Walfang, Mord und Meuterei

Ian McGuires existentialistischer Abenteuerroman „Nordwasser“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Genre des historischen Romans ist – auch wenn das bei einem Blick in einschlägige Regale vieler Buchhandlungen nicht unbedingt so wirken mag – ein äußerst vielseitiges und facettenreiches. Diese These untermauert ein aktuelles Buch auf nachhaltige und äußerst eindrucksvolle Weise: Nordwasser von Ian McGuire. Darin geht es vordergründig um den Walfang im Nordpolarmeer, es ist also auch ein veritabler Abenteuerroman – und noch viel mehr. McGuire hat ein wahrlich bemerkenswertes Personal zusammengestellt, angefangen mit Henry Drax, einem Harpunierer, der auf der Volunteer angeheuert hat. Dann ist da Patrick Sumner, von Beruf Militärarzt, der verletzt aus Indien zurückkehrt – traumatisiert und unehrenhaft entlassen. Er braucht dringend einen Job, am besten einen bequemen, der ihm seine Drogensucht finanziert. Die Stelle auf der Volunteer scheint ihm, der von Schifffahrt und Walfang keine Ahnung hat, passend zu sein. Sein direkter Vorgesetzter ist Arthur Brownlee, der Kapitän, ein erfahrender Seemann, der allerdings nicht immer Glück hatte und somit nicht frei von Anfeindungen ist. Hinter ihm steht der Reeder Baxter, ein undurchsichtiger und geldgieriger Mann, der offenbar erkannt hat, dass die Blütezeit des Walfangs vorbei ist.

Wir schreiben ungefähr das Jahr 1859 (Sumner hat Kapitän Brownlee von seinen Erlebnissen während des Sepoyaufstandes 1857 in Indien erzählt), noch hat sich die Dampfschifffahrt in diesem Gewerbe nicht durchgesetzt, doch der technische Fortschritt kündigt sich bereits an. In Hinterzimmergesprächen hat Baxter seinen Kapitän offenbar gegen dessen anfänglichen Widerstand zu einem menschenverachtenden Plan überredet, es wird wohl Brownlees letzte Fahrt werden. Man läuft von der nordenglischen Grafschaft Yorkshire aus und nimmt Kurs auf die Baffin-Bucht.

Doch noch an Land lässt McGuire den Leser an den unterschiedlichsten Charakterzügen, Geschichten und Absonderlichkeiten einiger Crewmitglieder teilhaben, sodass man sich schon darauf vorbereiten kann, was in der abgeschlossenen Situation an Bord geschehen wird. Unter anderem muss Sumner einen Schiffsjungen behandeln, der über Schmerzen klagt. Schnell wird dem Arzt klar, dass der Bursche vergewaltigt wurde, doch – na klar – es will keiner gewesen sein, wer glaubt auch einem jungen Kerl mit begrenztem Intellekt. Als Tage später jedoch die Leiche eben jenes Schiffsjungen gefunden wird, ist es mit der Ruhe und der Kumpanei an Bord vorbei. Sumner agiert aufgrund seiner Profession beinahe wie ein Kriminaltechniker oder Pathologe. Der Todes- oder Mordfall schiebt Nordwasser für kurze Zeit in Richtung des Krimigenres.

Doch da McGuire in diesem Buch noch viel vorhat, bleibt es nicht dabei, vielmehr überstürzen sich die Ereignisse auf der Volunteer, es entbrennt ein offener Machtkampf. Das Ziel der Fahrt, der Walfang, wird freilich nicht außer acht gelassen, der Autor ist auch hier ganz in seinem Element; ganz sicher hat er eine Vielzahl an einschlägigen Reiseberichten gelesen, seine Kenntnis der Seefahrt zu jener Zeit, die spezifischen Begriffe sowohl bezüglich der Seefahrt als auch des Walfangs, die Beschreibung der einzelnen Werkzeuge und ihr Gebrauch – all das wirkt unglaublich plastisch und lebendig, von Angestaubtheit oder nostalgischer Verklärung keine Spur. Im Gegenteil, in diesem Roman werden die Kälte, die Härte der Arbeit, die Enge an Bord, vor allem Gerüche und Gestank beinahe spürbar. McGuire scheut sich nicht, direkt neben Sumners Lektüre der Werke Homers die Fürze und Exkremente der Besatzung, die stinkenden Innereien erlegter Wale und die unfassbaren hygienischen Zustände an Bord zu beschreiben.

Überhaupt ist Nordwasser ein gleichermaßen zivilisiertes wie auch ein unflätiges Buch, das Vokabular des Autors ist enorm, sein Mut und seine Lust daran, Sprachgrenzen zu ignorieren beziehungsweise leichtfüßig zu überspringen, sind es ebenso. Soviel vorweg: Die Volunteer wird kentern, die Katastrophe ist nicht mehr aufzuhalten. Der in Ketten gelegte Henry Drax, dessen unmoralisches Wesen ihn bis an den Rand der bewohnten Welt gebracht hat, wird fliehen können und Patrick Sumner, der erstaunlicherweise eine Metamorphose vom schwächlich wirkenden Opiumsüchtigen zum beinahe heldenhaften Überlebenskünstler durchmacht, wird – man kann dabei durchaus an Homer denken – britischen Boden erreichen.

„Sehet den Menschen.“ lautet der erste Satz dieses Buches, das man atemlos liest und das seinesgleichen sucht. Es unterhält auf ganz hohem Niveau, stößt einen ab und lässt einen gierig weiterlesen. Es stellt die großen Fragen nach Moral, nach Gier, nach Menschlichkeit und danach, was die Existenz des Menschen bedeutet. Nordwasser wirkt in diesen technischen und digitalen Zeiten wie ein Objekt aus fremder Zeit, es ist ein archaischer, manchmal fast atavistischer Roman, der lange nachwirkt und der vom Unheil erzählt, das Menschen der Natur und einander antun.

Titelbild

Ian McGuire: Nordwasser. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Joachim Körber.
Mare Verlag, Hamburg 2018.
304 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783866482678

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