Fragmente einer Sprache der Triebe

Sebastian Lehmanns Roman „Parallel leben“

Von Jan RheinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Rhein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Berliner Germanistik-Doktorand Paul Ferber hat es schwer. Sein Unigehalt ähnelt, sieht man von einer bescheidenen Lehrverpflichtung ab, der er mit immergleichen Seminarinhalten nachkommt, zwar fast einem bedingungslosen Grundeinkommen – doch die Freiheit tut ihm nicht gerade gut. Hat er in der Anfangsphase seiner Promotion noch Sekundärliteratur verschlungen und sogar ein „exzellentes Exposé“ verfasst, sitzt er nun, nach etlichen Jahren Arbeit, vor 400 Entwurfsseiten zu Konzeptionen der Liebe in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur und sieht noch immer keinen roten Faden. Zu ebensolchen „Konzeptionen“ leistet Sebastian Lehmanns Debütroman Parallel leben selbst einen Beitrag, denn auch im Gefühlsleben verliert Paul den Sinn für Maß und Mitte. Als er Lea aus Leipzig kennenlernt, ihrerseits Doktorandin über Wach- und Schlafzustände bei Kafka, beginnt er eine Affäre mit ihr, ohne ihr jedoch von seiner Patchwork-Kleinfamilie zu erzählen, der langjährigen Freundin und deren Sohn, mit denen er in Berlin zusammenwohnt.

Etwas überraschend ist schon, wie umstandslos sich der arme Paul, wahrhaftig kein sensation seeker, in die Arme und ins Bett der „Parallel-Frau“ begibt und sich ein echtes Doppelleben aufbaut. Überraschender noch, wie wenig aufgeregt er auch diese Zweitbeziehung angeht. So zeichnet Sebastian Lehmann seinen (Anti-)Helden als typischen Vertreter einer Generation, der nachgesagt wird, anpassungsfähig aber entscheidungsunwillig zu sein. Die Figurenrede ist von dieser Unentschlossenheit Pauls durchdrungen, der sich manches „nicht so recht vorstellen“ kann und seine Überlegungen immer wieder mit „im Grunde“ eingrenzt. Der Humor des Buchs sucht ebenfalls nicht das Extrem. In der Mensa isst man „Teller mit Kartoffeln, brauner Honigsoße (offiziell firmierte sie als Pfeffersud) und seltsame Fleischbällchen“, in der Abteilung „Minimal Art“ des New Yorker MOMA hängen „einige lackierte Metallklötze an den Wänden“, und „drei vollständig weiße Bilder“. An Passagen wie diesen mag man erkennen, dass Sebastian Lehmann von Lesebühnen und Poetry Slams geprägt ist, wo eine gewisse Nähe zum Klischee keinen Nachteil bedeuten muss: Im lebendigen Vortrag erzeugen derartige Alltagsbeobachtungen schnelle Lacher, weil sie für fast jeden Wiedererkennungswert besitzen (vgl. auch die Titel einiger Lehmann-Texte: „Die verflixte Biokiste“, „Hamburg“, „Telefonat mit den Eltern“). Doch hier sollen diese erwartbaren Beschreibungen nicht nur lustig sein. Sie erzeugen auch das Bild eines wattierten, bei aller individuellen Ausdifferenzierung erwartbaren Daseins, das wenig Fluchtmöglichkeiten bietet – dem Mensamenü lässt sich nicht entkommen, und natürlich wohnt Lea in Leipzig in einem sanierten Altbau. Und wenn der arme Held als eine Art Max Frisch 2.0 bis nach New York reist, um seine Geliebte zu treffen, und auch dort alles nur so ist, wie man es schon vorher wusste (Kakerlaken in der Wohnung, vegane Bagels), dann birgt das vielmehr eine recht böse, situative Komik.

Pauls Phlegma kontrastiert mit der alten Garde der deutschsprachigen Nachkriegserzähler, deren Namen den Roman durchziehen – neben den beiden „literarischen Fremdgängern“ Max Frisch und Martin Walser vor allem der von Professor Ferber, Pauls Doktorvater, vergötterte Thomas Bernhard. Noch im Krankenhaus liest Ferber, selbst ein Relikt aus anderen Zeiten, wieder und wieder in Auslöschung, und Bernhards letzter Roman versetzt ihn noch immer in Aufregung. Es ist fraglich, ob Parallel leben eine ähnliche Wirkung bei seiner Leserschaft erzeugen kann, und Lehmann ließe sich vorwerfen, erzählerisch genau die Entscheidungsunwilligkeit zu reproduzieren, die er seinem Helden doch als Nachteil auslegt. Andererseits umschifft er so auch Kitsch und Pathos. So ist sein Roman einerseits eine sympathisch-tragikomische Lektüre, andererseits eine ziemlich kalte Zeitgeistkritik. Eindeutig behagliche Retrogefühle weckt dagegen der schöne, sandfarbene Leineneinband des Buchs, der förmlich dazu einlädt, auf Instagram zu landen, auf einem dunklen Holztisch, neben einem leckeren Cappuccino. Hashtag bookworm.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Sebastian Lehmann: Parallel leben. Ein Roman.
Verlag Voland & Quist, Dresden 2017.
271 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783863911850

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