Psychopathologie, neue Schreibformen und Gender

Eine Festschrift für Michael Scheffel erkundet die literarische Moderne

Von Julia StetterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Stetter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Infragestellung des klassischen Subjektbegriffs, Fragmentaritätserfahrung und neue Perspektiven auf Geschlecht und Sexualität waren bekanntlich Charakteristika der erzählten Moderne. Exemplarisch vertreten werden sie etwa von Arthur Schnitzler, der mit seinen damals innovativen Innensichten vor dem Hintergrund von Sigmund Freuds Erkenntnissen schreibt. Was man bei Schnitzler häufig findet, sind daher „reflektierte Spannung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen, zwischen psychologischer und ästhetischer Begründung erzählter Wirklichkeit, zwischen Traumerzählung, Märchenwelt und erzähltem Erzählen“. Entsprechend nimmt Schnitzler eine prominente Stellung im von Andreas Blödorn, Christof Hamann und Christoph Jürgensen herausgegebenen Sammelband Erzählte Moderne. Fiktionale Welten in den 1920er Jahren ein.

Darüber hinaus befassen sich die Beiträge mit modernen Subjektkonzeptionen, das heißt der Positionierung des Ichs angesichts von Großstadterfahrung und neuer psychologischer Theorien sowie das Mann-Frau-Verhältnis und dessen historische Verortbarkeit und ferner neuen formalen Spielräumen des künstlerischen Schaffens. Gegliedert ist der Band in einen deutschsprachige Literatur betreffenden Teil – hier liegt sein  Schwerpunkt – sowie in ein internationales und ein mediales Kapitel. Gewidmet ist er Michael Scheffel zum 60. Geburtstag, was den großen Anteil Wuppertaler Wissenschaftler erklären mag, die an seiner Erstellung mitgewirkt haben: Unter anderem enthält er Beiträge von Rüdiger Zymner, Gerald Hartung, Wolfgang Lukas, Andreas Meier, Gabriele Sander, Arne Karsten, Ulrich Ernst, Roy Sommer und Matei Chihaia. Scheffel selbst hatte mit seiner Studie Formen selbstreflexiven Erzählens eine narratologische Besonderheit herausgearbeitet, die natürlich auch für die Moderne hochrelevant ist. Zudem beschäftigen sich Scheffels Arbeiten mit klassisch-modernen Autoren wie Franz Kafka, Thomas Mann, Stefan Zweig und Arthur Schnitzler. 

Erzählungen von Psychopathologie sind einer der Bestandteile, die in Werken der Moderne häufiger auftreten und daher von mehreren Beiträgen aufgegriffen werden. Beispielsweise verweist Meier auf Alfred Döblins 1905 entstandene Novelle Die Ermordung einer Butterblume, in der der Protagonist beim Spazierengehen versehentlich mit seinem Spazierstock eine Butterblume köpft und dies als Mord betrachtet. Als Wiedergutmachung wählt er dann eine andere Butterblume aus, platziert sie bei sich zu Hause als Topfpflanze und versteht sie von da an als seine Geliebte. Leider wird sie jedoch von seiner Hausangestellten versehentlich umgeworfen. Meier urteilt über Döblins Protagonist: „Gerade sein laut formulierter Ordnungsruf ‚Selbstbeherrschung‘ [unterstreicht], wie sehr ihm diese bereits verloren ging“. Ähnliches ist Meier zufolge in Werken Schnitzlers und Hugo von Hofmannsthals zu beobachten, beispielsweise wenn Schnitzlers Gustl sich wiederholt fragt, ob er träumt oder wacht. Realitätswahrnehmung ist hier durch Dissoziation und Depersonalisierungserfahrung verstellt. Gerade Hofmannsthals Brief des Lord Chandos sei in diesem Sinne nicht nur als Sprach-, sondern primär als Ich-Krise zu deuten.

Die Werke von Marieluise Fleißer lassen sich dagegen mehr unter dem Stichwort „Depression“ lesen und sind Sander zufolge weiblicher Depressionsliteratur zuordnen. Geschildert werden darin masochistische Abhängigkeitsbeziehungen von Frauen. Sprachlich ausgestaltet werden diese Erzählungen häufig in Form von Antimärchen, die einen ironisch-kalten Blick auf deren mädchenhaftes und unselbständiges Verhalten werfen. Dabei tritt Fleißers Erzählinstanz meist dominant auf, indem sie die weiblichen Figuren explizit kritisiert oder in desillusionierendem Licht vorführt. Gezeigt werden Frauen, die kaum über eigene Einkünfte verfügen und dann zum Opfer sexueller Ausbeutung werden, die ferner in Männern Märchenprinzen suchen und aus Enttäuschung über die Realität Ess- und Schlafstörungen entwickeln. Das dagegen von den goldenen 1920er Jahren der Weimarer Republik heraufbeschworene Bild der emanzipierten Frau wird nicht eingelöst.

Weniger psychopathologisch, aber dennoch nicht ganz normal nimmt sich der von Zymner analysierte Professor aus Willa Carthers Roman The Professor’s House aus. Cather, die zu den weniger bekannten US-Autorinnen des frühen 20. Jahrhunderts zählt, beschreibt darin einen an seiner Kindheit hängenden Professor, der behauptet, es müsse „eine gewisse Integrität des Lebens geben, ein richtiges Bündnis des Erwachsenen mit dem noch nicht Erwachsenen, der er war, und den wir alle so entsetzlich leicht drangeben fürs Großwerden“. Möglicherweise dieser Haltung geschuldet zieht es der Professor vor, in einem alten, unkomfortablen Haus zu wohnen, das aber den Vorteil bietet, von dort aus den Lake Michigan sehen zu können, der ihn an seine Kindheit und sein kindliches Schwimmen erinnert. Trotz der sympathischen Zeichnung, die dieser Einzelgänger erfährt, ist doch Zymner zufolge „Cathers Unterscheidung zwischen einem ‚eigentlichen Ich‘ und einem ‚sekundären sozialen Menschen‘ zu schematisch“.

Dass in der Moderne insgesamt Verstörungen des Ichs und Rückzugssehnsüchte auftraten, liegt sicher mit an Urbanisierungsprozessen, die ihrerseits neue Formen der Wahrnehmung generierten. Auf neue Arten des Sehens gehen unter anderem Susanne Catrein und Christof Hamann in ihrem Beitrag über Robert Walser ein. Darin beobachten sie bei Walser eine neue Form von Mimesis, die sich von derjenigen des Realismus abhebt, aber dennoch einen ihr eigenen Realitätsanspruch erhebt. Bezeichnend für sie ist, dass sie Zusammenhänge nicht mehr in ihrer Ganzheit zeigt. Vielmehr kommt es – ähnlich wie Georg Lukács in seinem berühmten Aufsatz Erzählen oder Beschreiben beanstandet – zur Vereinzelung von Beschriebenem. Dergestalt lösen sich bei Walser „kohärente Handlungsfolgen in eine kontingente Serie von Einzelbildern auf“. Erfassen soll Walsers Spaziergänger jedes einzelne kleine Ding, wie beispielsweise eine Mücke, eine Blume, ein Haus, eine Hecke, eine Schnecke oder eine Wolke. Digression wird dadurch zum textbestimmenden Verfahren.

Zur Veränderung von Schreibweisen und Entstehung neuer Formen hat ferner freilich die Erneuerung der Medienlandschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts beigetragen. Insbesondere Kino und Film führten zu einschneidenden Veränderungen von Wirklichkeitswahrnehmung, die sich ihrerseits wiederum auf Literatur auswirkten. So untersucht Blödorn in seinem Beitrag intermediale Bezüge zwischen Roman und Film. Er stellt in diesem Zusammenhang die These auf, dass sowohl der Film als auch die Literatur bestimmte Defizite aufweisen, die sie durch intermediale Verweise zu kompensieren suchen. Offensichtlich ist das beim Stummfilm, der seine fehlende Sprachlichkeit durch die Einblendung schriftlicher Zwischentexte auszugleichen anstrebte. Seitens der Literatur bestand das Defizit, nicht wie der Film auf Montage von Lichteffekten und Bewegung zurückgreifen zu können. Die daraus resultierende fehlende Schnelligkeit hat die Literatur dann gemäß Blödorn durch eine Imitation filmischer Montage auszugleichen gesucht: Ziel war eine Verknappung über kurze Sätze, Reihungen und Parataxen. Film wie Literatur eint dabei, dass sie durch ihre gegenseitige Bezugnahme Großstadterfahrungen möglichst authentisch erfassen wollten.

Außerdem bietet der paradigmatische Neuansatz der unnatürlichen Narratologie ein Angebot, mit dem man an die erzähltheoretischen Besonderheiten moderner Literatur herantreten kann. Sommer stellt verschiedene Ansätze vor, die insgesamt für eine potenzielle Gleichzeitigkeit von Autor- und Erzählstimme plädieren und damit Grundannahmen der klassischen Narratologie anzweifeln. Er erläutert anhand von Romanen Virginia Woolfs, inwieweit diese Ideen einer alternativen Narratologie gewinnbringend eingesetzt werden können. 

Weiterhin berühren viele der Bandbeiträge auf die eine oder andere Weise die Gender-Thematik. Gewiss kann zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Pluralisierung von Sexualitäten beobachtet werden, wodurch althergebrachte Sexualnormen tendenziell überschritten wurden. Zu verweisen ist in diesem Kontext auf Bemühungen der Entkriminalisierung von Homosexualität, etwa durch Richard von Krafft-Ebing, Magnus Hirschfeld und Hans Blüher. In der Literatur wurden ferner vielfach inzestuöse Beziehungen geschildert, wozu Michael Titzmann eine wohlrecherchierte Liste von Erzähltexten zusammengestellt hat. Gerade Geschwisterinzest galt damals als attraktiv, weil man durch ihn einen Sexualpartner finden konnte, der einem selbst maximal ähnelte, weshalb Titzmann von zugrundeliegenden narzisstischen Motiven ausgeht. Darüber hinaus thematisiert der Band Döblins Darstellungen von Dominanzunterschieden in Liebesbeziehungen. Darin verbinden sich Sexualität und Gewalt, wobei wie im damaligen psychologischen Diskurs üblich auch bei Döblin Frauen als eher dem Masochismus und Männer dem Sadismus zugeneigt präsentiert werden.

Der Band Erzählte Moderne deckt ein breitgefächertes Spektrum ab. Er thematisiert einschlägige deutschsprachige Autoren wie Schnitzler, Walser, Karl Kraus, Fleißer, Zweig, Döblin und Carl Einstein ebenso wie internationale Modernerepräsentanten wie James Joyce und Marcel Proust. Damit bietet der Band eine sehr gute Hinführung für all jene Leser, die sich näher mit der literarischen Moderne beschäftigen möchten und dazu nach exemplarischen Analysen durch ausgewiesene Experten suchen. Zugleich werden neuartige Ansätze und Deutungsvorschläge offeriert, die auch für Kenner und Liebhaber der Moderne von Interesse sind.

Titelbild

Andreas Blödorn / Christof Hamann / Christoph Jürgensen (Hg.): Erzählte Moderne. Fiktionale Welten in den 1920er Jahren.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
442 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835331853

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch