Großer Wurf

Das J.M.R.-Lenz-Handbuch sichtet systematisch bisherige Forschungsergebnisse und liefert neue Impulse

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 24. Mai 1792 wurde der 41-jährige Jakob Michael Reinhold Lenz auf einer Straße in Moskau tot aufgefunden. Derjenige, den Goethe 16 Jahre zuvor noch zu seinem legitimen Nachfolger bestimmt hatte, war in Deutschland längst in Vergessenheit geraten. Lenz werde, so hieß es ebenso lakonisch wie durchaus zutreffend in einem kurzen, anonym veröffentlichten Nachruf, „von wenigen betrauert, und von keinem vermisst“, hatte er doch als literarischer wie gesellschaftlicher Outsider den Kontakt zum literarischen Leben in Deutschland seit vielen Jahren gänzlich verloren. Das, was der „schweifende Wilde“, wie Lenz in seinem Gedicht „An meinen Vater“ vom Januar 1777 selbstreflexiv formuliert, geschrieben hatte, seit ihn sein Bruder Karl von Hertingen abgeholt und nach Livland zurückgeführt hatte, kannte man nicht, sodass bereits in den 1780er-Jahren in Deutschland das Gerücht herumging, er sei tot. Seine Wiederentdeckung aus den Niederungen der Fußnotenexistenz gelehrter Kompendien zur Goethezeit vollzog sich langsam und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein meistens durch Dichter. So erscheint Lenz etwa als Denker des Kreatürlichen und des Ver-Rückten in Büchners 1835 im Straßburger Exil verfassten Lenz-Erzählung oder – in der Re-Flexion des „Juden Klein“ auf den „Juden Groß“ – in Celans Prosa-Miniatur Gespräch im Gebirg (1959).

Goethes im 11. und 14. Buch von Dichtung und Wahrheit geäußertes vernichtendes Urteil, Lenz sei lediglich ein „vorübergehendes Meteor“ gewesen, beleuchtet auf exemplarische Weise die Unfähigkeit der Zeitgenossen, mit der besonderen Anziehungskraft der während einer knapp siebenjährigen, rauschhaften Schaffensphase zwischen 1770 und 1777 entstandenen Texte umzugehen, die mit dem psychischen Zusammenbruch des erst 26-jährigen Dichters und der Ausweisung aus Goethes Weimar endete. Auch wenn die Verherrlichung des ‚Originalgenies’ als Ur-Bild des höheren Menschen und Künstlers die Generation der etwa 20- bis 30-jährigen Autoren um Goethe, Herder, Klinger und Schiller prägte, empfanden die Mitstreiter die ekstatische Erscheinung des von geradezu selbstzerstörerischer Kompromisslosigkeit getriebenen und unter stets prekären äußeren Umständen lebenden Lenz in Straßburg und Weimar als eher unheimlich. Das Fragmentarische, Unfertige, aber auch Neuartige und gelegentlich Seltsame der Texte, die Rastlosigkeit, Vehemenz, Unruhe und wahnhafte Züge tragende Lebenssituation dieses Dichters werden nicht nur in der großen Zahl unterschiedlichster Texte und kaum ausführbarer Pläne deutlich, sondern auch in dem Umstand, dass Lenz keinen Platz in der Gesellschaft finden konnte. „Meine Gemälde“, schreibt der Dichter in einem Brief vom 14. März 1776 an Johann Heinrich Merck, „sind alle noch ohne Stil, sehr wild und nachlässig aufeinander gekleckt, haben bisher nur durch das Auge meiner Freunde gewonnen. Mir fehlt zum Dichter Muße und warme Luft und Glückseligkeit des Herzens, das bei mir tief auf den kalten Nesseln meines Schicksals halb im Schlamm versunken liegt und sich nur mit Verzweiflung emporarbeiten kann.“ In seiner posthum erschienen Besprechung von Goethes Götz von Berlichingen formulierte Lenz die anthropologische Maxime, der Mensch bleibe vermutlich nichts anderes „als eine vorzüglichkünstliche kleine Maschine, die in die große Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufte nennen besser oder schlimmer hineinpaßt“. Für seine äußerst prekäre Selbstwahrnehmung als Mensch und Dichter suchte Lenz nach einer „Lücke in der Republik“, in die er „hineinpassen“ konnte.

Heute ist Lenz’ Bedeutung als Entdecker und Kartograph von poetischem Neuland, als einer der Begründer des modernen Dramas, die hauptsächlich auf den sozialkritischen Dramen Der Hofmeister, Die Soldaten und Der neue Menoza beruht, unangefochten; zudem darf er mittlerweile auch als Autor von Erzählungen und wichtiger, innovativer theoretischer Schriften zur Kultur, Philosophie, Literatur und zum Theater (etwa die viel zu wenig beachteten kongenialen Anmerkungen übers Theater)als einer der wichtigsten Vertreter des Sturm und Drang angesehen werden. Lenz’ Experimente mit neuen literarischen Konzepten weisen in vielen Punkten auf moderne Schreibweisen voraus und haben der von Büchner, Hebbel, Grabbe und Wedekind geprägten modernen Dramatik neue Impulse gegeben. „Lenz reflektiert“, wie David Hill treffend bemerkt hat, „den gebrochenen sozialkritischen Optimismus desjenigen, der die Dialektik der Aufklärung am eigenen Leibe erfahren hat. Er reflektiert die Krise der Vernunft, er ist offen, er ist ‚postmodern’“.

Faszinierend war sein Ansatz, Tragisches und Komisches zu vermischen, den er auch theoretisch begründete und gegen die antike Tradition eines Aristoteles und dessen produktiver Fort-Schreiber (Lessing, Schiller) setzte.
 Von vielen großen Dichtern bewundert, teilweise auch nachgeahmt, kam es jedoch erst im 20. Jahrhundert zu einer kritischen Auseinandersetzung und Würdigung seines Werks – eine Rezeptionslinie, auf der sich eine illustre Ansammlung von Autoren/innen wiederfindet: Franz Kafka, der nach einer Aufzeichnung in seinem Tagebuch vom 21. August 1912 „unaufhörlich Lenz gelesen“ und sich aus ihm „Besinnung geholt“ hat, Ingeborg Bachmann, die in ihrer Büchner-Preisrede von 1964 bei Lenz „eine Konsequenz“ findet, an die sie mit ihrem eigenen Schreiben Anschluss findet, Paul Celan, dessen radikale In-Frage-Stellung des überlieferten Kunstverständnisses im Meridian („Die Kunst, das ist […] ein marionettenhaftes, jambisch-fünffüßiges […] kinderloses Wesen“) und dessen Konzeption des Dichters, „der nicht vergißt, daß er unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit spricht“, sehr stark an Lenz erinnert, oder auch Heiner Müller, der mit der Metapher der „Wunde“ auf die Verrückungen und Verstörungen anspielt, die von Lenz’ Dichtung bis heute ausgehen.

Teilweise parallel, teilweise mit zeitlich leichter Verschiebung zur literarischen Rezeption im 20. Jahrhundert entwickelte sich eine eigenständige, sehr produktive Lenz-Forschung, die die Vielfalt der literarischen und theoretischen Texte zu erfassen und den Dichter „als eine[n] der bedeutendsten Autoren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ zu verorten sucht, wie es 1991 im Vorwort zum ersten Lenz-Jahrbuch heißt. Bedeutsame Arbeiten aus den Jahren 1985 bis in die Gegenwart sind die Biographien von Sigrid Damm (1985) und Herbert Kraft (2015), zahlreiche Monographien, Dissertationen und mehrere Tagungsbände, das Lenz-Jahrbuch und nicht zuletzt die von Christoph Weiß zusammengestellten Werke in zwölf Bänden (2001), die Faksimiles der Erstausgaben der zu Lebzeiten von Lenz selbständig erschienen Texte erhalten, und die Editionen unveröffentlichter Texte (wie das von David Hill und Elystan Griffiths herausgegebene Berkaer Projekt und die von Heribert Tommek edierten Moskauer Schriften, beide 2007).

Diese bisherigen Forschungsleistungen zu bündeln und zu systematisieren, ist das große Verdienst des nun im Verlag de Gruyter erschienenen J.M.R.-Lenz-Handbuchs, das von drei ausgewiesenen Kenner/innen der Texte des Dichters, Julia Freytag, Inge Stephan und Hans-Gerd Winter, herausgegeben wird. Es fasst erstmals den bisherigen Forschungsstand zum Leben des Dichters zusammen und erschließt systematisch dessen Texte, sortiert nach Gattungen (Dramen und Dramenfragmente, Erzählungen, Lyrik, Theoretische Schriften, Briefe, Berkaer Schriften, Moskauer Schriften, Übersetzungen) sowie nach übergreifenden thematischen Aspekten wie Aufklärung, Religion, Glückseligkeit, Gesellschaftskritik, Emotionalität, Sexualität, Freundschaft, Selbstmord, wobei eine ausführliche Aufarbeitung des folgenreichen Verhältnisses zum ehemaligen Weggefährten und übermächtigen Konkurrenten Goethe natürlich nicht fehlt. Besonders hervorzuheben sind die sehr innovativen Beiträge zu ironischen (Maria E. Müller) und fragmentarischen Schreibweisen (Judith Schäfer) in den Texten des Dichters. Neben der Forschungsgeschichte gibt das Handbuch auch den verschiedenen Phasen der Lenz-Rezeption in Wissenschaft, Literatur, Kunst, Musik und Film Raum, deren Nachzeichnung als ausgesprochen gelungen bezeichnet werden darf.

Trotz einer durch sicherlich noch ausstehende Archivrecherchen und die nach wie vor fehlende historisch-kritische Ausgabe der Texte Lenz’ weiterhin im Fluss befindliche Forschung hat sich das von den Herausgeber/innen als „Risiko“ und „kühnes Unterfangen“ bezeichnete Unternehmen eines Handbuches vollauf gelohnt. Das Herausgeberteam und die einzelnen Beiträger/innen, zu denen ebenso namhafte Vertreter/innen der einschlägigen Forschung wie auch junge Autor/innen zählen, denen die Gelegenheit zur Vorstellung ihrer Forschungsarbeiten geboten wird, befreien Lenz aus der mitunter erdrückenden, weil einseitig ausgelegten Konfrontation mit Goethe. Durch die systematische Sichtung und Auswertung bisheriger Forschungsergebnisse, die Formulierung neuer Impulse und die Skizzierung neuer Forschungsaspekte wird ein frischer Blick auf Leben und Werk des Dichters in allen seinen Widersprüchen, seinem Facettenreichtum, seiner Vieldeutigkeit und Offenheit geworfen, das für die künftige Beschäftigung mit Lenz zweifelsohne eine wichtige Grundlage darstellen wird.

Titelbild

Julia Freytag / Inge Stephan / Hans-Gerd Winter (Hg.): J.M.R.-Lenz-Handbuch.
De Gruyter, Berlin 2017.
746 Seiten, 199,95 EUR.
ISBN-13: 9783110237603

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch