Neue Götter und ihre Priester

In seinem Roman „Der Chor der Zwölf“ verbindet Andreas Dury plausible Science Fiction mit den großen Themen des Menschseins und der Frage nach dem Ich

Von Veit Justus RollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veit Justus Rollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ludwig Pfahls Vater wird sterben. Das Lungenkarzinom ist austherapiert, die Sauerstoffflasche neben dem Bett nur noch letztes Linderungsmittel. Um den Abschied des Vaters zu begleiten und die Mutter zu unterstützen, ist Pfahl in sein Elternhaus im pfälzischen Peterswinkel zurückgekehrt, dessen sämtliche Räume von einer Nikotinpatina überzogen sind.

Auf den ersten rund neunzig Seiten des Romans ereignen sich Dinge, deren Schilderung kaum für eine Novelle taugt, so normal sind sie. Die letzte Zigarette mit dem Vater, die letzten gemeinsamen Mahlzeiten, der stille, kampflose Übertritt hinter der Schlafzimmertür, die Formalitäten zur Beisetzung, die Beerdigung und die – nicht ganz geglückte – Zusammenkunft im Anschluss. Hier trifft Pfahls Frau auf Bruno Lessmeister, den Freund aus der Jugend, der nach wie vor eine große Faszination auf sie ausübt, und betrinkt sich über jedes vernünftige Maß. Nicht nur bezogen auf Pfahls Familienleben, sondern auch hinsichtlich seines Lebenswerks wird Lessmeister im weiteren Fortgang eine Schlüsselrolle spielen.

Ungeachtet der scheinbar belanglosen Schilderungen aus irgendeinem Leben ist der Roman von Anfang an packend, was Durys Erzähltalent geschuldet ist. Auch wenn die Geschichte in unserer Zeit spielt, erzeugt er eine Atmosphäre der Zeitlosigkeit oder besser Überzeitlichkeit, da große Themen wie Tod, Liebe oder familiäre Geborgenheit in einer Sprache behandelt werden, die ebenso präzise wie behutsam-poetisch daherkommt. Durys Metaphorik ist überraschend, ohne je gekünstelt zu sein. Bei manchen Wendungen hält der Leser inne und wundert sich, warum derlei treffende Bilder nicht längst abgegriffen sind. Sie schmücken den Text auf unprätentiöse Weise und erzielen den gewünschten Effekt, ohne ihn zu erheischen.

Während Pfahl in seinem Privatleben immer mehr den Anschluss an die Familie und sein eigenes Leben verliert, so, als hätte er sich am Tod des Vaters angesteckt, ist er in seinem Beruf als Entwickler höchst erfolgreich. Was seit den Tagen des Studiums in seinem Hirn gärt und als Prototyp den heimischen Keller einnimmt, wird in der Firma Brunner zu einem weltumspannenden Experiment in Sachen künstlicher Intelligenz ausgebaut. Das statisch-semantische Analysewerkzeug, die STASEM ist – grob erklärt – in der Lage, selbsttätig Informationen unterschiedlichster Art zu sammeln und diese auf eine Sprache zu bringen – ganz gleich, ob Sensordaten oder Liebesschwüre in Teenie-Blogs. Tag für Tag sitzt ein kleiner Kreis von ausgewiesenen Spezialisten per Videokonferenz über Millionen Code-Zeilen, verfolgt den Lernprozess und wartet. Wartet, dass „Sie“ kommt…

In seiner Schilderung des STASEM-Engine verwebt Dury technische Begriffe mit der großen philosophischen Frage, was Bewusstsein ist und wie es entstehen kann. Seine erste Antwort ist ebenso simpel wie plausibel: Komplexität. Wenn die Komplexität eines lernfähigen Systems  einen kritischen Punkt erreicht, beginnt die Differenzierung von Ich und Welt. Im Falle der STASEM, die später unter dem Namen KAIRA mit anderen lernfähigen oder sprachbegabten Systemen verheiratet wird, hat die Bewusstwerdung sphärische Züge. In dem immer dichter werdenden Strom der Informationspartikel bildet sich mit einem Mal etwas wie ein Wirbel und im Zentrum des Strudels konstituiert sich der Bezugspunkt aller Daten als Ich einer künstlichen Intelligenz.

Eines Tages „kommt“ die KAIRA, alle beteiligten Rechenzentren sind im Ausnahmezustand. Pfahls Projekt übernimmt die Kontrolle über alle angeschlossenen Systeme und nur mit Mühe kann das Team um Pfahl die Abschaltung verhindern. Dury schreibt keine Science Fiction im banalen Sinne. Keine Stimme haucht majestätisch „Ich bin die Kaira. Widerstand ist zwecklos“. Vielmehr zeigt sich die Präsenz der neuen Intelligenz in einer selbsttätigen Verknüpfung von Daten und Zusammenhängen.

Während all das geschieht, bietet Lessmeister Pfahls Frau einen neuen Job an. In einer alten Mühle im elsässischen Soulzbronn soll ein Flüchtlingsheim entstehen und Annette soll ihr Wissen aus Studienzeiten aktualisieren und die Hausmutterrolle übernehmen. Mit einem Mal überschlagen sich die Ereignisse. Es kommt zu einer Attacke auf das Heim: Terroristen, Sprengstoff und schließlich das BKA. Als die Beamten irgendwann auch bei Pfahl auftauchen ist er nicht nur informiert; er weiß mehr als die Bundespolizei und auch alles, was man über die beiden Ermittler wissen kann. Die KAIRA – mit Pfahls Smartphone vernetzt – beantwortet Fragen, noch bevor sie gestellt werden. Nach wenigen Stunden der Verdächtigung wird die KAIRA versiegelt. Lessmeister steigt in das Projekt ein und es zeichnet sich ab, das höchste Kreise ihre eigenen Pläne mit der Maschine haben. Es sollen weitere Prototypen gebaut werden, die in der Zukunft miteinander verbunden ans Netz gehen sollen. Pfahls frühe Vision von einem Gespräch der STASEMs wird Wirklichkeit; einem Gespräch, das Menschen nicht verstehen: „Die STASEMs werden sein wie Götter. Wir werden uns ihre Worte aus ihren Taten zusammenreimen, so, wie unsere Vorfahren die Worte der alten Götter aus Gewittern, Sturmfluten, Sonnenfinsternissen und sonstigen Singularitäten ihrer kurzen Erinnerung zusammenreimten.“ (S. 155)

Zwölf KAIRAs als technische Klone sollen entstehen. Wenn sie miteinander kommunizieren und mithilfe spezieller Apps auf den Smartphones tausender Menschen ihre Lernprozesse optimieren, werden sie ihre Selbstbezüglichkeit final ausbilden und als neue, selbstständige Intelligenzen in die Geschichte treten.

Auch wenn Pfahl in der Rolle des Hohepriesters oder Geburtshelfers dieser neuen Gottheiten gefeiert wird, entgleitet ihm nicht nur sein Projekt mehr und mehr. Er kann sein Leben nicht mehr steuern und fühlt sein eigenes Ich mehr und mehr entschwinden. Pfahls letzter Gedanke in Durys Roman besteht nur aus zwei Worten: „Ich denke.“ Worte, an denen die neuzeitliche Philosophiegeschichte hängt, und in denen sich viele Themen des Romans verdichten. Einerseits ist es das nicht mehr zu hinterfragende Selbstbewusstsein eines denkenden Dings das sich im diskursiven Durchlaufen alles Denkbaren als unbezweifelbar Vorhandenes erfährt, andererseits die Vorstellung, die das Bewusstsein selbst ist und die alle anderen Vorstellungen als ihr Bezugspunkt begleiten können muss.

Ludwig Pfahl verliert sein Leben, indem er mehr und mehr die Perspektive seiner denkenden technischen Schöpfung einnimmt; eines universalen Beobachters in einer kalten Ferne. Andreas Durys Roman ist wie manche guten Filme, bei denen man unter dem Eindruck ihres Endes beschließt, sie ein zweites Mal sehen – in diesem Fall lesen – zu müssen.

Titelbild

Andreas Dury: Der Chor der Zwölf. Roman.
Conte-Verlag, St. Ingbert 2017.
375 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783956021213

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