Sehnsucht nach einem verlorenen Land

Monika Maron legt mit „Munin oder Chaos im Kopf“ ein weiteres Nachtstück vor

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Sehnsuchtsort, den die Protagonistinnen in den Romanen der Autorin Monika Maron umkreisen, ohne ihn erreichen zu können, ist das Paradies. Auch in ihrem jüngsten Roman Munin oder Chaos im Kopf entwirft Maron mit der Figur Mina Wolf eine Ich-Erzählerin, die von der Sehnsucht nach Ruhe und Frieden getrieben, in ihrem Alltag aber mit Unruhe und Krieg konfrontiert ist. Dass unerfüllte Sehnsucht ein wichtiges Merkmal der Figur ist, darauf weist bereits ihr Namen hin. Sie ist benannt nach der italienischen Schlagersängerin Mina. Deren Schlager Heißer Sand belegte 1962 wochenlang den ersten Platz in der deutschen Hitparade. Für die Eltern der Ich-Erzählerin wurde der populäre Song zur Ehehymne, mit der die beiden DDR-Bürger nicht nur die Erinnerung an ihren einzigen Auslandaufenthalt vor dem Mauerbau verbanden. Zugleich thematisiert der Schlager ihre junge Liebe und die Sehnsucht nach Freiheit.

Die Ruhe der Ich-Erzählerin, die im wiedervereinigten Berlin der Gegenwart lebt, wird gleich zu Beginn des Romans mehrfach gestört, steht er doch im Zeichen von Krise und Terror. Diese brechen gleich in zweifacher Weise in das Leben der fünfzigjährigen Journalistin ein. Mit den ersten Sonnenstrahlen, die im frühlingshaften Berlin die Menschen ins Freie locken, bricht in der ruhigen Seitenstraße, in der die Protagonistin lebt, ein Nachbarschaftsstreit aus, der von der Erzählerin schnell mit den Begriffen Terror und Krieg belegt wird. Ausgelöst wird er von einer geistig beeinträchtigen Frau, die sich selbst für eine begnadeten Sängerin hält. Sobald die Außentemperaturen es zulassen, erfreut sie die Nachbarschaft von ihrem Balkon aus mit ihren Opern- und Operetteninterpretationen, die selbst dem wohlwollendsten Nachbarn die Haare zu Berge stehen lassen.

Fühlen sich viele Anwohner der singenden Nervensäge machtlos ausgeliefert, so versucht Mina sich nicht von den sich bildenden Gruppen in der Nachbarschaft vereinnahmen zu lassen. Beide sind stark überzeichnet: Die heftigen Gegner der Sängerin, die als Wutbürger gezeichnet werden, votieren für eine Umsiedlung der nicht zurechnungsfähigen Maria-Callas-Imitatorin. Die verständnisvolle Gegenbewegung der Bildungsbürger, die rhetorisch geschickt den Vergleich mit der Verfolgung psychisch Kranker durch die Nationalsozialisten ins Spiel bringen, fühlt sich sichtlich wohl in ihrer gepflegten Akzeptanz der Sängerin. Die harmoniebedürftige Erzählerin findet ihre eigene Antwort auf den ausbrechenden Konflikt: Sie stellt ihren Alltag um und schläft bei Tag. Während sie so tagsüber die unliebsamen Geräusche aus der Nachbarschaft ausblenden kann, nutzt sie die ruhige Nacht, um konzentriert zu arbeiten. Der Wechsel des Tag-Nacht-Rhythmus’ führt zu einer psychischen Beeinträchtigung, die schleichend vor sich geht und sich dem Leser erst spät erschließt.

Doch auch in den Nachtstunden findet Mina Wolf nicht wirklich Frieden, ist sie doch mit den emotional aufgeladenen Themen Gewalt und Zerstörung und ihren Auswirkungen auf die menschliche Psyche beschäftigt. Für die Festschrift einer westfälischen Kleinstadt, die ihr tausendjähriges Stadtjubiläum feiert, soll die Journalistin einen Beitrag zum Dreißigjährigen Krieg verfassen. Da sie es sich nicht leisten kann, den gut dotierten Auftrag abzulehnen, beginnt sie mit der Recherche. Nachdem sie verschiedene Werke quer gelesen hat, entscheidet sie sich dafür, zwei Bücher intensiv zu lesen: Die im Jahr 1938 erschienene Monografie von Cicely Veronica Wedgwood und die erst vor rund zwanzig Jahren entdeckte autobiografische Schilderung des Krieges durch den Söldner Peter Hagendorf. An dem Tagebuch des Müllersohnes ohne Erbe beeindruckt sie die Emotionslosigkeit, mit der er sich in sein Schicksal fügt. Die Interpretation der Kriegsereignisse durch die Historikerin Wedgwood fasziniert sie, weil sie in deren Ausarbeitung die Spuren einer Vorkriegszeit entdeckt, die Parallelen mit der Gegenwart aufweisen. An dieser Stelle zeigt sich eine Verführbarkeit durch Lektüre, die auch bei anderen Figuren Marons in Extremsituationen zu beobachten ist.

Die kritische Beobachterin der Gegenwart, die ebenso die Zeitgeschichte wie das generische Maskulinum hinterfragt, verliert durch die Umkehr von Tag und Nacht die Bodenhaftung. Die von der Lektüre angeregten Analogien zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und der Gegenwart in Syrien und Afrika, die Ängste in Anbetracht fremder Religionen sind allzu pauschal formuliert und mit einem taghellen Blick auf die Texte kaum haltbar. Dass Mina Wolf der objektiv-kritische Blick auf die Lektüre nicht gelingt, ist im Zusammenspiel ihres Unwissens über das 17. Jahrhundert und ihrer emotionalen Ausnahmesituation begründet. Subjektive Leseeindrücke werden nicht mehr hinterfragt. Dies ist am offensichtlichsten, wenn die Journalistin in Tränen ausbricht ob der Parallelen zwischen dem 17. Jahrhundert und der zunehmend als bedrohlich empfundenen Gegenwart. Hat sie doch das Gefühl, dass die durch Presse und Fernsehen präsentierten Kriege, Krisen und der weltweite Terror auf eine Vorkriegszeit hindeuten, die in eine Katastrophe führen wird.

Diese Gegenwartsdiagnose wird in Marons Versuchsanordnung durch die Umkehr von Tag und Nacht verstärkt. Das „Chaos im Kopf“ der Protagonistin führt dazu, dass sie  immer mehr in eine Gegenwelt abdriftet, die von Einsamkeit, Alkohol und unkontrollierten emotionalen Ausbrüchen gekennzeichnet ist. Wer dabei an E.T.A. Hoffmann denkt, liegt nicht falsch. Wie in den Hoffmann’schen Erzählungen bricht das Phantastische in die Realität der Figur ein, wobei Alkohol und das Schreiben in den Nachtstunden eine wichtige Rolle spielen. Langsam und kaum merklich verwandelt sich die Wahrnehmung der Figur. In Marons Nachtstück tritt das Phantastische in Form einer sprechenden Krähe auf, die von der Ich-Erzählerin Munin genannt wird. Der Name ist auch in diesem Fall bedeutungsvoll, ist er doch aus der nordischen Mythologie entnommen, wo der Rabe des Gottes Odin für die Erinnerung steht. Vieles, was Maron nun mit dieser kritisch philosophierenden Krähe verbindet, ist den Maron Lesern aus dem 2016 erschienen Essay Krähengekrächz bekannt. Dort hat die Autorin ihre Faszination für die Rabenvögel, ihren persönlichen Versuch der Annäherung an diese Tiere und ihre literarische Spurensuche bereits dokumentiert. Die Lektüre dieses Bändchens ist es auch, die Mina Wissen um das sonderbare Wesen dieser intelligenten Vögel verschafft. Mina und die Autorin Maron aus diesem Grund gleichzusetzen, verfehlt die Stoßrichtung des Romans. Mit ihrer Protagonistin lotet die Autorin den schmalen Grat zwischen Wahnsinn und Normalität aus. Zeugt die Tatsache, dass sie sich nachts mit einer Krähe in einen philosophischen Disput einlässt, nicht davon, dass sie selbst den Verstand verliert? Kann dieses „Chaos im Kopf“, die Verwirrung der Begriffe und Gefühle produktiv genutzt werden oder ist sie nicht doch der Sängerin auf dem Balkon gegenüber vergleichbar, die ihre Mitwelt mit ihren vermeintlichen Künsten terrorisiert?

Einfache Erklärungen sind Marons Sache nicht. Mit der komplexen Erzählung hat sie einen fiktiven Text verfasst, dessen sprachliche Schönheit und phantastisch-philosophischen Dialoge nicht darüber hinweg täuschen dürfen, dass er ein gesellschaftlich brisantes Thema verhandelt. Wie gesellschaftliche Ressentiments entstehen, zeigt sie überzeugend auf, und doch verweigert sich der Text – ebenso wie seine Protagonistin im Nachbarschaftsstreit – einem einfachen Gut-Böse-Schema. Marons schmaler Roman ist geprägt von einem Kulturpessimismus, der in der Parallelisierung der Gegenwart mit der Zeit des Dreißigjährigen Krieges den Fortschritt der Gesellschaft in Frage stellt. Die Gefahr, die von einer solchen Fehllektüre ausgehen kann, wird nicht explizit thematisiert. Nur zwischen den Zeilen deutet sich an, dass Krieg und Gewalt nicht die Oberhand behalten können, wenn Maron die drei Handlungsstränge kunstvoll zu einer Erzählung verbindet, die das Unbehagen an der Gegenwart als Sehnsucht nach Harmonie kennzeichnet. Das Paradies ist verloren, aber das Wissen um diesen Sehnsuchtsort ist im Glück einer strahlenden Sommersonne aufgehoben.

Titelbild

Monika Maron: Munin oder Chaos im Kopf. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
222 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783100488404

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