Eine in Prosa gegossene Nahtoderfahrung

Fee Katrin Kanzlers „Sterben lernen“ schildert die schrittweise Selbstfindung am Rande des Lebens

Von Maximilian LippertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Lippert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann man sterben lernen? Henry Jean-Toussaint Einstein scheint erst einmal lernen zu müssen, sein Leben glücklich zu leben. Seine Kindheitsträume von einer aufregenden Zukunft als Künstler oder Superheld, der Abenteuer erlebt, bei Nacht Menschenleben und die Welt rettet, endeten hinter Büroschreibtisch und Computerbildschirm. Mit fünfundzwanzig Jahren tauschte er seine Hip-Hop-Klamotten gegen Anzug und Krawatte ein, heute ist er leitender Angestellter der ortsansässigen Biolimonadenfirma und ein verheirateter, von einem Tinnitus geplagter Familienvater, während seine innersten Wünsche und großen Ambitionen im bürgerlichen Alltagstrott der Kleinstadt vor sich hindümpeln. In der Beziehung zu seiner Frau ist Henry seit längerer Zeit unglücklich, und auch seine Tochter tritt ihm gegenüber äußerst distanziert auf. Der bald vierzig werdende Einstein steckt mitten in einer handfesten Midlife-Crisis voller Frustrationen. Doch eines Tages begegnet er auf der Hochzeit eines Bekannten der gerade einmal fünfzehnjährigen Joe, die eigentlich Johanna Jantien heißt. Ihr Anblick wird ihn nicht mehr loslassen, ihre Bekanntschaft ihn wortwörtlich aus der Welt reißen, seiner tristen Welt, mit der er sich doch bereits abgefunden hatte – eine zunächst beiläufige, doch schicksalhafte Begegnung, die sein Leben auf den Kopf stellt.

Der Roman versucht von nun an, zwei Menschenleben narrativ zu durchdringen, indem er einerseits auf Henrys Werdegang zurückblickt und andererseits anekdotenhaft Joes Erwachsenwerden schildert. Stück für Stück lernt der Leser die beiden Figuren, ihre Lebensumstände, inneren Sehnsüchte und Ängste kennen. Das Mädchen mit den wirren Dreadlocks ist eine trotzige Teenagerin, ein typischer Außenseiter. Sie wuchs bei ihrer Tante auf, da die Eltern ein Waisenhaus in Portugal betreiben, ging von der Schule ab, um als Grabpflegerin ihr Geld zu verdienen, und schläft mit dem Kneipenwirt. Sie schwelgt gerne in Gedanken und will ungehemmt ihren Träumen folgen, raucht Marihuana und weiß bereits von sexuellen Erfahrungen mit einem Berliner Journalisten in einer Strandhütte zu berichten. Dabei hat sie das Leben und die meisten damit verbundenen Schwierigkeiten eigentlich noch vor sich. Die Rebellin ist nicht nur ihrem Auftreten nach, sondern auch mit all ihren Lebensempfindungen der Gegenentwurf zu Henrys bürgerlicher Existenz und gleichzeitig auch der Schlusspunkt derselben. Denn während Henry versucht zu klären, von welcher Art seine Beziehung zu Joe ist und wie er mit jenen noch nicht näher erläuterten fatalen Geschehnissen umgehen soll, wirkt er von Kapitel zu Kapitel immer mehr der Welt und den Lebenden entrückt und agiert als – ja, als was eigentlich?

Tatsächlich befindet sich Henry Einstein irgendwo zwischen Leben und Tod. Immerhin so viel ist klar: Henrys zeitweilig mysteriöse Existenzweise ist mit Joe auf merkwürdige Art verknüpft. Und auch die Hörner eines wildgewordenen Stiers sind schließlich mit im Spiel. Wie sich die Dinge darstellen und wie sie zueinander in Beziehung stehen, zu welcher Zeit und in welcher Realität die Geschichte aktuell spielt, erklärt sich dem Leser nur langsam und oft erst im Nachhinein. Sterben lernen lebt vom Rätselraten und den Fragen der Leser sowie den unerwarteten Wendungen der Handlung. Bei aller Verwirrung entwickelt sich mit dem Fortschreiten des Romans zudem noch eine weitere, surreal-apokalyptische Ebene. Nur beiläufig und in alltäglichen Situationen geschildert, bewegt sich der Planet langsam, aber sicher einer globalen Katastrophe entgegen, welche sich bereits in einer Hitzewelle und kuriosen Wettererscheinungen anbahnt. Dabei nimmt die erzählende Instanz eine merkwürdig hybride Position zwischen Auktorialität und Personalität ein, wobei ein nachdenklicher Ton und die Suche nach einem Sinn die Schilderungen von sowohl Henrys als auch Joes Gedankenwelt eint. Für Ersteren entpuppt sich die Geschichte als eine Lektion – nicht über das Sterben, sondern vielmehr über das Leben und das Verhältnis zur eigenen Persönlichkeit, eine Selbstfindung, zu welcher er erst an den Rand seiner Existenz gedrängt gelangen konnte.

Für ihr Zweitwerk wählte die Autorin Fee Katrin Kanzler eine griffigere Sprache als noch in ihrem Debüt Die Schüchternheit der Pflaume, das 2012 ebenfalls bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen ist und die Selbstbeobachtung der Protagonistin und Ich-Erzählerin in einem deutlich empfindsameren und gleichsam schwerfälligeren Ton erzählt. Sterben lernen basiert dagegen eher auf Fremdbeobachtung und dem Studium menschlicher Charaktere und schildert die Erkenntnisse auf eine humorvolle und leichte, manchmal auch sarkastische Art. Kanzler, die über die Lyrik zur Prosa kam, überzeugt mit poetischen Bildern und Vergleichen, unterhält mit phantasievollen Wortneuschöpfungen, welche die kurzen, blitzlichtartig eingeleiteten Kapitel benennen. Ihre dicht gewobene, sinnliche Prosa legt mittels detaillierter Beschreibungen einen starken Fokus auf Atmosphäre, die vielen abgebrochenen, unvollständigen Sätze schaffen eine mitreißende Dynamik, aus welcher der Leser durch oftmals schroffe Überblendungen dann wieder herausgerissen wird. Die Langenauer Autorin hat mit ihrem zweiten Roman einen weiteren Schritt in Richtung einer eigenen Erzählkunst getan und verbindet geschickt verschiedene Genres, wobei biographischer, Coming-of-Age- und Endzeitroman am Ende doch um die eine elementare Frage kreisen: Wie lässt sich ein gutes Leben leben?

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Fee Katrin Kanzler: Sterben lernen.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2016.
222 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783627002312

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