Vaterlandsliebe und Muttersprache

Fernando Aramburus erschütternder Familienroman „Patria“ erzählt von zerbrechenden Familien und Freundschaften im Zeichen des ETA-Terrorismus

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Akronym ETA steht für „Euskadi Ta Askatasuna“ und heißt übersetzt „Baskenland und Freiheit“. Als Schlachtruf und Programm der seit ihrer Gründung 1959 bis zum Waffenstillstand von 2011 für ein unabhängiges Baskenland kämpfenden gleichnamigen Organisation wirkt es wie ein Echo aus längst vergangener Zeit, die einem nur allzu gut in Erinnerung geblieben ist, da die ETA vor allem in den 1970er bis in die 1990er Jahre hinein immer wieder die Nachrichtsendungen beherrschte. Und doch scheint der zweite große Roman des im baskischen San Sebastián geborenen Fernando Aramburu, der seit 1984 in Deutschland lebt und sich bislang vor allem als Übersetzer und mit seinem 2000 erschienenen Roman „Limonenfeuer“ einen Namen gemacht hat, das Buch der Stunde zu sein. Denn „Patria“ erzählt am Beispiel zweier baskischer Familien von den idealistischen Wurzeln, brutalen Fliehkräften und zermürbend-zerstörerischen Auswirkungen einer Unabhängigkeitsbewegung.

Dabei zeichnet der Roman konkret den Konflikt der ETA mit der spanischen Zentralregierung nach, gleichzeitig fängt er aber auch die Symptomatik einer emotionalen, ideologischen und argumentativen Gemengelage ein, die die Grundlage solcher Konflikte ist. Um zu ermessen, wie aktuell der Roman trotz seines historischen Gegenstandes ist, muss man nicht einmal den Blick auf das ebenfalls nach Unabhängigkeit strebende Katalonien und die gegenwärtigen Ereignisse um den ehemaligen Regierungschef der autonomen Region, Carles Puigdemont, werfen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist voll von Unabhängigkeitsbestrebungen. Wenn das 19. Jahrhundert in Europa als Jahrhundert der großen Einheitsbestrebungen zu Nationalstaaten in die Geschichte eingegangen ist, so sind etliche europäische Staaten spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur von neuerdings anti-europäischen, sondern in der Vergangenheit und Gegenwart doch auch oft genug regionalistischen sezessionistischen Tendenzen betroffen. 

Die Angaben und Quellen über die genaue Zahl der während des ETA-Terrorismus Getöteten sind widersprüchlich – und es ist nicht die einzige unaufgearbeitete historische Baustelle, die das demokratische Spanien bis heute zu verschmerzen hat. Vielleicht ist es der Abstand zu seiner baskischen Heimat, der es dem im fernen Deutschland lebenden Aramburu ermöglicht hat, ein solch sensibles Thema ohne moralisch erhobenen Zeigefinger, Apologie oder Anklage – von welcher Seite auch immer – in Romanform zu bringen. Denn es handelt sich bei diesem Roman weder um einen politisch-ideologischen Kampf- noch um einen historischen Rechtfertigungstext, sondern um ein kunstvoll arrangiertes Familiengemälde in politisierten Zeiten, das nahezu die gesamten ETA-Jahre porträtiert.

In kurzen, insgesamt 126 Kapiteln wird aus wechselnden Figurenperspektiven und mit mancherlei Zeitsprüngen die Geschichte von Bittori, Miren und deren Familien erzählt. Bittori hat längst ihren Glauben an Gott oder ein (besseres) Jenseits verloren, hält aber dennoch regelmäßig auf dem Friedhof Zwiesprache mit ihrem Mann Txato, der bei einem Anschlag der ETA offenbar gezielt ermordet wurde. Alserfolgreicher Kleinunternehmer in seinem Dorf hatte er mehrere Drohungen und Aufforderungen, Schutzgeld zur Finanzierung der ETA zu bezahlen, erhalten, aber nicht darauf reagiert. Triebfeder für die Romanhandlung, im Zuge derer auch die Vergangenheit aufgerollt wird, ist Bittoris Krebsdiagnose und die Aussicht auf eine nur kurze Zeitspanne, die ihr noch zur Verfügung steht, um Klarheit darüber zu gewinnen, wer damals ihren Mann getötet, ihre Familie sprachlos und die Freundschaft mit Miren zerstört hat. Denn der Sohn ihrer Freundin Miren, Joxe Mari, war ETA-Sympatisant und sitzt seit dem Anschlag – allerdings ohne eine Geständnis abgelegt zu haben – im Gefängnis. Bittori kehrt also in ihr Dorf zurück, das auch einmal ihre Heimat und die Heimat ihrer Familie gewesen ist, und versucht, die Vergangenheit zu rekonstruieren.

Die immer wieder wechselnden Figurenperspektiven, die Dominanz von internen Fokalisierungen, die auch schon einmal unvermittelt und innerhalb eines Satzes in einen inneren Monolog oder eine (scheinbare) Ich-Erzählung abdriften, sind indessen nicht immer erzählerisch gelungen, was allerdings nicht der vorzüglichen Übersetzung des erfahrenen Willi Zurbrüggen anzulasten ist. Es ist nicht nachvollziehbar, was diese Art des Erzählens eigentlich leisten soll, wenn weite Passagen immer wieder und bruchstückhaft im dramatischen Modus präsentiert werden und damit im Grunde das Erzählen regelrecht verweigern. Das trifft ebenso auf Sätze zu, die unvermittelt nach dem Relativpronomen („es wurde gesagt, dass, gesprochen über“) abbrechen und den Leser ratlos zurücklassen oder Gespräche und Stimmen einfangen, die so offensichtlich an intersubjektiv nachvollziehbarem Kommunikationsverhalten vorbeigehen. Soll das Ganze im Stil und Duktus an den Dokumentarismus in der deutschen Literatur der 1970er Jahre erinnern? Oder versucht Aramburu, seinen großen Landsmann, den leider 2015 viel zu früh verstorbenen Rafael Chirbes, zu imitieren, dessen Romane sich auch durch eine – allerdings völlig anders aufgebaute – Multiperspektivität auszeichnen?

Bei aller Kritik ist die Erzählanlage aus verschiedenen Figurenperspektiven aber auch die Grundlage dafür, dass der Roman nicht nur eine Silhouette aus Opfer- und Täterfamilien konturiert, sondern auch die Zwischenbereiche emotionaler Betroffenheit, moralischer Verantwortung, familiärer Bindungen und ideologischer oder persönlicher Verblendung sichtbar werden lässt. Denn es kommt alles zur Sprache: Die Hilflosigkeit, Wut und Trauer der Angehörigen Txatos wie das Unverständnis von Mirens Familie angesichts brutaler Hausdurchsuchungen, Verdächtigungen und der Folter Joxe Maris im Gefängnis. Tatsächlich ist die Dramaturgie des Romans gerade nicht darauf angelegt, ob denn der Sohn von Bittoris Freundin direkt oder indirekt an der Tat beteiligt gewesen ist – das ist letztlich eine Frage, mit deren Beantwortung nur Bittori Frieden zu finden hofft. Dem Leser ist schnell klar, dass – so sehr die Beweggründe der Mutter und Ehefrau auch nachvollziehbar sind – die Klärung dieses Sachverhaltes gesamtgesellschaftlich eigentlich irrelevant ist, weil das Spannungsverhältnis von Individuum und Dorf-Gesellschaft, von Unabhängigkeitsbefürwortern und Verteidigern der nationalen Einheit über die Jahre hinweg nicht geringer geworden ist und die beiden Familien exemplarisch für unversöhnliche Geschichtsdeutungen und Ansprüche stehen.

Trotz der perspektivischen Vielfalt bilden die Mütter und ihre Sprache, ihre Sicht auf die Ereignisse den Roman und sind das Gegengewicht zum so (vermeintlich) männlich besetzten Thema der Vaterlandsliebe. Vor allem auf der Ebene der Kindergeneration mit den Geschwistern Xabier und Nerla, die – nicht zuletzt auch aufgrund der Mutter – keinen Weg gefunden haben, um ihren ermordeten Vater zu trauern, und den so unterschiedlichen Kindern von Miren, der im Rollstuhl sitzenden Arantxa, Joxe Mari und dem schwulen Gorka, werden Biographien greifbar, die in ihrem Handeln nicht entschuldigt zu werden brauchen, sondern die im Erzählen glaubwürdig werden und daher ein Stück spanischer Geschichte fiktionalisieren, das wohl sehr nahe an reale Verhältnisse heranreicht. Letztlich wird an Joxe Mari auch demonstriert, wie junge Männer auf der Basis idealistischer Vorstellungen von Freiheit und Selbstbestimmung verführt werden und – ohne es zu merken – in blinde Brutalität zur Durchsetzung dieser hehren Ziele abdriften. Im Gespräch mit Bittori zu Beginn des Romans versucht ihr Sohn Xabier, sie von ihrem Vorhaben, in ihr Heimatdorf zurückzugehen, abzubringen. Er sieht in ihrer Entscheidung den sinnlosen Versuch, alte Wunden zu schließen, die in der Spirale aus Vorwürfen und Vergeltung aber eher wieder aufzureißen drohen.

Man kann dem Buch viel vorwerfen, vor allem was die Gestaltung der Dialoge, seine ästhetischen Seiltänze und sprachlich-stilistischen Eigenheiten. Auch die Geschichte und die Geschichten der hier vorgestellten Familien berühren nicht in dem Maße, wie das etwa im Fall von Rafael Chirbes Romanen der Fall ist. Aber der Roman erschüttert den Leser, weil er sein Thema, die heute so omnipräsente Frage nach den Gründen für die Radikalisierung von Menschen, die eigentlich gar keinen Grund haben, gewalttätig zu werden und ihre Gewalt am Ende doch immer meinen, entschuldigen zu können, so minutiös seziert, ohne dabei zu moralisieren, zu richten oder zu verurteilen. Vom Ende des ETA-Terrorismus her betrachtet stehen sich wie bei anderen Konflikten auch immer zwei Positionen und Haltungen unversöhnlich gegenüber: Die einen wollen Amnestie, die anderen Gerechtigkeit. Alle aber wollen sie, wie die Familien von Bittori und Miren im Roman, vergessen, weil sonst die Zukunft nicht möglich ist. Vergessen kann aber niemand und Aramburus tut gut daran, dieses Dilemma nicht künstlich aufzulösen.

So liefert Patria auch keine Erklärungen oder Antworten auf die in der fiktionalen Welt von den Figuren gestellten Fragen, sondern erzählt nur von ihnen und von der Banalität der Brutalität und den Folgen von Gewalt. In der wohl schuldigen Figur des im Gefängnis sitzenden Joxe Mari klingt gleichzeitig ein über den konkreten Zeitbezug hinausweisendes Thema an, das den Roman bei aller historischen Genauigkeit grundiert und letztlich auch die einzige – wenn überhaupt nur implizit vorhandene – Botschaft des Textes markiert: Ideologisch-politischer Fanatismus entwertet alle noch so hehren und idealistischen Ziele. Am Ende bleiben nur ein vergeudetes und verspieltes Leben und eine verlorene Jugend zurück.

Titelbild

Fernando Aramburu: Patria. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
757 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001025

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