„Meiner Literatur ungeachtet, liebe ich Dich sehr …“

Vladimir Nabokovs Briefe an seine Frau Véra erscheinen auf Deutsch

Von Nils GelkerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Gelker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 15. April 1925 heiratet Véra Slonim in Berlin einen jungen, noch nicht ganz 26-jährigen Autor. Zwei Jahre vorher hatte Sie ihn für sich eingenommen, auf einem Maskenball war sie auf ihn zugegangen – der Startschuss einer lebenslangen Liebe. Ohne es wirklich zu wissen, waren sich die zwei russischen Exilanten schon mehrfach fast begegnet und angeblich hatten sie sich bereits ein Mal aus der Ferne gesehen. Das klingt nach Schicksal oder einem recht schnulzigen Plot. Von letzterem hält der junge Autor nichts: In seinem ersten Roman, Maschenka, kommen der Protagonist und seine große Liebe schlussendlich nicht zusammen, weil die Idealisierung der Trennungszeit nicht der Realität der Wiedervereinigung standhalten würde. Doch der junge Autor, der sich Sirin nennt und den die Welt als Vladimir Nabokov kennenlernen wird, hat durchaus eine romantische Ader. Seine Véra setzt er an den Anfang aller seiner Romane, eine Galionsfigur in Gestalt der mantraartig wiederholten Widmung: „Für Véra“. Mit diesen zwei Worten beginnen fast alle 24 Bände der deutschen Prachtausgabe seiner Gesammelten Werke. Mit den Briefen an Véra findet nun ein an fast jeder Stelle vorbildlich bearbeitetes und wunderschönes Editionsprojekt seinen Abschluss.

Die Briefe Nabokovs an seine Frau zeigen nur selten den teils ruppigen, oberlehrerhaften, dabei aber verschmitzten und überaus gelehrten Nabokov aus den Vorlesungen oder aus der Autobiographie Erinnerung, sprich. Natürlich tauchen noch genügend Personen auf, die Nabokov kurzerhand als Idioten abstempelt, doch insgesamt stehen die Briefe im Zeichen einer Privatheit, die den Autor ohne Boxhandschuhe zeigt. Auf den ersten Blick erkennt man den scharfzüngigen Kritiker und brillanten Erzähler kaum wieder. Da Vladimir Véra logischerweise meist in Zeiten vorübergehender geografischer Trennung schreibt, nehmen viele seiner Briefe den Charakter eines Tagebucheintrags an.

Manche Briefe, gerade diejenigen aus weniger prekärer Zeit, haben trotzdem beinahe die Qualität kurzer Erzählfragmente. Ein Melancholiker mit einem Faible für Fahnenmasten, den Nabokov im Rahmen einer Vortragsreise kennenlernt, könnte eben auch eine Nebenfigur in einem seiner Romanen sein. Und wenn er davon schreibt, wie er bei einem Vortrag feststellt, dass er seine Notizen vergessen hat, werden diejenigen LeserInnen schmunzeln, die Pnin schon gelesen haben. „Das ist ja fast schon poetisch!“, kommentiert ein 24-jähriger Nabokov das, was er seiner Véra gerade schreibt. Die LeserInnen der Briefe werden spätestens bei der boshaft-liebevollen Beschreibung Prags zustimmen, wenn die Lichter der goldenen Stadt in einer Winternacht als „abgelutschte Punsch-Lollis“ beschrieben werden – oder wenn Nabokov seine unangefochtene Meisterschaft der effektvollen Parenthesen zeigt: Nach einem angeblich donnernden Lesungserfolg etwa kündigt er am Beginn des Briefes großartige Nachrichten an, erzählt den Tag dann aber widerstrebend chronologisch („ganz historisch“, wie Werther es nennt), jedoch nicht ohne in jedem Satz die Ankündigung der großartigen Nachricht in Klammern zu erwähnen. Ein literarischer Kniff, dem Brief einen Spannungsbogen zu verleihen – und die Rechnung geht auf, die begeisterte Hörerschaft der Lesung befreit sich aus den Klammern und überschüttert den jungen Poeten mit Applaus.

Die Beschreibung solcher Erfolgsmomente ist von einer Euphorie getragen, mit der man den krittelnden Perfektionisten und illusionistischen Schriftsteller Nabokov wohl nicht gerade verbindet. Man sollte aber nicht vergessen, dass auch die Briefe an Véra eine Bühne für Selbstinszenierungen sind, besonders für den jungen Nabokov. Ob tatsächlich alle Komplimente, die er auf Lesungen erhielt, von so stürmischer Natur waren, wie er es beschreibt? Ob die Entladung der Gewitterwolken wohl wirklich mit seiner eigenen poetischen Entladung zusammenfiel? Und ob die angebliche literarische Schwerstarbeit, die trotz 17-Stunden-Schichten nur 30 gelungene Verse Ertrag bringt, wirklich immer so beflissen und angestrengt war? Bei den amüsierten Beschreibungen von Dinners, Tennisspielen und Spaziergängen darf man daran zweifeln – was scheinbar zuweilen auch Véra getan hat: Zwar sind ihre Briefe nicht erhalten (sie hat sie lieber vernichtet, als sie veröffentlicht zu sehen), Nabokov muss sich aber des Öfteren verteidigen, nachdem ihm offenbar Müßiggang vorgeworfen wird.

Die Briefe sind, wie gesagt, ein Kosmos von Privatheit und Kleinigkeiten, ja es scheint fast so, als versuche Nabokov die großen Ereignisse der Welt auszuklammern. Lieber beschreibt er mit Hingabe, wie er in Amerika in der abendlichen Oktoberluft Schmetterlinge fängt. Nachdem Nabokovs Sohn, Dmitri, lesen gelernt hat, wird er in jedem Brief mit einer kleinen Coda aus Druckbuchstaben bedacht, häufig mit kleinen Zeichnungen phantastischer Flugzeuge oder rasender Lokomotiven begleitet. Die deutsche Ausgabe macht die typografischen Details und grafischen Bonbons der Briefe wunderbar sichtbar. Über Dmitri lernen wir nebenbei auch, dass er noch lieber als aus dem Gogol aus einem Superman-Comic vorgelesen bekam. Der Zweite Weltkrieg wird bei all dieser Herzlichkeit zu einer Sache der Nebensätze. Am D-Day dient die Landung an der Küste der Normandie nur als Vergleich für Nabokovs angeschlagenen Darm. Nabokov, dessen Biografie so stark von den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geformt wurde, war kein politischer Schriftsteller – und wie sich hier zeigt, auch kein politischer Briefeschreiber.

Trotzdem durchdringt das europäische Chaos die Briefe, besonders in den späten 1930er Jahren. Die (später bestätigten) Gerüchte einer Affäre Nabokovs belasten das Verhältnis des Ehepaares. Nabokov versucht, seine Familie nach Frankreich, in die vermeintliche Sicherheit zu holen. Geldsorgen bestimmen seine Briefe, zu allem Unglück kommen auch noch Zahnschmerzen dazu. Viktor, wie Nabokov sich als Geldverdiener nennt, versucht seinen Willen in der Ehe durchzusetzen, gibt fast herrische Anweisungen an seine Frau. Alle Briefe, von 1924 bis 1976, sind durchdrungen von stetig wiederholten Liebesbeteuerungen, man könnte ein ganzes Lexikon der Kosenamen aus ihnen zusammenstellen, doch hier gehen sie Hand in Hand mit Gereiztheit und Resignation. Nabokov gesteht sogar Selbstmordgedanken. Die Briefe an Véra ermöglichen einen Einblick in das Leben des Menschen Nabokov: in das Leben eines Intellektuellen und Schriftstellers, aber auch in ein Leben, das die dunkelsten Jahre des 20. Jahrhunderts bezeugt. Vollständig ausklammern lässt sich nicht, was die Nabokovs kreuz und quer durch Europa und schließlich in die USA treibt.

Scharfsinnig sezierende Auseinandersetzungen mit den Texten der Weltliteratur oder Nabokov in seiner Rolle als schulmeisterlichen Kritiker sucht man in diesen Briefen häufig vergebens. Wirklich wichtige Informationen zu den Entstehungskontexten der großen Romane werden durch die Briefe ebenfalls kaum zutage gefördert. Aufschlussreicher sind sie als Dokumente der eher unbekannten Lyrik Nabokovs, die es außerhalb des Briefwechsels auch nicht auf Deutsch zu lesen gibt. Die Übersetzungen sind ein netter Nebeneffekt der Briefausgabe und erinnern schmerzlich daran, dass die Übertragung der Poems & Problems im Rahmen der Gesammelten Werke nicht vorgesehen ist. Die Literatur, auch die eigene, wird in den Briefen an Véra seltener verhandelt als das Private, Alltägliche, sogar Banale. Lesenswert macht sie die Nabokov’sche Lust am Erzählen auch (oder gerade?) von unter der Feder vergrößerten Kleinigkeiten.

Nicht zuletzt der vorbildlichen Ausstattung des Bandes (stark orientiert an der Penguin-Ausgabe von 2014) ist es zu verdanken, dass man diesen Kleinigkeiten ohne große Vorkenntnisse nachgehen kann. Die zahllosen Anmerkungen schlüsseln Namen und literarische Anspielungen auf und erinnern (oder gemahnen) die LeserInnen an gewisse Ähnlichkeiten zu Nabokovs literarischen Arbeiten. Einleitende Worte der Herausgeber Brian Boyd (der unter anderem die maßgebende Nabokov-Biografie verfasst hat) und Olga Voronina (Übersetzerin der russischen Briefe ins Englische) führen behutsam an das 800-seitige Briefkonvolut heran. Ludger Tolsdorf hat die englische Übersetzung unter Berücksichtigung auch neuerer Befunde ins Deutsche übertragen. Eine sinnvoll strukturierte Zeittafel informiert über die groben Kontexte der Briefe, während das Register in fast absurder (aber sehr zu begrüßender) Penibilität angelegt wurde: Wer mag, kann zum Beispiel mühelos mit einem Blick alle Briefe finden, in denen Nabokovs Zähne erwähnt werden. Nabokov-Fans und -Philologen jauchzen, alle anderen fangen lieber weiter vorne in den Gesammelten Werken an. Bei „Für Véra“ – so viel Kitsch darf sein.

Titelbild

Vladimir Nabokov: Briefe an Véra.
Herausgegeben von Brian Boyd und Olga Voronina. Gesammelte Werke Bd. 24.
Übersetzt aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
1147 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783498046613

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