Pflichterfüllung und Lebensträume

J. Courtney Sullivan präsentiert in ihrem jüngsten Roman „All die Jahre“ eine Familiengeschichte mit Tiefgang

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang des Romans steht der Tod: Patrick Flynn, ein 50-jähriger Pub-Besitzer in Boston, stirbt im Jahr 2009 bei der nächtlichen Autofahrt nach Hause in betrunkenem Zustand. Damit bricht für seine Mutter Nora eine Welt zusammen. So innig war sie mit ihrem Ältesten verbunden, dass die anderen Kinder, als sie klein waren, dachten, sein Name sei „Meinpatrick“. Natürlich ruft sie als irische Katholikin pflichtbewusst nahe und ferne Verwandte zusammen, um die übliche Totenwache abzuhalten. Sogar ihre Schwester Theresa, die seit Jahrzehnten in einem Kloster lebt, erhält einen Anruf mit der Todesnachricht, obwohl zwischen den beiden seit vielen Jahren kein Kontakt mehr besteht.

Warum das so ist und wie die sonstigen familiären Beziehungen aussehen, erzählt die Autorin J. Courtney Sullivan in ihrem jüngsten Roman All die Jahre auf unterschiedlichen Zeitebenen und aus verschiedenen Blickwinkeln der Familienmitglieder. So schauen wir von Noras Vorbereitungen für Leichenschmaus und Trauerfeier zurück auf das Jahr 1957, als sich die damals 21-jährige gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Theresa per Schiff auf den Weg nach Amerika macht. Lust verspürt sie dazu keine, obwohl ihr Verlobter Charlie in Boston auf sie wartet. Doch natürlich erfüllt sie ihre Pflicht, so wie sie es als älteste Tochter seit dem Tod der Mutter immer getan hat. Auch die Ehe mit Charlie entspringt eher Pflichtbewusstsein als innigen Emotionen und erscheint umso unumgänglicher, als ihrer Schwester Theresa damit in den USA eine Ausbildung als Lehrerin ermöglicht wird. Doch in Boston kommt alles anders als erwartet. Während Nora mit fadenscheinigen Ausreden die Hochzeit immer wieder aufschiebt, verliebt sich Theresa Hals über Kopf und wird von einem verheirateten Mann schwanger. In dieser Situation kommt Nora zu einem folgenschweren Entschluss, der ihrer beider Leben bestimmen wird…

Was zwischen den Schwestern vorgefallen ist, erfahren wir von der Autorin nur häppchenweise im Verlauf des Romans. Ebenso verhält es sich mit den anderen Geheimnissen, an denen es in dieser Familie ebenso wenig mangelt wie an Kindern: Neben Patrick, dem verstorbenen Schwerenöter, gibt es da noch John, den Klugen. Er versuchte stets durch Wohlverhalten und Leistung die Liebe seiner Mutter zu gewinnen – und wählt dann bewusst ihr genaues Gegenteil als Ehefrau aus. Da ist Bridget, die nicht mädchenhaft und süß war und es nie gewagt hat, Nora von ihrer Homosexualität zu berichten. Und da ist Brian, der Kleinste, der als Einziger nach einer gescheiterten Baseballkarriere immer noch zu Hause wohnt.
Sie alle sind geprägt von einer Erziehung, die viel von harter Arbeit, strikter Disziplin und dem starren irischen Katholizismus, aber wenig von zwischenmenschlicher Kommunikation und spontanen Emotionen hält. An manchen Stellen des Buches ist dies so eindringlich beschrieben, dass mitunter Tränen der Wut oder auch ein Kloß im Hals  beim Lesen geradezu spürbar wird, insbesondere wenn man selbst in einem streng katholischen Haus aufgewachsen ist.

Dennoch wird die katholische Kirche und ihr Einfluss auf die beiden Schwestern keineswegs schwarz-weiß gezeichnet: So ist sie einerseits der Hort für Bigotterie, Kindesmissbrauch und Selbstverleugnung – andererseits aber zugleich eine Zuflucht für Menschen auf dem Weg zu sich selbst.

Auch bei den Protagonisten hütet sich Sullivan vor Klischees; vielmehr präsentiert sie diese in feinsinnigen Charakterzeichnungen, die auch kleinste Facetten der jeweiligen Person widerspiegeln. So verbirgt sich hinter der gestrengen Nora ein junges, träumerisches Mädchen, das nur in seltenen Momenten des Alleinseins zum Vorschein kommt. Die leichtfertige und lebenshungrige Theresa offenbart ihre mitfühlende Seite erst als praktizierende Ordensschwester – und selbst Charlie, der stets zu laute, einfältige Ehemann, erweist sich in einigen Momenten als liebenswürdig und empathisch. So überzeugen alle Charaktere durch Individualität und Authentizität. In Verbindung mit wechselnden Zeitebenen und Perspektiven, die jeweils eine neue Sicht auf die Vergangenheit und Gegenwart werfen, vermag es Sullivan, die Spannung in der Geschichte bis zum Ende aufrechtzuerhalten. Dazu trägt auch bei, dass sie es sich nicht nehmen lässt, immer wieder etwas Optimismus in den Beziehungen aufblitzen zu lassen, egal wie trostlos und verfahren sie zu sein scheinen. Trotz (oder wegen) seiner leisen Melancholie ist ihr ein flüssig geschriebener vielschichtiger Roman über eine komplexe Familiengeschichte gelungen.

Titelbild

J. Courtney Sullivan: All die Jahre. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Henriette Heise.
Deuticke Verlag, Wien 2018.
461 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783552063662

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