Von „Humbürgern“ und anderen Menschen

Ion Luca Caragiale porträtiert in „Humbug und Variationen“ die rumänische Gesellschaft um 1900

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Rumänien im vergangenen März Gastland der Leipziger Buchmesse war, durfte man sich über zahlreiche neu übersetzte Bücher freuen. Allerdings handelte es sich dabei fast ausnahmslos um zeitgenössische Werke. Es ist daher dem Guggolz Verlag hoch anzurechnen, dass er sich eines Klassikers der rumänischen Literatur angenommen hat: Mit einer Sammlung von kurzen Erzählstücken unter dem Titel Humbug und Variationen ist Ion Luca Caragiale (1852–1912) nun auf Deutsch neu zu entdecken.

Caragiale gilt als der bedeutendste rumänische Dramatiker. Seine Stücke wie Eine stürmische Nacht (1878) oder Ein verlorener Brief (1884) gehören nach wie vor zum Standardrepertoire der rumänischen Bühnen. In diesen Komödien porträtiert er geistreich und bissig die Händel der Politik und das Gebaren der städtischen Kleinbürger in seiner Heimat. Zwar sind einige seiner Werke auch ins Deutsche übertragen worden, doch ist der Autor bei uns weitgehend in Vergessenheit geraten. Seine Bücher findet man fast nur noch antiquarisch oder in Bibliotheken. Dabei ist Caragiale in vielerlei Hinsicht heute wieder höchst aktuell. In der Komödie Ein verlorener Brief (O scrisoare pierdută) wird ein verlorener Liebesbrief auf dem Hintergrund einer anstehenden Wahl in einer rumänischen Kleinstadt zu einem begehrten Objekt. Verschiedene politische Fraktionen versuchen in seinen Besitz zu gelangen, da sie sich daraus Vorteile im Wahlkampf erhoffen. In unserer Zeit, in der vor Wahlen E-Mails gehackt und Bürger über die sozialen Medien manipuliert werden, mutet dieses Thema in der Tat modern an.

Der Guggolz Verlag hat sich mit Humbug und Variationen jedoch nicht an den Dramatiker Caragiale herangewagt, sondern an den Erzähler und Publizisten. Das ist selbstverständlich kein gänzlich anderer Autor. Denn auch in den ungefähr 60 kurzen Skizzen dieses Bandes (meist eine bis zehn Seiten) finden wir manches von dem wieder, wofür der Stückeschreiber Caragiale berühmt geworden ist. Dazu gehören der komische, satirische und bisweilen leicht surreale Stil sowie der fast omnipräsente Wortwitz. Das war in sprachlicher Hinsicht allerdings weniger innovativ, als man heute annehmen möchte. Der Schriftsteller hat vielmehr dem Volk auf den Mund geschaut: Dessen Sprache war für ihn eine ständige Quelle von Inspiration. Entsprechend treten in den Kurzerzählungen auch alle Schichten und Gruppierungen der rumänischen Gesellschaft um die Wende zum 20. Jahrhundert auf: vom Bettler oder Fuhrmann bis zum Minister oder König, vom Bauern über den Anwalt bis hin zum Politiker. Allesamt bekommen sie ihr Fett weg. Caragiale nahm vornehmlich die Durchschnittlichkeit seiner Mitmenschen wahr: Sie erschienen ihm als geschwätzig, beschränkt, egoistisch und bösartig. Caragiales Prosaskizzen erhalten damit eine moralische Komponente, denn sie legen die Schwächen und Laster seiner Landsleute bloß – wenn auch durchaus auf humorvolle Weise: unterwürfiges Verhalten, Korruption, Geltungssucht und vieles mehr. Caragiale nimmt sich selbst von dieser Kritik zwar nicht gänzlich aus, trotzdem bewahrt er stets eine gewisse Distanz zu den Menschen, die in seinen Texten ihren peinlichen Auftritt haben. Nicht umsonst hat man ihn einen „permanenten Oppositionellen“ genannt. Das war nicht nur politisch gemeint, sondern betraf auch die damals herrschenden Moden und Trends.

Worum aber geht es in den kurzen Erzähltexten in Humbug und Variationen? Man kann in ihnen kaum ein übergreifendes Thema ausmachen. Sie werden eher durch den Stil zusammengehalten. Es sind fast alles Stücke, die ständig zwischen Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit schwanken. Das Seriöse liegt in der schon erwähnten Diagnose menschlicher Verhaltensweisen, das Luftige dagegen im humoristisch-satirischen Stil und im zwangslosen Zugang zu den behandelten Themen. Caragiale hat hierfür mit „moft“ ein schönes Wort gefunden, was man als „Humbug“ oder „Unfug“ übersetzen kann. 1893 hat er unter dem Titel Moftul român (Der rumänische Humbug) gar eine eigene Zeitschrift begründet, worin manche der hier vorgelegten Texte zum ersten Mal erschienen sind. Im titelgebenden Text schreibt der Autor: „Im Allgemeinen haben die großen Nationen jeweils eine Gabe oder einen spezifischen Fehler: Die Engländer haben den Spleen, die Russen den Nihilismus, die Franzosen l’engouement, die Spanier das Totenhaus, die Italiener die vendetta etc.; die Rumänen haben den Humbug!“

Der Begriff Humbug kann zumindest doppelt verstanden werden. Er ist nicht nur eine selbstironische Bezeichnung des Autors für die eigenen Texte. Der Ausdruck bezieht sich auch auf das Denken und Benehmen der darin karikierten Menschen. Caragiales kurze satirische Erzählungen waren schon damals beim rumänischen Publikum äußerst erfolgreich und werden bis heute gerne gelesen. Zwar glauben bei weitem nicht alle an die Existenz eines „rumänischen Volkscharakters“ – aber wer es doch tut, ist oft der Überzeugung, dass dieser bei Caragiale trefflich beschrieben sei.

Ein kurzer Blick in einige der Texte zeigt auf, worum es Caragiale inhaltlich geht und wie er seine Themen sprachlich gestaltet. Der Text Telegramme besteht zur Gänze aus Telegrammen. Es sind etwas über 20, und sie werden von verschiedenen Akteuren aus Anlass eines banalen Streitfalls versendet, der allerdings immer größere Kreise zieht, sodass neben dem Geschädigten und seinem Anwalt mit einem Mal auch Justizminister und Premierminister in den Briefverkehr einbezogen sind. Telegramme ist ein wahres Kunstwerk, denn Caragiale nimmt den typischen verkürzten Telegrammstil und die je unterschiedlichen sprachlichen Unzulänglichkeiten der einzelnen Verfasser auf. Gleichwohl – und trotz der Bruchstückhaftigkeit dieser Kommunikation – wird dem Leser völlig klar, worum es geht.

Sehr vergnüglich ist auch die Lektüre der Anthologie, einer Sammlung anonymer Briefe zu ganz verschiedenen Themen. Caragiale gibt hier vor, nur der Herausgeber zu sein. Die einzelnen Briefe sagen nicht nur mehr über die Verfasser als über die Denunzierten aus – denn eigentlich kann niemand wissen, ob die erhobenen Vorwürfe tatsächlich zutreffen. Die anonymen Schreiben nehmen auch ein Phänomen vorweg, das später im kommunistischen Osteuropa (darunter natürlich auch in Rumänien) im realen Leben gang und gäbe war: das Anschwärzen von Mitmenschen, weil man sich daraus einen Vorteil erhoffte. Eine Erscheinung, die dann beispielsweise der polnische Schriftsteller Sławomir Mrożek seinerseits wieder ironisch gebrochen hat – nämlich in seinen berühmten „Denunziationen“, die stets mit den gleichen Worten begannen: „Ich denunziere höflichst, dass…“ (etwa: „Ich denunziere höflichst, dass mein Nachbar nicht denunziert“).

Überhaupt staunt man bei der Lektüre dieser Prosastücke, wie viel von der späteren literarischen Entwicklung Caragiale bereits vorweggenommen hat. Ein Text wie Markt (Inhaltsverzeichnis) bringt eine bloße Auflistung von Dingen und Menschen, die man auf einem Markt antreffen kann. Das erinnert an die Dänin Inger Christensen, die in alphabet 1981 eine Art poetische Inventur der Welt vorlegen wird, die ganz ähnlich aufgebaut ist wie Caragiales impressionistischer Blick auf den Markt. Bisweilen entsteht auch der Eindruck, man habe in Caragiales Texten bereits Ansätze zu einer Konkreten Poesie vor sich. In Langher… sehr langher – auch dies ja ein Prosastück – flicht Caragiale zahlreiche Reime ein. Die Prosa erhält dadurch poetische Züge, und die Aufmerksamkeit verschiebt sich allmählich von der inhaltlichen, sinnhaften Ebene auf die lautliche und sinnliche. Ganz direkt dürfte Caragiale auf rumänische Lyriker wie Tudor Arghezi oder den Surrealisten Gellu Naum eingewirkt haben.

Auch in inhaltlicher Hinsicht kommen einem viele Stücke in der Sammlung Humbug und Variationen überraschend zeitgemäß vor. Den kurzen Antikriegstext Der Krieg wünschte man sich in diesen Tagen auf die Titelblätter der Zeitungen auf der ganzen Welt. Manko wiederum verhandelt die schwierigen Beziehungen zwischen Rumänen und Ungarn, die auch heute noch (und wieder) Anlass für Diskussionen geben. Caragiale zu übersetzen galt wegen seiner Wortspiele und der Bandbreite seines Stilregisters traditionell als schwierig. Eva Ruth Wemme hat die Herausforderung bravourös gemeistert. Allein schon dem treffenden Ausdruck „Humbürger“ möchte man eine erfolgreiche Karriere in der deutschen Sprache gönnen!

Das Rumänische Kulturinstitut ICR hatte im Vorfeld der Leipziger Buchmesse zahlreiche Übersetzungen, darunter auch Humbug und Variationen, finanziell gefördert. Das ist natürlich sehr verdienstvoll. Allerdings entstand der Eindruck, die Ausschreibung des Übersetzungsprogramms sei relativ spät erfolgt. Vielleicht erklärt dies die Tatsache, dass einige der nun aus dem Rumänischen ins Deutsche übertragenen Werke manche Mängel im formalen Bereich aufweisen. So fehlen auch in Humbug und Variationen bei den rumänischen Namen und Begriffen oft die diakritischen Zeichen. Auch haben sich einige Rechtschreibfehler und stilistische Ungenauigkeiten eingeschlichen. Der Umgang etwa mit den französischsprachigen Zitaten ist überdies nicht einheitlich geregelt: Meistens wurden sie zwar ins Deutsche übertragen; an einer Stelle bleibt jedoch eine ganze Seite unübersetzt. Offenbar musste es bei vielen Projekten am Schluss dann doch recht schnell gehen, damit die Bücher noch fristgemäß zur Buchmesse erscheinen konnten.

Diese kleinen Mängel trüben das Leservergnügen jedoch nicht. Caragiales Prosastücke in Humbug und Variationen überzeugen durch den Stil, der die Sprache der darin porträtierten Menschen genau trifft. In formaler wie inhaltlicher Hinsicht ist Caragiale mitunter verblüffend aktuell – seine Themen geben auch heute noch Anlass zum Nachdenken und betreffen durchaus nicht die rumänische Gesellschaft allein. Die Texte wurden damals in Zeitschriften veröffentlicht und entsprechend stückweise gelesen. Eine solche Lektüre empfiehlt sich auch heute: Damit die doch recht unterschiedlichen Erzähltexte ihre Wirkung entfalten können, liest man sie am besten mit etwas Abstand voneinander. Dann kommen der eigenwillige Stil und der moralische Gehalt der kurzen Prosastücke voll zur Geltung.

Titelbild

Ion Luca Caragiale: Humbug und Variationen.
Mit einem Nachwort von Eva Ruth Wemme und Dana Grigorcea.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme.
Guggolz Verlag, Berlin 2018.
432 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783945370162

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