Klopstocks „Hermanns Schlacht“ (1769) zur Konstruktion einer nationalen Gemeinschaft von Gläubigen, die eine alternative Eucharistie des Kollektivkörpers entwickelt. In kritischer Absetzung von Carl Schmitt argumentiert Heuers Studie überraschenderweise mit Derridas Dekonstruktionstheoremen und nicht etwa mit einschlägigen Klassikern wie Klaus Theweleits „Männerphantasien“.

Diese originelle Wahl wirkt aber keineswegs kontraproduktiv. Die Studie springt im Schlusskapitel in die Gegenwart und blickt auf das Jahr 2009 zurück, in dem das 2000-jährige Gedenken an die historische Varusschlacht von 9 n. Chr. zu einer Flut fragwürdiger Jubiläumspublikationen und Politiker-Statements führte. Heuer demonstriert hier einleuchtend, wie jene nationalen Ideologien, die im 18. Jahrhundert entstanden, mit geringfügigen Anpassungen an den Sprachgebrauch der Europäischen Union auch noch in der deutschen Gegenwart virulent geblieben sind. Die Germanen, die die Römer in der Varusschlacht feige aus dem Hinterhalt niedermetzelten, wurden 2009 zu Opfern eines quasi-genozidalen Imperialismus umgedeutet, die gewissermaßen in Notwehr handelten – passend zum zeitgenössichen deutschen Viktimisierungs-Diskurs, der in Filmen wir Oliver Hirschbiegels und Bernd Eichingers Hitler-Film „Der Untergang“ (2004) Welterfolge feierte und den Holocaust bereits erfolgreich aus dem Blickwinkel des Massenpublikums gerückt hatte.

Zu dieser Renaissance des Nationalmythos der Hermannschlacht im Jahr 2009 schreibt Heuer: „Derart eröffnet der ‚germanische Freiheitskrieg‘ für die RezipientInnen der 2000er Jahre die Chance, die eigene Nationalität einmal nicht über die Vergangenheit der (nationalsozialistischen) Täterschaft und des Verlierens ableiten zu müssen, sondern sich vielmehr über einen Sieg definieren zu können, der umso ruhmvoller scheint, weil er aus der schwächeren Position des Opfers errungen wurde.“

Dazu wählten die Jubiläums-Autoren irritierenderweise ein „Vokabular, dass dem politischen Gegner sein Menschsein abspricht und an die Sprache des ‚Dritten Reichs‘ erinnert“. Heuer analysiert hier nicht nur obskur formulierte Grußworte prominenter PolitikerInnen wie Angela Merkel und Christian Wulff, sondern auch nicht minder lachhafte Artikel und Essays aus der „Zeit“, dem „Spiegel“ und dem „Stern“. So divergent die unterschiedlichen deutschen Identitätsentwürfe in diesen Blättern auch gewesen sein mögen, so frappiert dennoch, wie stark in der Presse auf die ins Reich des Phantastischen zu verweisende Vorstellung eines Ursprungs von Deutschland im Jahre 9 n.Chr. rekurriert wurde. Die Vorstellung einer angeblichen „Geburt“ der Deutschen und sogar der deutschen Sprache in der Varusschlacht wurde so erneut salonfähig gemacht, mal eher zurückhaltend als Mythos (in der „Zeit“), mal als eine Art antiimperialistischer deutscher Tet-Offensive, nur eben nicht des Vietcongs gegen die US-Armee, sondern der Germanen gegen die Römer (im „Spiegel“).

Gewiss: Diese Doktorarbeit mag zu Teilen ermüdend zu lesen sein, wie es emsig verfasste Qualifikationsarbeiten dieser Art nun einmal oft so an sich haben. Doch Heuers Rekapitulation der frühen Geschichte deutschen Männerbund-Denkens im 18. Jahrhundert ist erhellend. „Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, und nicht umgekehrt“, so zitiert die Autorin Ernest Gellners erstmals 1983 erschienene Studie „Nationalismus und Moderne“: Der Clou dieser Arbeit ist, zu belegen, dass jene männlich konnotierten performativen Sprechakte (Judith Butler), die den radikalen Nationalismus bis heute formen, ausgerechnet in der Aufklärung erstmals zu einem deutschen Thema wurden. Der hauptsächliche Unterschied zu späteren Texten des deutschen Nationalismus ist der, dass Autoren wie Klopstock anhand der internen Konflikte zwischen ihren germanischen Dramenfiguren noch recht pessimistisch waren, wenn es darum ging, die Möglichkeiten der Realwerdung der Utopie einer bis dahin noch überhaupt nicht existenten deutschen Nation vorauszusagen.

Der Stoff der Hermannsschlacht brachte in jener Zeit merkwürdige Ambivalenzen in der Figurenzeichnung hervor. In Johann Elias Schlegels Stück „Herrmann. Ein Trauerspiel“ (1740/41) bleiben die Charaktere in ihren Ansichten eher wankelmütig und der Nationsbegriff daher unsicher. Das imperialistische römische Andere erscheint in den Hermanns-Dramen zudem teils eher als das Eigene: Freund und Feind gleichen sich mehr, als der nationalen Sache dienlich erscheint. Andererseits heißt es bei Schlegel an einer Stelle bereits markerschütternd: „Da dir dein Volk befielt, ist Zweifel ein Verbrechen.“

Heuer findet in diesen Texten letztlich bereits so ziemlich alles, was wir aus der Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts als Konstrukte des ‚typisch Deutschen‘ kennen: die Ideologie der Arbeitsamkeit, die Vorstellung eines Nationalkörpers, die Metaphorik des Bluts, die Hoffnung auf einen neuen Führer (bei Klopstock) und die Frau als internes Anderes der Nation.

Wegweisend ist zudem die Feststellung, dass der Nationalismus bereits in diesen Texten als Selbstzerstörungsmechanismus erkennbar wird: Ohne Feinde keine Nation, und wenn es keine Gegner mehr gibt, müssen eben die Freunde geopfert werden. Dem Differenzpaar von Freunden und Feinden sei, so stellt Heuer nicht ohne Sarkasmus fest, das Moment der Selbstauslöschung eigen, das darin bestehe, „permanent Feinde erfinden zu müssen, um das Eigene zu setzen – solange, bis niemand mehr übrig ist“.

Männer wie der NS-Jurist Carl Schmitt, dessen Schriften Heuer in ihrer Studie nicht ohne Skrupel viel zitiert und im Gegenzug fleißig dekonstruiert, kämpften einst für ein Deutschland, dass dieses Ziel in Europa fast erreicht hätte – keinen mehr übrig zu lassen. Nun aber sitzen in Deutschland bereits wieder neue Hass-Rhetoriker wie Alexander Gauland für die „Alternative für Deutschland“ (AfD) im Bundestag, die meinen, als Deutscher könne und solle man endlich wieder auf die Leistungen der NS-Wehrmacht stolz sein. Damit ist das vollkommen Unsägliche, das Undenkbare in Deutschland endgültig wieder offizielle Politik geworden und muss im Parlament diskutiert werden. Widerspricht man/frau derartigen Nivellierungen des Holocaust öffentlich, so nutzt es die neue Rechte zur lautstarken Klage darüber, dass in diesem angeblich so toleranten und demokratischen Land, das von einer linksliberalen Gesinnungsdiktatur mundtot gemacht werde, keine Meinungsfreiheit mehr gelte.

Angesichts dessen ist es ermutigend zu sehen, dass der literaturwissenschaftliche Nachwuchs in Deutschland nach wie vor Bücher wie das von Caren Heuer hervorbringt. Ihre Erkentnisse über die Irrwege deutscher Nationalideologien in der Literatur seit der Aufklärung können helfen, sich von dem maulenden Mob um Figuren wie Gauland, Björn Höcke oder, neuerdings, sogar Schriftstellern wie Uwe Tellkamp, nicht darin beirren zu lassen, dass nicht die Nation, sondern nur eine pluralistisch funktionierende Demokratie der Weg sein kann, die Gefahren der Zukunft zu meistern.

Titelbild

Caren Heuer: Im Zeichen der Hermannsschlacht. Texte des Nationalen im 18. Jahrhundert.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2017.
499 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783826062261

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