Marx ist Gegenwart
Das Politische im Ökonomischen
Von David Salomon
Viel zitiert ist die ironisch-polemische Aussage des jungen Antonio Gramsci, bei der Oktoberrevolution habe es sich um eine „Revolution gegen ‚Das Kapital‘ – von Marx“ gehandelt. Freilich zielte Gramsci mit dieser Bemerkung weniger auf das Projekt einer „Kritik der politischen Ökonomie“ oder ihren Autor als auf eine in der zweiten (und später auch der dritten) Internationale weit verbreitete Lesart, der zufolge die ökonomische „Basis“ nicht nur eine abgesonderte Realität vor und neben den politischen, rechtlichen, kulturellen, ideologischen und so weiter „Überbauten“ sei, sondern diese in Form einer Kausalbeziehung hervorbringe. Politik, Recht, Kultur und Ideologie erscheinen in dieser Perspektive als Reflexe auf beziehungsweise Resultate von einer tieferen Wirklichkeit. Die engen Spielräume der politischen Akzidenz würden vom eigentlichen ökonomischen Wesen „der Gesellschaft“ gesetzt. Politik sei aus Ökonomie ableitbar.
Proletarische Revolutionen etwa hätten zu warten bis die Produktivkräfte weit genug entwickelt seien, um in einen unaufhebbaren Konflikt mit den Produktionsverhältnissen zu geraten. Verschärfte Klassenkämpfe erscheinen dann als Folge dieser objektiven Entwicklung, nicht als politische Praxis oder als Ausdruck des Streits um eine alternative Gestaltung der gesellschaftlichen Reproduktion. Die Oktoberrevolution öffnete, gerade weil ihr Schauplatz nicht die Zentren der kapitalistischen Produktionsweise, sondern die russische Peripherie war, die Debatte. Schon Wladimir Iljitsch Lenin, Leo Trotzki, Rosa Luxemburg und Franz Mehring hatten – bei all ihren Differenzen – begonnen, den politischen Überbau in seiner Bedeutung zu rehabilitieren. Ähnlich wie seinen Zeitgenossen Karl Korsch und Georg Lukács ging es auch Gramsci um eine Fortsetzung dieses Rehabilitierungsprojekts.
An diesem Exkurs in die Theoriegeschichte des Marxismus lässt sich zweierlei verdeutlichen: Erstens gilt – wie sich in freier Anknüpfung an Walter Benjamin sagen lässt – auch für Karl Marx, dass sich die Rezeptionskontexte in die Werke selbst einschreiben. Ein unbefangener, von divergierenden Lesarten befreiter Zugang existiert nicht. Jeder Satz, jeder Begriff ist belagert von Deutungen und Kontroversen. Im Fall des Marx’schen Werks kommt erschwerend hinzu, dass dem Streit der Lesarten zumeist politische Kontroversen zugrunde liegen. Insbesondere Das Kapital ist vermintes Gelände. Zweitens zwingen jedoch gerade diese Überlagerungen zum Blick in das Original. Nicht zuletzt deshalb, weil in den letzten Jahren und Jahrzehnten die oben nachgezeichnete grobe Skizze der ökonomistischen Argumentationsweise der zweiten Internationale von „postmarxistischen“ Autorinnen und Autoren als karikaturesker Popanz aufgeblasen wird, um die eigene Abkehr von jeder Spielart des historischen Materialismus zu begründen, ist eine politische Marx-Lektüre heute mindestens so dringend geboten wie in den Zeiten, als Staatsableitungsdebatten sich in immer höhere theoretische Höhen schraubten und dabei den Bezug zur empirischen Realität der kapitalistischen Gesellschaft gänzlich zu verlieren drohten.
Sein 200. Geburtstag bietet sich daher als Anlass, auf Marx als politischen Theoretiker zurückzukommen. Relevant sind in diesem Kontext keineswegs nur die Frühschriften oder die zeitdiagnostischen und politisch programmatischen Schriften von Marx (und Friedrich Engels) – etwa das Kommunistische Manifest oder die Analysen zum Aufstieg des französischen Bonapartismus (Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte) und der Pariser Kommune (Der Bürgerkrieg in Frankreich), sondern auch Das Kapital und mit ihm das große Konvolut von Vorarbeiten, Einzeluntersuchungen und Manuskripten zur „Kritik der politischen Ökonomie“. Unstrittig dürfte sein, dass Marx – in permanenter kritischer Auseinandersetzung mit den vorliegenden Arbeiten der klassischen ökonomischen Literatur – als erster eine umfassende Theorie der kapitalistischen Produktionsweise vorgelegt hat und dabei zugleich all jene sozialen Vermittlungen rekonstruiert, die jene Produktionsweise mit der bürgerlichen Gesellschaft verbinden. Dieser umfassende theoretische Anspruch spricht bereits aus dem Satz, mit dem Marx den ersten Band des Kapital eröffnet: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.“ (Marx 1956bff, S. 49)
Marx – hierin durchaus in der Tradition von Autoren wie Adam Smith oder David Ricardo – geht es keineswegs um eine isolierte Theorie des Ökonomischen, sondern um eine umfangreiche Theorie der Gesellschaft. Wie Michael Weingarten betont, ist die Rede von einer „Politischen Ökonomie“ in diesem Kontext mehr als lediglich die Übernahme einer in der frühen Wirtschaftswissenschaft üblichen Wendung:
Selbstverständlich – so könnte man sagen – handelt es sich zunächst einfach um die Übersetzung des englischen Terminus ‚political economy‘, so wie er von Adam Smith, Adam Ferguson und anderen eingeführt wurde. Trotzdem – und Marx wusste dies – ist es nicht nur die Übersetzung eines englischen Ausdrucks ins Deutsche. Denn Friedrich List übersetzte diesen Terminus mit Nationalökonomie und andere mit Volkswirtschaftslehre. In beiden Fällen verschwindet die qualifizierende Bestimmung der Ökonomie als politischer, indem zum einen fokussiert wird auf den Nationalstaat als räumlicher Bestimmung und räumlicher Begrenzung des Wirtschaftens; indem zum anderen das ‚Volk‘ als wirtschaftendes Subjekt eingeführt wird. Damit aber wird das, was die schottischen Theoretiker zu formulieren versuchten, nämlich die Einbettung des Wirtschaftens in eine Gesellschaftstheorie und die politische Regulation dieses Wirtschaftens, zum Verschwinden gebracht und ideologisch reartikuliert. (Weingarten 2012, S. 235)[1]
Folgt man dieser Lesart erscheint das Politische tief in die ökonomischen Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft eingelassen. In dieser Weise lässt sich auch die vielzitierte Exposition des Marxschen Programms in einem Brief an Ferdinand Lasalle aus dem Jahr 1858 interpretieren: „Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben.“ (Marx 1956aff, S. 550) Marx betreibt weder nur eine Kategorienkritik bürgerlicher Wirtschaftswissenschaft, noch nur Theorie- oder Ideologiekritik ihrer Lehren. Vielmehr verbindet er beides mit einer umfassenden Kritik der kapitalistischen Produktionsweise, die zugleich die Reflexion ihrer von der bürgerlichen Ökonomie zunehmend ausgeblendeten gesellschaftlichen, historischen und politischen Voraussetzungen umfasst. Theorie der Ökonomie wird politische Theorie, die Kritik wirtschaftswissenschaftlicher Kategorien zugleich auf politische Praxis gerichtete Kritik einer spezifischen Form von Vergesellschaftung.
Bereits 1998 widmete sich Michael Krätke in einem zweiteiligen Beitrag der Frage: „Wie politisch ist Marx’ Politische Ökonomie?“ Krätke betont darin, Marx sei „einer der ganz wenigen waschechten politischen Ökonomen, ein Theoretiker, den der traditionelle Vorwurf der rituellen ‚Machtblindheit‘ oder ‚Politikblindheit‘ nicht trifft“ (Krätke 1998b, S. 146). Und weiter: „Gerade Marx hatte einiges zu schreiben über die Rolle des Staates und der modernen Politik in der kapitalistischen Produktionsweise und er hat es auch getan.“ (Krätke 1998a, S. 126). Krätke zeichnet – zugleich gegen einen ökonomistischen Reduktionismus und einen das Politische im Ökonomischen nicht minder ignorierenden Politizismus gewandt – nicht nur nach, wie Marx im Kapitel über die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ die später von Max Weber wiederholte These, derzufolge im Anfang die Sparsamkeit gewesen sei, gerade dadurch dekonstruiert, dass er die politisch vermittelte Gewaltsamkeit herausstellt, mit der das „Startkapital“ für den späteren Akkumulationsprozess zusammengeraubt wurde (Krätke 1998b, S. 149f.). Er zeigt auch auf, wie Marx „gerade an den Schlüsselstellen“ seiner Analyse, auf „politische Elemente“ zurückkommt, ohne die die kapitalistische Produktionsweise nicht denkbar wären (ebd., S. 151ff.).
So verweist Krätke – mit Marx – auf die notwendige politische Flankierung des Arbeitsmarkts (Krätke 1998b, S. 151), die staatliche Aufgabe der Schaffung von gleichen (oder ungleichen) Konkurrenzbedingungen (ebd., S. 151f.), die staatlichen Funktionen bei der Etablierung und Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Kreditsystems (ebd., S. 152) und schließlich auf jene politischen „Institutionen und Aktionen“, ohne die eine kapitalistische Verwertung des Grundeigentums undenkbar seien (ebd., S. 152). Diese Liste ist unvollständig. Was sie indes hier schlaglichtartig zeigen soll: Marx verliert die Rolle und Bedeutung politischer Institutionen bei der Durchsetzung und Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise keineswegs aus den Augen – oder, in den Worten Krätkes: „In der Darstellung der formell ganz unpolitischen Ökonomie des modernen Kapitalismus hat Marx die Einbruchstellen der Politik in die Ökonomie verzeichnet.“ (ebd., S. 148)
Sollte dies bereits als Grund dafür reichen, dass sich auch und gerade Politologen mit dem Marx’schen Kapital beschäftigen sollten, so erscheint freilich – angesichts „postmarxistischer“ Abwehrreflexe gegen einen vermeintlich notwendigerweise ökonomistischen Materialismus – das umgekehrte Argument noch zwingender. Denn so wenig ökonomische Prozesse isoliert vom Politischen verstanden werden können, so wenig versteht man Politik ohne eine Reflexion auf die Art und Weise, wie sich eine Gesellschaft materiell reproduziert und welche Formen (vermeintlich vorpolitischer) Herrschaft in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen erzeugt und ausgeübt werden. Ohne Marx und ohne Das Kapital beschneidet sich sozialwissenschaftliche Analyse selbst. Ein „Postmarxismus“, der glaubt Marx links liegen lassen zu können, um auf der Höhe der Zeit zu sein, fällt daher genaugenommen hinter das 19. Jahrhundert zurück. Nicht zuletzt deshalb erscheinen 200 Jahre als historischer Wimpernschlag. Marx ist Gegenwart.
Hinweis: Der vorliegende Text ist die Überarbeitung eines kürzeren Statements, das im September 2017 in Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung (Nr. 111) erschienen ist.
Anmerkung
[1] Weingarten schlägt von diesem Gedanken aus eine Brücke in die Gegenwart, wenn er mit Rekurs auf hegemoniale neoklassische Wirtschaftstheorien ausführt: „Insofern ist eine begriffliche Rekonstruktion der politischen Ökonomie nicht nur von historischem Interesse, sondern zugleich auch basal für die Auseinandersetzung mit den ideologischen Projekten des Neoliberalismus beziehungsweise mit dem Neoliberalismus als ideologischem Projekt.“ (Weingarten 2012, S. 235)
Literaturverzeichnis
IMSF (Institut für Marxistische Studien und Forschung) (1983): Marx ist Gegenwart. Materialien zum Karl Marx Jahr 1983, Frankfurt am Main.
Krätke, Michael (1998 a und b): Wie Politisch ist Marx‘ Politische Theorie .In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung (33/34), S. 114-128; S. 146–161.
Marx, Karl (1956aff): Brief an Ferdinand Lasalle in Düsseldorf. 22. Februar 1858. In: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, Bd. 29. Berlin: Dietz, S. 549–552.
Marx, Karl (1956bff): Das Kapital. Band I. In: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, Bd. 23. Berlin: Dietz.
Weingarten, Michael (2012): Das Politische der Ökonomie. Versuch einer Bestimmung des Verhältnisses. In: Malte Völk, Oliver Römer, Sebastian Schreull, Christian Spiegelberg, Florian Schmitt, Mark Lückhof und David Nax (Hg.): „… wenn die Stunde es zuläßt“. Zur Traditionalität und Aktualität kritischer Theorie. Münster: Westfälisches Dampfboot (Kritische Theorie), S. 235–257.