Der literarische Ahnherr der Wutbürger, die allgemeine Not der Welt und der Weg zur Eskalation

Zu Helmut Landwehrs neuer Ausgabe von Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas“

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sätze, die nicht enden wollen. Eine Begebenheit, die nach vorne gepeitscht wird, die zielstrebig auf ihr Ende zurast und doch mit jedem Schritt weiter ausgreift, verworrener wird, die Figurenfülle kaum bändigen kann. Die Erzählung von einem, der auszog, um das Fürchten zu lehren – nachdem er die Erfahrung einer Welt machen musste, die aus den Fugen gerät, und der anders als der zaudernde Dänenprinz nicht daran zerbricht, sie wieder einzurenken, sondern der die Welt in tausend Stücke brechen möchte, im Wahn, auf diesem Wege die verlorene Ordnung wiederherstellen zu können, was ihn schließlich auf das Schafott bringt. Eine Erzählung nicht zuletzt, die aus „einer alten Chronik“ entnommen ist, und trotz ihres Realismus des Einbrechens des Wunderbaren nicht entraten kann: Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas (1810) ist sicherlich die berühmteste Eskalation der deutschen Literaturgeschichte.

In seiner längsten Novelle, deren Atemlosigkeit und Hast modernen Lesern Schwindelgefühle zu verursachen imstande ist, erzählt Kleist von einer der berühmtesten Verbrechergestalten der Weltliteratur. Ganz anders als etwa der Protagonist in Friedrich Schillers Verbrecher aus Infamie, der stets ein Außenseiter und Verlierer war und durch seine prekäre soziale Stellung geradezu folgerichtig zum Verbrecher werden musste, ist Michael Kohlhaas ein erfolgreicher, ein „außerordentlicher Mann“, der „bis in sein dreißigstes Jahr für das Muster eines guten Staatsbürgers“ hätte gelten können. Er führt sein Gewerbe als Rosshändler aus, ist ein treusorgender Ehemann und Familienvater. Doch es ist ein eigentümliches Ding um das Menschengeschlecht, wie es sich Kleists scheinbar distanziertem, doch analytisch-bohrendem Blick darbietet. Die Wohlanständigkeit ist nicht die Fassade, sie ist das Komplement zum Grausamen und Verstörenden: Kohlhaas war, wie es in einer berühmten Wendung heißt, „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“.

Dieser Kohlhaas, dessen Name auch viele im Munde führen, die sich ansonsten selten auf das klassische Erbe der deutschen Literaturgeschichte berufen, ist eine zwiespältige Figur, was selbstredend seinem literarischen Nachruhm günstig war. War für Schillers Sonnenwirt das Verbrechen der letzte Ausweg, nachdem die Gesellschaft ihn längst missachtet und ausgestoßen hatte, macht Kohlhaas das „Rechtsgefühl […] zum Räuber und Mörder“. Im Allgemeinen ist Kohlhaas mit sich und den Dingen im Reinen, er hat kein „bitteres Gefühl, als das der allgemeinen Not der Welt“. Wegen einer vergleichsweise geringfügigen Angelegenheit – zwei seiner Pferde werden aus fadenscheinigen Gründen an einer Grenze festgehalten, zur Landarbeit missbraucht und schlecht gepflegt – strengt Kohlhaas einen Rechtsstreit an. Nicht allein, um eigenes Unrecht auszugleichen, sondern stets mit der Perspektive auf die allgemeine Ordnung. Er ist sich sicher, dass „er mit seinen Kräften der Welt in der Pflicht verfallen sei, sich Genugtuung für die erlittene Kränkung, und Sicherheit für zukünftige seinen Mitmenschen zu verschaffen“. Doch er legt sich mit einem verwandtschaftlich weit verzweigten Gegner an, der allerlei juristische Klüngeleien verübt, bei denen Kohlhaas stets das Nachsehen hat. Das freilich empört das Rechtsgefühl des außerordentlichen Mannes derart, dass aus dem Wutbürger ein fürchterlicher „Mordbrenner“ wird, der mit einem rasch anwachsenden Fähnlein anderer Aufrechter (bald aber auch zwielichtiger Figuren) sich aufmacht, um Selbstjustiz zu verüben. Dabei verliert er jedes Maß. Er wird zum Terroristenführer, sein Rachefeldzug ist verheerend und fordert zahlreiche Opfer (nur den, auf den sein Zorn sich eigentlich richtet, erwischt Kohlhaas nie). Mehrfach steckt er Wittenberg in Brand, so dass sogar der große Doktor Martin Luther eingreifen und versuchen muss, den Wüterich zur Räson zu bringen.

Ein eher nichtiger Anlass weitet sich aus bis hin zur großen Verwüstung und hat Auswirkungen bis in höchste politische Kreise. Die Fabel, die Kleist aufgreift und ausspinnt, bietet ein Lehrstück darüber, wie das Beharren auf Gerechtigkeit einerseits, der systemische Missbrauch von Rechtsmitteln andererseits in die Katastrophe führen können. Wo sind die Grenzen von Recht und Unrecht? Wie lässt sich die Ordnung, einmal durch menschliche Verfehlungen ins Wanken geraten, wieder herstellen? Was hat es mit der geheimnisvollen Prophezeiung der Zigeunerin auf sich, welche Funktion hat dieses Handlungselement und damit verbunden der Einbruch des Wunderbaren überhaupt in einem ansonsten so nüchternen Text? Einfache Antworten enthält Kleist seinen Lesern vor, er zwingt sie vielmehr, in bester kantischer Manier, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen.

An brauchbaren Ausgaben dieser Jahrhundert-Novelle ist kein Mangel. Nun hat Helmut Landwehr den Text im Rahmen der Reihe „Erlesenes Lesen“ im Kröner Verlag herausgegeben, die kanonische Klassiker in schönen und liebevoll gestalteten Editionen bietet. Die Anmerkungen und Landwehrs hilfreiches Nachwort bieten wertvolle Erläuterungen sowie Kontextualisierungen und führen profund in den Text ein. Es ist ein literaturkritischer Topos, und muss dennoch gesagt werden: Kleists Text hat an Aktualität nichts eingebüßt. Seine erzählerische Verve ist nicht nur im frühen 19. Jahrhundert einzigartig, seine juridisch-anthropologische Versuchsanordnung, mag sie auch auf einer Fallgeschichte aus dem 16. Jahrhundert beruhen, bietet ein Reflexionspotenzial, das auch heutigen Lesern Anregungen bietet, Abgründe auszuloten. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut – ganz recht. Manchmal wird er über einem solchen Vorhaben aber auch zum Mordbrenner.

Titelbild

Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas.
Herausgegeben, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Helmut Landwehr.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2017.
192 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783520861016

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