Showdown an der Alster

Bohème auf der Heide: Alice Schmidts Tagebücher der Jahre 1948/49 zeugen von Problemen deutscher Autorschaft nach dem Zweiten Weltkrieg

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lizenz zum frühen Ruin

Warum wird jemand Schriftsteller? Bestimmt nicht, um ein sicheres Auskommen zu finden. Wahrscheinlicher ist in diesem Metier der frühe Ruin. Von dieser Gefahr zeugen Alice Schmidts Tagebücher 1948/49. Ihr Ehemann Arno, der als gefeierter Geheimtipp für Literaturnerds fast bis zu seinem Lebensende im Jahr 1979 unter notorischer Geldnot leiden sollte, schloss 1948 seinen ersten Vertrag mit dem Rowohlt Verlag ab. Maßgebliche Grundlage des geschäftlichen Übereinkommens war Schmidts Debüt „Leviathan“, eine pessimistische Erzählung über das Ende des Zweiten Weltkriegs, die hochtrabende mathematische Spekulationen mit der gnostischen Anklage eines bösen Gottes verbindet. Nach seinem Erscheinen im Herbst 1949 begründete der Text Schmidts Ruhm. Fortan galt der Autor als führender Nonkonformist der frühen deutschsprachigen Nachkriegsliteratur.

Dies war 1946 jedoch noch keineswegs absehbar. Ohne absolut sicher auf sein zeitnahes Debüt bei Rowohlt zählen zu können, vor allem aber ohne den blassesten Schimmer, wie man sich als Schriftsteller angesichts karger Verlagsvorschüsse finanziell über Wasser halten kann, entschied sich Schmidt Hals über Kopf, fortan als freier Autor zu arbeiten. Bereits im vollen Nachlassbewusstein, aber noch so gut wie ohne Werk, gab der Künstler seiner Frau den Auftrag, ihren gemeinsamen Alltag in einem Tagebuch festzuhalten.

Das nunmehr der Öffentlichkeit vorliegende Ergebnis darf man zu den frappierendsten Dokumenten der literarischen Nachkriegs-Bohème zählen. Nicht zuletzt aus feministischer Sicht: Alice Schmidt schrieb kaum auf, was sie in jenen Jahren selbst bewegte. Herausgeberin Susanne Fischer formuliert in ihrem Vorwort, die Autorin habe neben ihren praktischen Tätigkeiten als Hausfrau und Sekretärin ihres Gatten vor allem die Aufgabe übernommen, „ihren sensiblen Mann in dieser unübersichtlichen Situation psychisch zu stützen. Sie nahm sie an.“ Bei der Lektüre ihrer Tagebücher ist unschwer zu erkennen, wie hart diese Zeit vor allem für Alice Schmidt gewesen sein muss.

Die deutsche Sehnsucht nach einem Leben im Bunker

Um die bizarren Ereignisse zu verstehen, die sich damals in dieser Ehe abspielten, muss man sich zunächst die Ausgangslage des Paars vor Augen halten. Nach der Entlassung Arno Schmidts aus der britischen Kriegsgefangenschaft in Munster, einem gigantischen Durchgangslager für 1,7 Mio. Wehrmachtsoldaten, arbeiteten die Eheleute bis November 1946 als Dolmetscher in einer von der englischen Besatzungsmacht eingerichteten Hilfspolizeischule in Benefeld.

Die Schmidts lebten zu dieser Zeit in einer eiskalten Einzimmer-Flüchtlingswohnung im Mühlenhof in Cordingen, einem winzigen Kaff in der Lüneburger Heide. Nebenan im Wald lag die Eibia GmbH, ein getarntes Riesenareal der NS-Rüstungsindustrie, dessen Bunker die Briten bis 1950 sukzessive sprengten. Wie nicht anders zu erwarten, geschah dies unter dem Gemaule der deutschen Einwohner, welche die Demontage als sinnlose Vernichtung moderner Produktionsstätten wahrnahmen. Darunter auch das Ehepaaar Schmidt, das sich 1948 nichts Besseres vorstellen konnte, als in der ehemaligen Telefonzentrale der Eibia, Bunker B 1107, zu wohnen. Als die beiden erfahren, dass ihr Wunschdomizil gesprengt werden solle, notiert Alice: „Sind ganz niedergeschlagen & beraten, ob wir irgend einen Versuch zur Erhaltung (für uns zum drin wohnen) machen könnten. Kommen aber zum Entschluß, daß doch zwecklos. – O diese verrückte Welt! – Oh!!“

Der damals noch unmittelbare historische Hintergrund der Sprengungen spielt in dem Tagebuch Alice Schmidts in zeittypischer Weise keine explizite Rolle: Ab 1942 hatten vor allem ZwangsarbeiterInnen in der Eibia Schießpulver produzieren müssen, darunter 600 jüdische Frauen aus Polen, die aus Auschwitz deportiert wurden, als das Cordinger Lager Sandberg zu einem Außenlager des KZs Bergen-Belsen erklärt worden war. Genau dort, auf dem Territorium dieses Lagers, befand sich 1946 die Hilfspolizeischule, in der Arno und Alice Schmidt dolmetschten. Viele Orte in der Umgegend prägten die Topographie der frühen Kurzromane Schmidts, vor allem „Aus dem Leben eines Fauns“ und „Schwarze Spiegel“.

Pilze suchen und dieselmäßig Heringe zubereiten

Bis auf spärliche Zahlungen des Rowohlt Verlags ohne jedes Einkommen lebten die beiden hauptsächlich von den Care-Paketen, die Arno Schmidts Schwester Lucy Kiesler alle paar Wochen aus den USA schickte. Das Ehepaar kalkulierte sein monatliches Existenzminimum auf 60 DM und ging täglich in den Wald‚ um Pilze zu suchen. Auf dem Speiseplan standen hauptsächlich Kartoffeln und, falls verfügbar, „dieselmäßig“, also im Akkord, selbst zubereitete Heringe und Rollmöpse. Oft wurde aber schlicht gehungert: „Geg. 18,30 kommen wir erst zum Mittagessen, das, wie gewöhnlich, gleichzeitig unsere 1. Tagesmahlzeit war, denn zum Frühstück erlauben reichts natürlich immer noch nicht & durch langes Schlafen, wie wir’s tun, kann man diese Mahlzeit ja auch gut einsparen.“

Wie Alices Eintragungen zu entnehmen ist, beschwerte sich ihr Mann regelmäßig über den „elenden Fraß“ und litt insbesondere unter dem Mangel von Alkohol. Falls billiger Fusel greifbar war, tranken die Schmidts gerne auch schon am frühen Morgen und auf nüchternen Magen, um die Wirkung der kostbaren Gaben strategisch zu erhöhen. Hier und da gab es aber auch schon einmal ein wahres Festmahl: „A begeistert vom Mittagessen: ‚So gut wie das, hat mir im Leben nicht viel geschmeckt.‘ (gebackenen Kartoffelauflauf mit Mettwurst, Pilzen & Zwiebeln; Rhabarbergrütze & Vanillesoße).“

Die Eheleute vertreiben sich die Zeit mit täglichen Vorlesungen und der gemeinsamen Kritik kanonischer Texte von Fontane („kein Dichter; nüchtern; Provisornatur“) bis Cooper („Spannend, spannend. Diese Indianer !“). Gustav Freytags antisemitischer Bildungsroman „Soll und Haben“ kommt dabei besonders gut weg: „Freytag ein redlicher Mann & viel besser als er heute eingeschätzt wird.“

Ansonsten bestehen die Tage der Eheleute in der Regel aus einem stundenlangen Mittagsschlaf, dem beruhigenden Sammeln von Pilzen und Arno Schmidts fortwährendem Hadern mit seinem Schicksal. Sein Alltagsgebaren gleicht dem eines Manisch-Depressiven. Unter Alkoholeinfluss neigt er zudem zu Größenwahn. „A. über Leviathan: …so etwas existiert in der Weltliteratur noch nicht. – Ich habe nicht für diese Zeit sondern für die Ewigkeit geschrieben, 100 Jahre später wird man mich erst würdigen, meine Zeitgenossen werden dies nicht tun.“

Über seine erst posthum publizierten Juvenilia, aus heutiger Sicht eher mediokre frühe literarische Versuche im Geist der Romantik, die Schmidt zur Zeit des „Dritten Reiches“ für die Schublade entwarf und an denen er in Cordingen weiter arbeitete, notiert er: „Klar, die kommen mit Tieck & Hoffmann-Sachen mit, auch goldenen Topf. Die sind auch unsterblich.“ An dieser Stelle findet sich übrigens eine der wenigen persönlichen Einschätzungen Alice Schmidts, die nach wie vor in der Lage ist, die Situation nüchterner zu beurteilen, wenn auch mit einem bemerkenswert unkritischen Zusatz: „A ist ganz schön duhn. – prima!“ 

Verlegerhass und Selbstmordgedanken

Kommt morgens einmal keine Post an, rastet der unerfahrene Autor sofort aus. Alice notiert über diese kaum nachvollziehbaren Ausbrüche: „A’s Nervenzustand ist schrecklich.“ Sie zitiert ihren Ehemann weiter: „Dauerte nicht mehr lange & er würde wahnsinnig.“ Oder: „Arno hat Angst, Leviathan wird gar nicht erscheinen & [es wird] inzwischen Krieg geben.“ Neben dieser seltsam egoistischen Weltuntergangsvision, in der das Hauptproblem nicht etwa der Tod unzähliger Menschen zu sein scheint, sondern dass die Schriftstellerkarriere Schmidts ein vorzeitiges Ende finden würde, quält der Autor seine Frau mit den irrsinnigsten Racheplänen gegenüber seinem Verlag, deren Umsetzung tatsächlich das sofortige Ende seiner Autorschaft bedeutet hätte: „A wieder tief niedergeschlagen & wetternd auf Lump Rowohlt.“ Schwankend zwischen Loyalität und Skepsis gegenüber ihrem durchgeknallten Ehemann, macht sich Alice dieses Ressentiment gegen den ‚Verbrecher-Verlag‘ Rowohlt manchmal aber auch zu eigen, wenn sie etwa über ihren Gatten, genannt „Nödel“, schreibt: „Was hätte er machen können & könnte er noch tun – dieser verfluchte Rowohlt ! –“.

Dauernd will Arno Schmidt in jenen Jahren bereits alles wieder hinschmeißen, bis hin zum eigenen Leben – in expliziten Suizidphantasien: „Todesgedanken häufen sich.“ Litt der Kriegsveteran etwa an der Soldatenkrankheit, die wir heute posttraumatische Belastungsstörung nennen? Derartige Ferndiagnosen müssen in der Rückschau reine Spekulation bleiben. Eigenen Angaben nach war Schmidt ganz einfach so: „Ich bin ein typischer Hypochonder“, zitiert ihn seine Frau an einer Stelle. „Wenn ich’s britische Museum & Bibliothek besuchen wollte müßte London für den Tag evakuiert werden.“ Weitere Belege für diese Exzentrik liefern die Tagebücher zuhauf, zum Beispiel beim Haareschneiden. Dabei schreit der Ehemann „trampelnd: ‚kein Wasser in die Ohren, sonst verliere ich das Gleichgewicht!‘“ Der Umgang mit diesem Choleriker bleibt für seine Frau eine alltägliche Gratwanderung. Wenn Alice nicht auf ihn hört, teilt er ihr mit, dass er „in Eisenbahnschienen beißen könnte vor Wut“.

Nachwirkungen des Nationalsozialismus

Beim lauten Vorlesen der in Dantes „Inferno“ erwähnten Martern, die Arno Schmidt seinerzeit in seiner fiktiven Briefsammlung, der erst posthum veröffentlichten „Wundertüte“, verarbeitete, beobachtet Alice, dass sich ihr Mann die Blätter dicht vor sein Gesicht hält: „Ich sehe aber doch, dass er weint. Muß dieser Dante ein Reptiel [sic!] gewesen sein!“

Anzunehmen ist, dass der wahre Anlass dieser Erschütterung Schmidts keineswegs Dante Alighieris Höllenszenarien, sondern die Gräuel des Zweiten Weltkriegs waren, als deren Chiffre die Beschreibungen des italienischen Dichters in Schmidts fiktivem Dankbrief explizit dienen sollten, in dem der Autor in die Rolle eines nationalsozialistischen Christen schlüpft, der dem mittelalterlichen Dichter wegen seiner effektiven Erfindungen huldigt. Adressierte Schmidt seine Schreiben doch an „Herrn Dante Alighieri / Berlin / Reichssicherheitshauptamt / Abt.: Einrichtung von Lagern.“ Und weiter: „Nie werden die Denkmale Ihres reichen Geistes – Auschwitz, Dachau, Buchenwald, Belsen – im Gedächtnis der Nachwelt untergehen! Sollte man diese auch dereinst schließen, werden doch ihre genialen Anregungen immer wieder anderswo auf empfänglichen Boden fallen und stets auf’s Neue zeugen von dem, was Menschengeist vermag!“

Schmidt hätte vielleicht eher über die Durchschaubarkeit seiner eigenen poetischen und ahistorischen Schuldprojektion weinen sollen. In jedem Fall sind die zitierten Verallgemeinerungen der NS-Gräuel zum ewigen Menschheitsverhängnis aus dem Geiste christlicher Höllenvisionen, wie sie sich in Schmidts „Wundertüte“ finden und von ihm damals in Cordingen entworfen wurden, irreführend: Nicht Dante war hier das Reptil, sondern schlicht jenes zeitgenössische Kollektiv von KZ- und Völkermördern, zu dem Schmidt bis zu seiner Kriegsgefangenschaft als Wehrmachtssoldat zumindest auf dem Papier nominell selbst gehört hatte. Sogar Martin Walser schrieb 1965, angesichts des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, einmal kritisch in Hans Magnus Enzensbergers „Kursbuch“ über solche Dante-Vergleiche, die damals auch in der Presse Konjunktur hatten und schon allein deshalb vermessen gewesen seien, weil in Dantes Hölle Schuldige ihre Sünden büßten, die Opfer des Holocaust aber bekanntlich nichts verbrochen hatten: „Auschwitz mit Dantes Inferno zu vergleichen ist fast eine Frechheit, falls nicht Unwissenheit mildernd ins Feld geführt werden kann.“

Der Literaturwissenschaftler Axel Dunker ist in seiner Habilitationsschrift „Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz“ (2003) auf die zitierte Tagebuchstelle bei Alice Schmidt eingegangen, die der Forschung bereits seit Bernd Rauschenbachs 1989er Edition der „Wundertüte“ und dem dortigen Nachwort des Herausgebers bekannt war. Auch Dunker arbeitet heraus, wie typisch Schmidts Dante-Vergleich für die Nachkriegszeit generell war, verweist auf weitere Verarbeitungen des Topos in Schmidts „Leviathan“ und in seinem Kurzroman „Aus dem Leben eines Fauns“ und vermutet, die Kopplung der KZs mit Schmidts Dante-Lektüre habe mit der zeitlich noch sehr nahen Bindung an die Aufdeckung der Taten in den Lagern und dem Bewusstsein zu tun gehabt, „als Soldat eine gewisse Mitschuld zu tragen“, was die „hohe emotionale Betroffenheit“ Schmidts erklären könne. 

In den Tagebüchern wird das Trauma der Kriegserlebnisse beider Ehepartner jedenfalls immer wieder deutlich. „Seit heute Nacht scheint stundenweise ein Teil der Luftbrücke über uns zu gehen“, mutmaßt Alice Schmidt 1948. „Unangenehme Erinnerungen, diese 4-motorigen!! Vor 4 Jahren warfen sie Bomben, jetzt Care-Pakete !!! –“. Mit anderen Worten: Das SPD-Wähler-Ehepaar nahm sich wie die meisten ihrer Zeitgenossen vor allem als Opfer des Zweiten Weltkrieges wahr.

In Alice Schmidts Eintragungen fallen aber auch verstörendere, explizite Anklänge der nationalsozialistischen Rassenideologie auf. Voller Neid auf eine Nachbarsfamilie, die ihre Auswanderung nach Kanada vorbereitet, notiert sie: „Ja dummes & fettes Halbpolenpack, aber Glück!“ Es ist anzunehmen, dass solche Ressentiments im stillen Einverständnis Arno Schmidts aufgeschrieben wurden. Und richtig: In einer handschriftlichen Beilage zum 1948er-Tagebuch, Arno Schmidts Gedicht „De Reis no Falling“, das im Anhang der Edition abgedruckt ist, findet sich die Skizze einer Warteschlange von „20 Zeitgenossen“ am Büro zur Abholung der Care-Pakete in Fallingbostel: „Mit alten Weibern, Jugoslawen, Polen, / das ganze Kropzeug mag der Teufel holen!“

Zudem bescheinigt Alice Schmidt Kurt Marek, dem Rowohlt-Lektor ihres Mannes, ein „ziemlich breites ostisches Gesicht“, womit sie bedenkenlos auf den NS-Terminus für eine der europäischen „Hauptrassen“ zurückgreift. Anzunehmen ist, dass den Schmidts der bleibende Einfluss der NS-Ideologie auf das eigene Weltbild zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht in vollem Umfang bewusst geworden war. Dies führte mitunter zu nicht anders als grauenhaft zu nennenden Fehlleistungen, die aus NS-Sicht jedoch einfach die rationale Begründung des Holocaust ausmachten, eine fanatische Hygiene-Logistik, die für die Deutschen spätestens ab 1939 zu einem unhinterfragbaren Sachzwang geworden war: Als im Mühlenhof einmal Wanzen bekämpft werden sollen, spricht Alice Schmidt über Seiten unbekümmert von einer „Vergasung“ (Fußnote der Editorin Susanne Fischer: „Recte Begasung“). Frappierenderweise entpuppt sich am Ende auch noch der Mann, der das Ganze in der Wohnung der Schmidts und denen der Nachbarn durchführt, der ehemalige Eibia-Diplom-Ingenieur Hoffmann, „als alter Nazi“. Alice Schmidt fügt ebenso vielsagend wie lapidar hinzu: „Natürlich.“

Karierte Reden und kathartische Alkoholexzesse in Hamburg

Erstaunlich ist, wie wenig der angehende Autor Schmidt seinerzeit seine Chancen erkannte. In vollkommener Verkennung seiner außerordentlich glücklichen Lage ist er gegen einen Vorabdruck des „Leviathan“ in der „Zeit“. Ohne zu ahnen, dass ihm für so eine Veröffentlichung ein ansehnliches Honorar zusteht, hält er die Publikation eines solchen Auszugs für eine Verstümmelung seines Werks, die er untersagen möchte. Alice Schmidt versteht dagegen sofort, wie wichtig eine solche Publicity wäre. Das Ergebnis sind einmal mehr „karierte Reden“ ihres Gatten, die in einen psychotischen Koller münden: „Doch A knirscht mit den Zähnen, verzerrt das Gesicht, ballt Fäuste, beschuldigt mich der Verräterei; würde Ro[wohlt] helfen und immer gegen ihn sein & da klingts in seiner Stimme fast wie Weinen in rasender Wut & ich bin wirklich in Angst, daß er einen Tobsuchtsanfall kriegt & wende mich still ab.“

Am Ende wird aber doch noch einmal alles gut. Höhepunkt der Notate ist Alice Schmidts dramatische Beschreibung eines Verlagsbesuches bei Kurt Marek und Ernst Rowohlt in Hamburg. Hier nimmt der Text plötzlich Tempo auf. Zunächst fährt Arno Schmidt mit dem Alsterdampfer zu Marek, um ihn in dessen Wohnung aufzusuchen. Schmidt findet seinen Lektor „in einem wunderschön eingerichteten Zimmer mit Polstermöbeln & Felldiwan sich mit Bier seinen ‚schweren Kopf‘ von der verg. Nacht kühlend.“

Zur Verblüffung des unterernährten Ehepaars wird ihm vom Verlag ein Hotelzimmer gestellt. Nach dem Bezug des Zimmers bittet Ernst Rowohl zum Abendessen. Man einigt sich „auf Brühe mit Ei, Roastbeef, Kart[offeln], Bohnen Schnäpschen & helles Bier“. Der Verleger entpuppt sich bei dieser Gelegenheit als akrobatischer Trinker, der zu Zeiten der #Metoo-Debatte einen schweren Stand gehabt hätte. Selbst die viel gewöhnte Tagebuchschreiberin wird beim gemeinsamen Restaurantbesuch deutlich: „Ro. Tat recht vertraut tätschelnd mit der uns bedienenden Kellnerin & gebrauchte einige recht derbe Ausdrücke & fragte mich, ob ich sehr empfindlich wäre. Versicherte ihm: nein gar nicht, sie gefielen mir aber keineswegs.“ Rowohlt prahlt zudem damit, die Texte seiner Autoren nie zu lesen, bevor sie gedruckt seien. „A: so hab ich mir das vorgestellt, daß der Verleger die Bücher nicht liest.“

Der skurrile Abend voller gegenseitiger Sticheleien endet in Rowohlts Wohnung, in einem wüsten Besäufnis mit Kognak und Gin. Während die Männer weiter hart verhandeln, bricht Alice Schmidt betrunken zusammen. Ihr Mann muss sie ins Hotel schleifen, wo sie sich im Aufzug erbricht: 5 DM Strafe. Doch so katastrophal der Ausgang dieser Geschäftsreise für die Beteiligten zunächst auch ausgesehen haben mag, er erbrachte wesentliche Verbesserungen der Schmidt’schen Verlagsbeziehungen und seiner finanziellen Lage.

Kurz: Die Entstehung eines der wichtigsten Werke der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur begann als eine Abfolge unkalkulierbarer Kollidier-Eskapaden. Bloße Zufälle verhinderten, dass dies alles vorzeitig endete. Es bleibt dabei: Die Biographie Arno Schmidts funktioniert nicht als Kontinuum. Sie bleibt auch nach der Lektüre dieser Dokumente voller Widersprüche und Rätsel. Nach den von Susanne Fischer, der Geschäftsführerin der Arno Schmidt Stiftung in Bargfeld, bereits vorbildlich edierten Tagebüchern Alice Schmidts der Jahre 1954, 55 und 56 ist der vorliegende Band zu den Jahren 1948/49 für die Erhellung dieses Mysteriums dennoch von besonderem Interesse. Er führt seine Leser zurück zum Anfang der Karriere eines einzigartigen Autors, dessen Vita noch lange nicht erschöpfend erforscht worden ist.

Anm. der Red.: Eine gekürzte Version der Rezension erschien bereits am 9. April 2018 in der „taz“.

Titelbild

Alice Schmidt: Tagebücher der Jahre 1948/49. Herausgegeben von Susanne Fischer. Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
215 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783518804209

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