Haustierhaltung fällt unter Hochverrat

Wei Zhangs Roman „Eine Mango für Mao“ schaut mit den Augen eines Kindes auf den chinesischen Alltag während der sogenannten Kulturrevolution

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

China zur Zeit der Kulturrevolution. Das Mädchen Yingying kommt in die Schule – und schon beginnen die Probleme. Denn zum Leben im neuen China gehört auch, dass ein großer Teil von dem, was früher selbstverständlich war – vom Halten eines Haustiers bis zur Erdbestattung –, inzwischen als „bourgeois“ und „konterrevolutionär“ verschrien ist, die „Roten Garden“ auf den Plan ruft oder gar noch schlimmere Folgen nach sich zieht. So reicht bereits ein kleiner Versprecher, der Yingying am ersten Schultag in ihrer Rede an die Erstklässler unterläuft, damit ihre Mitschüler dem Mädchen „taiwanesische Spionin“ nachzurufen beginnen. Statt den in der offiziellen chinesischen Propaganda unterdrückten „Blutsbrüdern und –schwestern“ in Taiwan nämlich das Versprechen zu geben, sie baldmöglichst von ihren Ausbeutern zu befreien, endet Yingyings Ansprache mit dem Satz: „Lasst uns bald von den taiwanesischen Kindern befreit werden!“

In Eine Mango für Mao, ihrem ersten Roman, blickt Wei Zhang zurück auf die Zeit ihrer eigenen Kindheit im Südwesten Chinas. Chongqing ist Zhangs Geburtsstadt und in der Stadt am Zusammenfluss von Jangtsekiang und Jialing tritt auch die Heldin des Romans ihren Weg hinein ins Leben an. Dass das ein ob der politischen Verhältnisse im China der 1960er/1970er Jahre recht gefährlicher Weg war, bei dem man jeden kleinsten Schritt genau bedenken musste, wird von der ersten Seite an klar.

Schnell konnte es nämlich geschehen, dass ein unbedachtes Wort, falsche Vertrauensseligkeit oder neidische Nachbarn dafür sorgten, dass man ins Visier der staatlichen Sittenwächter geriet und mit dem Schlimmsten zu rechnen hatte. Wenn in Yingyings Schule deshalb die Lehrer ständig wechseln, vorher teilweise in weit angeseheneren Berufen tätig waren, um dann plötzlich von einem Tag auf den anderen wieder zu verschwinden, begreift Yingying zwar noch nicht die ganze Tragik dieser Situation, der Leser aber weiß schon, was mit jenen passierte, die sich nicht anpassen wollten im Lande Mao Zedongs.

Allein ihre Familie – die Mutter Lehrerin, der Vater vom Ingenieur zum einfachen Arbeiter in seinem Betrieb degradiert – gibt Yingying den für ein Kind nötigen Halt. Indem sie hier immer wieder den Satz „Alles Übel entsteht durch den Mund.“ hört, lernt sie, nicht alles auszusprechen, was ihr durch den Kopf geht, und mit kritischen Gedanken und Fragen zuerst ihre Eltern zu konfrontieren. Im Schicksal etlicher Familienangehöriger steht ihr zudem deutlich vor Augen, über welch uneingeschränkte Macht der autoritäre Staat verfügt, und dass es nur wenig braucht, um seinen ganzen Besitz zu verlieren und für Jahre in einem Arbeitslager oder gar hinter den Mauern eines der gefürchteten Gefängnisse zu verschwinden.

Doch Wei Zhangs Roman zeigt auch die andere Seite des Lebens in einem totalitären Staat, dem gegenüber der einzelne Bürger seine Rechte verloren hat. Denn die Propaganda, der die jungen Menschen von früh bis spät ausgesetzt sind, all die Wandzeitungen mit den blumigen Parolen, markigen Aufrufen zur Verteidigung der bedrohten Heimat und Lobergüssen auf den „Großen Vorsitzenden“ Mao zeigen durchaus Wirkung. Und wo diese als zu gering eingeschätzt wird, diszipliniert man mit öffentlichen Zur-Schau-Stellungen und Exekutionen von (auch politischen) Gefangenen sowie der propagandawirksamen Selbstkritik von „Abweichlern“ vor Publikum. So kommt es dann auch nicht von ungefähr, dass sich Wei Zhangs kleine Heldin und all ihre Schulkameraden auf jene Zeit in ihrem Schülerleben freuen, die sie in einem Dorf verbringen werden. „Nacherziehung“ – bei Bauern oder in Fabrikhallen – nennt sich dieser unentgeltliche Einsatz in der Produktion, bei dem die auswendig gelernten Erfolgsparolen freilich unerbittlich mit der tristen Wirklichkeit der Arbeitenden kollidieren.

Eine der eindrücklichsten Szenen des Romans ist im Übrigen jene, in der die nach einem langen, strapaziösen Fußmarsch in einer Landkommune ankommenden Kinder vom Leiter der Einrichtung im Mao-Stil begrüßt werden und eine in der Kommune lebende Witwe das Lob der neuen Zeit gegenüber der alten singen soll. Als sie von den Entbehrungen ihrer Familie, dem Hungertod ihres jüngsten Sohnes, dem Tod ihres Mannes und den eigenen Leiden berichtet hat und Schüler wie Lehrer erschüttert ob all des Leids vor ihr stehen, wird sie schließlich gebeten, sich an das Datum zu erinnern, an dem ihrer Familie all das widerfuhr. Sie nennt daraufhin das Jahr 1962 – das letzte der Abermillionen von Toten fordernden großen chinesischen Hungersnot –, wird vom Parteikader aber sofort korrigiert. Denn eine Hungersnot kann es „im fortschrittlichen sozialistischen China“ nach der Befreiung ja gar nicht gegeben haben. 

Wei Zhang, die bereits 2007 mit dem Buch Zwischen den Stühlen: Geschichten von Chinesinnen und Chinesen in der Schweiz hervorgetreten ist, lebt heute in Zürich. Sie schreibt für das Feuilleton der Neuen Züricher Zeitung, arbeitet  als Hochschuldozentin und gibt Kurse zu interkulturellen Themen. Eine Mango für Mao will sie aber nicht als autobiografischen Roman verstanden wissen. Obwohl vieles, was sie ihre Heldin aus kindlicher Perspektive erleben und schildern lässt, sicherlich auf eigene Erinnerungen zurückgeht, steht das Mädchen Yingying für mehr als eine einzige Person. Im Grunde führt sie das typische Leben eines Kindes im China der 1960er/1970er Jahre, jener Zeit also, in der die politische Kampagne, die bis zu Mao Zedongs Tod (1976) andauerte und sich vor allem gegen Intellektuelle in Politik, Medien und den Künsten sowie an Schulen und Universitäten richtete, Misstrauen zwischen den Menschen säte, zu Denunziationen ermunterte, fast einer halben Million Menschen das Leben kostete und Millionen anderen durch Folter, Gefängnis, Arbeitslager und Deportation schwere physische und psychische Schäden zufügte.  

Dem Vergessen jener Zeit entgegenzuwirken, dafür zu sorgen, dass eine „kollektiv verdrängte Epoche“ dennoch mahnend im Gedächtnis bleibt, ist das Ziel, das Wei Zhang mit ihrem Buch verfolgt. Dass sie darin einem Kind das Wort erteilt, durch dessen neugierige Augen man auf die Welt der Erwachsenen blickt, zeigt deren Widersprüche, Ungerechtigkeiten und Absurditäten zwar in naiv-gemildertem Licht, lässt aber auch erahnen, dass die Wahrheit hinter dem, was Yingying in unbefangener Aufrichtigkeit erzählt, schrecklich war.

Titelbild

Wei Zhang: Eine Mango für Mao. Roman.
Salis Verlag, Zürich 2018.
287 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783906195674

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