Kulturpessimistische Endzeitstimmung

Silvia Bovenschens nachgelassener Roman „Lug und Trug und Rat und Streben“ gibt Rätsel auf und bereitet Vergnügen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Roman Lug und Trug und Rat und Streben dürfte das letzte literarische Werk der im Oktober 2017 verstorbenen Autorin Silvia Bovenschen vorliegen. Es sei denn, irgendetwas ruht noch in den Nachlasspapieren. Wer weiß.

Der Roman jedenfalls zeichnet sich durch eine ausgefeilte Stilistik und einen oft trockenen Humor ganz nach Bovenschens Art aus. In manch anderer Hinsicht  gibt er sich ebenfalls als ihr Werk zu erkennen. So sind die einzelnen Abschnitte zumeist ausgesprochen kurz und die Autorin greift schon einmal zu „erloschenen Wörtern“ wie etwa in ihrem Buch Älter werden. Auch sind dem eigentlichen Geschehen kleine Dialoge nichtmenschlicher Lebewesen zwischengeschaltet. Ein Verfahren das so ähnlich aus ihrem mit dem Genre des Krimis spielenden Roman Wer.Weiß.Was. bekannt ist. Die Abschnitte des posthumen Buches gewinnen im Laufe der Lektüre allerdings nicht unwesentlich an Umfang und die AkteurInnen der Zwischentexte sind anders als in Wer.Weiß.Was. terrestrischen Ursprungs. Texte und Zwischentexte scheinen merkwürdig miteinander verknüpft und schließlich begegnen sich Figuren beider Welten.

Bovenschen erzählt ohne jede Effekthascherei, fast lakonisch. Gelegentlich mit einer deftigen Prise Umgangssprache. Dabei bringt sie gleichwohl das Kunststück fertig, jeder ihrer zumeist durch Familienbande miteinander verbundenen und ausnahmslos denkbar skurrilen Figuren jeweils einen eigenen, unverwechselbaren Ton zu verleihen. Denn der Roman ist multiperspektivisch erzählt. Zunächst sind die Erzählperspektiven auf die verschiedenen Kapitel verteilt. Doch wird diese strikte Aufteilung zunehmend aufgebrochen.

Einmal scheint einem Satz ein Wort zu fehlen, ein andermal ein falsches an Ort und Stelle zu stehen. „Sie auf ihre Armbanduhr“, steht da zum Beispiel. Oder: „Das wollen wir nicht erläutern“, wo es sinnvollerweise „erörtern“ heißen müsste. Sollte da ein nachgelassener Text unverändert publiziert werden? Und was mag wohl der Satz „Der Junge schnürt davon“ bedeuten? Es werden doch Schuhe oder ein Bündel geschnürt. Aber nein. Der Duden belehrt, dass mit dem Verb auch gemeint sein kann, sich nach der „Gangart des Fuchses“ zu bewegen. Also handelt es sich an den anderen Stellen vielleicht ebenfalls nicht um vom Lektorat ungetilgte Fehler, sondern um absichtsvolle Irritationen der Autorin. Das würde dazu passen, dass Bovenschen einen Parforceritt durch das Wissen des Bildungsbürgertums hinlegt, oft auf engstem Raum, gespickt mit mythologischen Namen, historischen Daten und ausgefallenen Anspielungen, an denen sich die Lesenden erproben können. Merkwürdigerweise wird ausgerechnet erklärt, was es mit zwei Hundenamen auf sich hat. Das verdirbt ein wenig die Freude, es auch ohne dies zu wissen.

Schon der Beginn des Romans ist ausgesprochen enigmatisch. Und spätestens im dritten, dem mittleren Kapitel herrschen ein „fürchterliches Durcheinander“ und eine zu einem „lächerlicher Zitatenmatsch“ führende „wilde Zitiererei“. So dürfte sich der Text wohl keinem zur Gänze erhellen. Manchmal kann auch schon ein einzelner, an postmodernes Geraune erinnernder Satz nur schwer zu lösende Verständnisschwierigkeiten bieten: „Die Verschleierung der vermeintlich zeitgebundenen Erscheinung ist der Versuch, sich durch die Unsichtbarkeit als eigentlich Sichtbare in die Vermutung zu stellen und dergestalt auf eine neue Weise ewiglich sichtbar zu werden.“ Denken lässt sich viel dabei, etwa dass die Auftritte von Schauspielern und Doppelgänger auf die These anspielen, der zufolge es keine Originale gibt.

Bovenschen hat zwar keine realistischen Personen gezeichnet, aber eben auch keine bloßen Typen, sondern ausgewachsene Individuen. Mögen sie auch ebenso wenig glaubhaft sein wie das Geschehen, in dem die Autorin sie agieren lässt. Die Handlung wird zunehmend futuristisch, ja phantastisch. Im mittleren der fünf Teile ist nicht nur von „Kopftransplatationen“, „japanisch kostümierten Robotern“, einem Menschen mit drei Köpfen und einem Pferd mit acht Beinen die Rede, sondern auch von einer um einen Kneipentisch versammelte Horde von „Unholden“, die „Triumphgeheul“ anstimmend ein „Geschöpf“ unbekannter Art zerreißt.

Anschließend normalisiert sich das Geschehen wieder. Sofern sich von Normalität reden lässt, wenn sich ein ehemaliger Liebhaber in einem mit allerlei Gerümpel gefüllten Dachboden einnistet, um seiner früheren Liebsten nahe zu sein, und ein Großonkel im Keller zwischen Tief- und Flachsinn changierende Reflexionen zur postumen Publikation in ein Notizbuch schreibt. Jedenfalls ist die Phantastik mit dem dritten Teil abgeschlossen. Oder ist das schon Science Fiction, weil einmal von einem „Land nach dem letzten großen Cyberkrieg“, der „schon lange her“ sei, die Rede ist? Wohl kaum. Dann doch schon eher eine „Parodie unserer Ängste“, wie eine der Figuren vermutet.

Jedenfalls wird all das von einer kulturpessimistischen Endzeitstimmung durchweht, die menschliche wie nichtmenschliche Figuren begleitet. Auch die Zivilisation scheint den Weg alles Irdischen zu gehen. Der Strom fällt häufiger aus und der Müll bleibt auf den Straßen liegen. Es sind eben „Krisenzeiten“. Und Tschernobyl strahlt auch noch immer. „Das alles ist surreal und doch so nah“, konstatiert eine der Figuren. Das dürften die Lesenden ähnlich sehen. Dabei bietet die Lektüre sowohl intellektuell wie auch ästhetisch ein außergewöhnliches Vergnügen. Mehr lässt sich nicht verlangen.

Titelbild

Silvia Bovenschen: Lug und Trug und Rat und Streben. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
208 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783103973556

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch