Versuch über das Nichts

Vladimir Jankélévitchs mustergültiges (Denk-)Abenteuer der Todesreflexion und die erschreckende Leichtigkeit der Philosophie

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Nachdenken über den eigenen Tod gehört mutmaßlich selten zu den bevorzugten Beschäftigungen des Menschen, der Tod erweist sich vielmehr als der Tod des „Anderen, entzieht sich in fundamentaler Weise dem eigenen Reflexionsrisiko. Diesem mit Max Scheler gesprochenen „metaphysischen Leichtsinn“ des Subjekts, eben keine Gedanken über das eigene Ende zu entwickeln, steht eine nicht unwesentliche philosophiegeschichtliche Tradition der Reflexion über den Tod gegenüber. Mindestens seit Platon entspringt der darin artikulierte Anspruch der Erfassung dieses problematischen Gegenstandes der Grundannahme, dass sich der Mensch als die wahrscheinlich einzige Lebensform darstellt, die dazu imstande ist, die eigene Existenz im vorausschauenden Sinne zu entwerfen, und damit auch den Tod gedanklich zu fassen. In eindrücklicher Weise reiht sich auch das lange Zeit unbeachtet gebliebene Werk Der Tod des französischen Moralphilosophen Vladimir Jankélévitchs (1903-1985), das im Original bereits 1977 publiziert wurde, in diese Linie ein.

Die Position des Todes jenseits jeder menschlich fassbaren logischen Dimensionen torpediert bereits zu Beginn der Ausführungen den (möglichen) Rezeptionsanspruch der Gegenstandskontrolle: Luzide zeigt er dabei die vordergründige Sinnlosigkeit des (zuweilen eigenen) Projekts der sprachlichen Fassbarkeit und Denkbarkeit des Todes auf. Als „Triumph der Nichtheit“ und „monströse Umkehrung einer Positivität“ erweist er sich als dem Leben entgegengesetztes, in gänzlicher Absolutheit unschöpferisches Formprinzip der Sinnlosigkeit. Die Dialektik des Todes resultiert für Jankélévitch jedoch – und das macht seinen Text ausnehmend lesenswert – aus dem Form- und Instrument-Charakter des Todes: Parallel zur formlosen Zersetzung jeglicher organischer Strukturen des Lebens ermöglicht erst die Absolutheit des Todes alles Vitale. Diese Symbiose aus „Vernichtung“ und „Gestaltung“ lässt Jankélévitch von der „Halböffnung“ des Todes sprechen, die darauf verweist, dass das finale Schicksal des Menschen als Faktum unabwendbar bleibt, der Zeitraum zwischen der festen Grenze der Geburt und der fließenden Denkbarkeit des Todes aber in seiner Gestaltbarkeit in Erscheinung tritt. Die Elastizität des menschlichen Werdens bietet dabei eine Vielzahl von Handlungsspielräumen, über die sich das Subjekt in freiheitlicher Weise im Noch-Nicht verwirklichen kann – ausschließlich über die Ungewissheit des Todes als rahmensetzender Instanz begrenzt. Das Agieren des Menschen im Diesseits ist damit immer als kämpfende Behauptung gegen die Formlosigkeit des Todes zu verstehen.

Weit weg von einer verklärenden Aufwertung individueller Autonomie im Verhältnis zur Radikalität des Todes betont Jankélévitch unmissverständlich, dass der Augenblick des Todes das vom Subjekt ausgehende Streben nach Gestaltung jäh unterbindet und die Idee der Zeitlichkeit systematisch zerstört: In seiner nihilistischen Formlosigkeit negiert er jegliche Strukturen der Wiedererinnerung, verhindert mögliche antizipatorische Potenziale und bedeutet gleichzeitig den sprachbewussten Entzug von Gegenwärtigkeit. Die prophylaktische Annäherung an das Moment des Todes als Vorbereitung erweist sich gänzlich als Chimäre – aus Jankélévitchs Sicht ist die Distanz zum Tod immer gleich, der große Tod kann nicht durch die asketische Vorwegnahme „kleiner“ Lebenstode oder Abschiede bewältigt werden. In konsequenter Fortführung seiner Darstellung des Todes als unwiderruflicher wie unumkehrbarer Augenblick des totalen Nicht-Seins (als räumlich verstandener Nicht-Ort) sind Gestaltungsautonomie, gelebte Zwischenmenschlichkeit beziehungsweise religiöse Transzendenzerfahrungen zwar optionale Bestandteile einer Lebenshaltung, die dem Dasein des Subjekts temporäre Handlungsmacht verleihen, aber keine validen Möglichkeiten zur Bändigung des Absolutheitsanspruchs des Todes.

In der letzten dialektischen Wendung seines komplexen Hauptwerks hält Jankélévitch dennoch ein besonderes Plädoyer für das philosophische Denken: Auch wenn der Tod dieses letztlich negiert, bedeutet die transzendente Bewusstmachung des Todes als Form der Reflexion die Bändigung des Todes durch das Denken. Trotz der physischen Unterlegenheit des Menschen in Anbetracht der Destruktivität des Todes erweist sich der philosophische Akt des Denkens als tröstender Ermächtigungsakt des Subjekts über die ansonsten im Diffusen verlaufenden Implikationen des Todes.

Wer die für philosophische Texte oftmals charakteristische Entwicklung einer detailorientierten und begrifflich scharf wie logisch fundierten Argumentstruktur erwartet, sieht sich im Besonderen getäuscht: Jankélévitch knüpft in Form seines wissenschaftskonform anmutenden Inhaltsverzeichnis zwar oberflächlich an den rationalistischen Geist philosophischer Akteure an, entwickelt performativ im Akt des Schreibens allerdings den von Theodor W. Adorno proklamierten „Essay als Form“ als dezidierte Versuchsordnung. Weil die denkende Beschäftigung mit dem Tod immer nur spekulativer Natur sein kann, folgt in kohärenter Weise der Rekurs auf die Paradeform der versuchsweisen Annäherung, das Essayistische. Auch wenn Jankélévitch nicht selten der Gefahr erliegt, gewonnene Erkenntnisse in wiederholender Weise zu re-formulieren, bleibt der kreisende Impetus seiner Abhandlung in vorbildhafter Weise produktiv mit Blick auf den anvisierten Gegenstand.

 Unendlich kenntnisreich lavieren seine Kontextualisierungen und Bezüge in breiter Diskursvielfalt zwischen Philosophie-, Theologie- und Musik- beziehungsweise Literaturgeschichte. Sie entwickeln – ohne gänzlich vermeiden zu können, zuweilen auch eher banale Zusammenhänge offenzulegen – eine sogartige, für die musiktheoretischen Ambitionen und Referenzen des Autors wenig überraschende Dynamik, einen Rhythmus, der zwischen offenem Diskurshorizont und punktuell-dichter eigener Theorie oszilliert. Die Effekte dieses lese- wie gegenstandsfreundlichen Ansatzes zeigen sich zum einen in der Verwendung einer betörenden Variabilität des sprachlichen Ausdrucks, der das Kunststück beherrscht, literarische Leichtigkeit und philosophische Genauigkeit nicht ambivalent erscheinen zu lassen.

Darüber hinaus wird dem Leser im Kontext einer derart bereichernden Lektüre deutlich, wie übergreifend, fast entgrenzend ein solches Modell der Gegenstandswahrnehmung angelegt ist, zumal Jankélévitch in spielerischer Weise weitere Diskurse der Zeitlichkeit, des Musikalischen, der Ironie, des Religiösen et cetera. streift – nie unter dem Eindruck des Künstlich-Gewollten oder gar Dilettantischen, immer in der souveränen Haltung des Wissenden. So erweitert der Text als solcher das eigene, vielleicht über den Titel als begrenzt wahrgenommene Erkenntnisfeld und stellt über den produktiven Versuchscharakter seinen – im besten literarisch-philosophischen Sinne – offenen Deutungsraum unter Beweis.

Titelbild

Vladimir Jankélévitch: Der Tod.
Herausgegeben und mit einer Nachbemerkung von Christoph Lange. Mit einem Nachwort von Thomas Kapielski.
Übersetzt aus dem Französischen von Brigitta Restorff.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
574 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783518298404

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