Menschenwürde als inkohärenter Begriff

Achim Lohmars kopernikanische Wende der Denkungsart ist Konservativen egal

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Bibern, Männern und Menschen

Es gibt ein Buch, das jeder gelesen haben muss, der wissen möchte, was es bedeutet, philosophisch und damit in analytischer Genauigkeit über einen Begriff und dessen Fragwürdigkeit zu sprechen. Bevor Sie erfahren, um welches Werk es sich handelt, zunächst jedoch ein kleines Experiment.

Finden Sie die Absurditäten folgender Argumentation 1:

Biber haben krasse Zähne. Das liegt daran, dass Biber einfach ein super Gebiss haben. Niemand sonst im Tierreich hat so etwas. Ihnen kommt deshalb eine spezielle Eigenschaft zu – die Biberwürde. Biberwürde ist gut. Man kann sie nicht anfassen, also ist sie unantastbar. Aber man kann sie treten. Mit Füßen. Das sollte man aber nicht, denn, wie bereits erwähnt, sind Biberzähne einfach heftige und beeindruckende Werkzeuge und Biber haben Biberwürde, und, das hatte ich gerade noch vergessen, Biber sind das Zentrum des Universums, weil niemand so gute Dämme mit den Zähnen bauen kann wie sie. Das ist eine Leistung und Eigenschaft, die sie zu Nicht-Tieren (Bibern) macht. Denn die intellektuell anspruchsvolle Bearbeitung der Natur hebt sie zugleich von dieser ab. Deshalb ist es auch Biberwürde. Das ergibt sich ja schließlich aus dem Begriff: Biberwürde ist die Würde des Bibers und nicht die Würde des Tieres, das zur Natur gehört. Außerdem ist Biberwürde ein Naturrecht. Und ein unveräußerliches Gut, das niemand begründen muss und das allen Bibern zukommt. Die Biber sollten sich nicht schlecht behandeln, denn das würde die Biberwürde verletzen. Außerdem haben wir die Aufgabe, auf die Umwelt zu achten, um das Überleben des Bibers zu sichern. Andere und höhere Gründe gibt es nicht.

Finden Sie nun die Absurditäten folgender Argumentation 2:

Menschen sind echt intelligent. Das liegt daran, dass sie Verstand haben. Niemand sonst im Tierreich hat so etwas. Menschen kommt deshalb eine spezielle Eigenschaft zu – die Menschenwürde. Menschenwürde ist gut. Man kann sie nicht anfassen, also ist sie unantastbar. Aber man kann sie treten. Mit Füßen. Das sollte man aber nicht, denn, wie bereits erwähnt, sind Menschen intelligent und haben Menschenwürde, und sind, das hatte ich gerade noch vergessen, das Zentrum des Universums, weil niemand so gut denken kann wie sie. Das ist eine Leistung und Eigenschaft, die sie zu Nicht-Tieren (Menschen) macht. Denn die intellektuell anspruchsvolle Bearbeitung der Natur hebt sie zugleich von dieser ab. Deshalb ist es auch Menschenwürde. Das ergibt sich ja schließlich aus dem Begriff: Menschenwürde ist die Würde des Menschen und nicht die Würde des Tieres, das zur Natur gehört. Außerdem ist Menschenwürde ein Naturrecht. Und ein unveräußerliches Gut, das niemand begründen muss und das allen Menschen zukommt. Die Menschen sollten sich nicht schlecht behandeln, denn das würde die Menschenwürde verletzen. Wir müssen auf die Umwelt achten, um das Überleben des Menschen zu sichern. Andere und höhere Gründe gibt es nicht.

Wenn Ihnen die zweite Option logischer vorkam als die erste, sind Sie wahrscheinlich wahnsinnig. Wenn Ihnen die erste Option logischer vorkam als die zweite, sind Sie wahrscheinlich ein Biber (der lesen kann und wahnsinnig ist). Wenn Sie glauben, dass die beiden Beispiele wahnsinnig sind und Sie also erkannt haben, dass die Argumentationen, die eigentlich keine sind, keinen Sinn ergeben, sich strukturell ähneln und nur in Spezies- und Eigenschaftenzuschreibung unterscheiden, dann sind Sie bereit, Achim Lohmars Buch Falsches moralisches Bewusstsein. Eine Kritik der Idee der Menschenwürde zu lesen. Das, was dieses Buch macht, ist es nämlich, was Philosophie, die auf der intellektuellen und epistemischen Stufe des 21. Jahrhunderts angekommen ist, leisten muss. Philosophie dieser Art darf unter keinen Umständen missverstanden werden als insignifikante Wortklauberei. Das ist es gerade, wogegen der Autor sich durch die Analyse zahlreicher Negativbeispiele, die eine Grundherausforderung am „Menschenwürde“-Begriff offenkundig übergehen, wehrt. Im Kontrast zu jenen, die mit dem Menschenwürde-Begriff hantieren, als sei das selbstverständlich und gehöre zum guten Ton, hat Lohmar eine konkrete These, vor deren kleinschrittigem und zielgenauem Beweis er sich nicht scheut.

Lohmar stellt den moralischen Anthropozentrismus als substantielle ethische Position heraus – nein, das ist nichts per se Gutes –, deren Beschränkung durch den positiv konnotierten Begriff der Menschenwürde, häufig im Zuge einer epistemischen Täuschung, verdeckt wird. Die Betrachtung des Gehalts der Aussage, dass Menschen qua ihres Menschseins moralischen Vorrang vor allem Nicht-Menschlichen hätten, reicht nicht aus, um diese Aussage gut zu begründen. Auch die Attribuierung des „Menschenwürde“-Begriffs reicht logisch nicht aus, um zu begründen, dass Menschen moralischen Vorrang vor anderen Tieren oder ihrer Umwelt überhaupt hätten. Moralischer Anthropozentrismus bedeutet nicht gleichzeitig, dass in dieser Auffassung nur menschliche Interessen zählen, doch der Begriff „Menschenwürde“ konstituiert über seinen anthropozentrischen moralischen Elitismus und Egalitarismus den moralischen Anthropozentrismus. Es wird dabei also der Eindruck erzeugt, als gäbe es eine Art der Würde, die nur Menschen zukäme und ihnen genau deshalb moralischen Vorrang verleihe. Dieser Kurzschluss ergibt weder mittelbar noch unmittelbar Sinn.

Das obige Biberbeispiel ist zwar keines von Lohmar, aber er findet andere Beispiele, die die Absurdität des Menschenwürde-Begriffs vergleichend hervorheben: Männerwürde etwa. Gibt’s nämlich nicht, weil es im Rahmen unserer Moralvorstellungen seltsam und beliebig klingt. Menschenwürde eigentlich auch. Doch diese Beispiele sind nur Hilfestellungen – das Buch käme auch ohne sie aus. Mit mathematischer Akribie, ohne mathematisch zu werden, mit logischer Präzision und in klarer Sprache hält der Autor Bereiche auseinander, deren Umgrenzung vielen schon zu komplex sein dürfte, als dass sie Lust hätten, darauf einzusteigen. Seine These setzt keine Wahrheit fest. Vielmehr zielt Lohmar darauf ab, den wahrheitsscheuen Diskurs zu entlarven, dessen Teilnehmende sich nicht trauen, Bedeutung und Wahrheit, oder den Begriff und dessen Herleitung, auseinanderzuhalten. Das gilt zwar besonders für den alltäglichen Diskurs, nimmt allerdings auch Berufsphilosophen nicht von der Kritik aus.

Die Widersprüche im zeitgenössischen Menschenwürde-Diskurs

Nicht nur zeigt Lohmar die logischen Fehler im rhetorisch stilisierten Menschenwürde-Diskurs auf, sondern vermittelt damit zugleich auch die Schizophrenie der gesamten, vielfach anti-aufklärerischen Neigung der politischen Philosophie und der Ethik, sofern unter dem Deckmantel der (scheinbaren) Wissenschaftlichkeit Begriffe lediglich unhinterfragt verwendet statt erarbeitet werden. Das heißt nicht nur: Wir sprechen allzu oft mit Begriffen statt über sie. Es heißt auch: Selbst dann, wenn Philosophen – die es besser wissen sollten als philosophisch und linguistisch Unbewanderte – vorgeben, über Begriffe zu sprechen, verstricken sie sich in Paradoxien, weil sie zugleich mit diesen Begriffen über diese Begriffe sprechen. In den Thesen anderer Philosophen, die Lohmar exemplarisch heranzieht, wird deutlich: Hier wird bereits vorausgesetzt, was nirgendwo zuvor kritisch hinterfragt oder überhaupt erklärt wurde. Das liegt daran, dass dem Menschenwürde-Begriff zirkuläre Definitionen zugrunde gelegt werden, etwa: „Wer rational denken kann, hat Menschenwürde, und sich vom Begriff der Menschenwürde zu lösen, ist rational unmöglich“, „Menschenwürde ist etwas, das allen Menschen zukommt“ oder auch „Menschenwürde ist das Recht, menschenwürdig behandelt zu werden“. Auch kann man nicht einfach behaupten, Menschenwürde sei mit Autonomie gleichzusetzen oder mit Technologie, Fortschritt, Wissenschaft, der Fähigkeit zur Selbstachtung oder irgendeinem anderen Element, das man ihr willkürlich zur Existenzbedingung macht. Man kommt als kognitiv funktionierender menschlicher Denker nicht weit, wenn man so anfängt, und verwehrt sich außerdem, so der Autor, einer aufklärerischen Haltung, indem man wie im obigen Beispiel, die Kritik an diesem Begriff für rational unmöglich erklärt – dabei ist sie ja offenbar möglich.

Bei einer Analyse obiger Thesen stellt der Autor immer wieder erfolgreich heraus, dass es sich bei den Grundlagen derselben um ein „durch inkohärente Begriffe korrumpiertes, pseudo-rationales Denken“ handelt, das nicht nur im alltäglichen Duktus gängig ist, sondern auch Einzug in die philosophische Disziplin erhalten hat. „Menschenwürde“ gehört als Begriff zu diesen Verirrungen: Weder ist das ein philosophisch konsistenter Begriff noch lassen sich aus diesem Begriff, der selbst unbestimmt und dysfunktional ist, irgendwelche Verpflichtungen oder Rückschlüsse auf die Welt und unser moralisches Handeln ableiten. Selbst dann, wenn „Menschenwürde“ ein Begriff ist, der zu funktionieren scheint, darf man den praktischen Gebrauch des Begriffs nicht mit dem Begriff selbst gleichsetzen. Das Problem des konservativen Skeptizismus ist es, von dem Begriff aufgrund eines solchen moralischen Irrtum heraus nicht abweichen zu können.

Wie man Aufklärung verhindert: Menschenwürde als „Errungenschaft“

Es handelt sich folglich nicht lediglich um ein linguistisches Problem. Wird es als solches interpretiert, machen es sich Philosophen zu einfach und geraten in die oben skizzierten Fallen. „Menschenwürde“ ist nicht nur aus linguistischer Sicht ein inkohärenter Begriff (sonst könnte man sich eben auf eine Definition und Verwendung einigen und damit hätte sich’s endlich), sondern krankt an seiner pseudowissenschaftlichen Verteidigung sowie an seiner unsauberen Generierung im Diskurs selbst – dazu zählen auch andere Begriffe mit „Mensch“-Präfix, etwa „Menschenrecht“. Das zeichnet Lohmar mehrfach sehr detailliert nach. Der Menschenwürde-Diskurs ist durchzogen von Idiomen und Idiosynkrasien, die die Wertung des Begriffs „Menschenwürde“ beeinflussen und damit den Diskurs vorbelasten. So etwa das Identitäts-Idiom, das auch für andere anthropozentrisch belastete Positionen genutzt wird: Die Behauptung, etwas sei „identitätsstiftend“, gehöre zu „unserer Identität“, sei „konstitutiv“ für dieselbe und nicht zuletzt „im modernen Denken verankert“ ist im zeitgenössischen philosophischen Duktus mit dem verzweifelten Versuch gleichzusetzen, positive Konnotationen dort zu erzeugen, wo Argumente längst nicht mehr greifen. Die Frage desjenigen, an dessen Denken ein aufklärerischer Zug ohne Stopp vorbeigerast ist, lautet: Wenn es zu „unserer“ Identität gehört und im „modernen“ Denken verankert ist, wie kann es falsch sein? Nur wenige kämen hierüber in Zweifel – mit dramatischen Konsequenzen. Personen, die den Begriff „Menschenwürde“ nutzen, als sei damit etwas gesagt – und vor allem etwas ausnahmslos Gutes –, befinden sich, so schreibt Lohmar, in der intellektuellen Abhängigkeit des Gehorsamen, der Überzeugungen nur deshalb vertritt, weil es der moralischen und diskursiven Norm entspricht, diese Überzeugung ohne Bedarf einer Rechtfertigung offen zu verteidigen – ohne sie tatsächlich zu verteidigen. Und zwar nicht, weil die logischen Mittel zur Verteidigung des inkohärenten Begriffs nicht hinreichend eingesetzt werden, sondern weil man einen inkohärenten Begriff überhaupt nicht mit logischen Mitteln verteidigen kann! Wer das glaubt, dessen Argumentation unterliegt einer epistemischen Täuschung. Was hier nur angedeutet werden kann, führt Lohmar eindrucksvoll – da exakt, entlarvend und stringent – an zahlreichen Beispielen aus der zeitgenössischen Philosophie vor.

Nicht zuletzt ist seine Analyse und Interpretation des kantischen Aufklärungsbegriffs unserer Zeit und ihren begrifflichen Paradoxien mehr als angemessen und ehrlicherweise sogar überlegen. Es empfiehlt sich, Lohmars Ausführungen selbst zu lesen. Wer mit den inhaltlichen Ausführungen aus absurden und irrationalen Gründen nicht einverstanden ist, kann hier wenigstens lernen, wie man argumentiert, ohne in epistemische Zirkularitäten und argumentative Inkonsistenzen zu gelangen. Das Buch wird also vor allem Philosophierenden nützen, die vielleicht ohnehin zu diesem Buch gegriffen hätten. Einen Raum in der viel zu rasanten, unsauberen und aggressiven öffentlichen Debatte wird Lohmars 400-seitiges Gehirnmassagegerät allerdings nicht finden, obwohl es fähig wäre, kräftig an der Grundlage einer sehr alten, verhärteten Gewissheit zu rütteln: Dass der Mensch das Maß aller Dinge sei und irgendeine Sonderstellung qua seiner Menschlichkeit innehabe, die man dann „Menschenwürde“ nennt und besser nicht weiter fragt. Da diese Haltung auch für andere moralische Fragen gefährlich ist, zeichnet der Autor nach, was es bedeutet, konservativ zu sein und sich gegen aufklärerische Stimmen zu wehren. Im letzten Teil des Werkes gibt es so auch einen längeren Hinweis darauf, was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn kritische Stimmen unterdrückt werden, um die Scheinheiligkeit eines moralischen Diskurses zu wahren.

Lohmars Text ist kein Plädoyer in dem Sinne, das hinter dem Begriff „Menschenwürde“ liegende Bedürfnis auszublenden. Dennoch handelt es sich um eine scharfsinnige Abrechnung mit den logischen Brüchen, die entstehen, wenn man krampfhaft an einem Begriff festhält, der weder durch eine ontologische Entsprechung in der Welt noch durch eine diskursive Konsistenz getragen wird, sondern vielmehr ein Dogma zum Ausdruck bringt, das sich logisch nicht verteidigen lässt. Einen Begriff aufzugeben ist, das betont Lohmar deshalb mehrfach, etwas anderes als einen Begriff nicht zu nutzen.

Welche Erkenntnisse braucht der Menschenwürde-Diskurs nun also?

In der Kürze einer Rezension können nicht die eigentlich so wertvollen und zahlreichen Einzelheiten einer Publikation löblich erwähnt werden. Auf einige Klarstellungen Lohmars, die den Menschenwürde-Diskurs stark verändern könnten, soll hier aber dennoch eingegangen werden:

(1)   Wenn man nicht genau sagen kann, was Menschenwürde ist, kann man auch nicht sagen, dass sie wichtig für irgendetwas ist.

Das ergibt Sinn. Nur, weil ich denke, dass es Kladderadatschfidelbumm-Elefanten schon geben wird, aber nicht genau weiß, was sie sind, kann ich nicht behaupten, dass Kladderadatschfidelbumm-Elefanten eine moralische Bereicherung für die Fauna seien. Mache ich aber. Mein Nachbar allerdings glaubt nicht an diese Spezies, also sind auch ihre fragwürdige Definition und ihre von mir behauptete Wichtigkeit vollkommen egal. Damit diskriminiert er aber nicht meine geliebten Elefanten, sondern stellt nur infrage, dass sich mein Begriff dieser Lebewesen auf irgendetwas bezieht. Warum ich nicht davon loskomme, in einer bestimmten Weise über einen gesetzten Begriff zu sprechen, erklärt Lohmar im Anschluss:

(2)   Die Illusion, ethisch vorteilhafte Konsequenzen eines insgesamt spröden, anthropozentrischen Begriffs würden implizieren, dass der Begriff selbst eine moralische Errungenschaft (trotz seines offensichtlichen Anthropozentrismus) sei, führt zu einer konservativen Haltung, die in ihrer Starrheit verhindert, dass die Kritikfähigkeit des Begriffs überhaupt in Betracht gezogen wird.

Es versteht sich von selbst, dass eine dogmatische Haltung wie die hier beschriebene klassischerweise zu dem Versuch führt, den Kritiker als einen Gefährder der angeblichen moralischen Errungenschaft darzustellen, anstatt zu der Einsicht zu kommen, dass sich die Kritik nicht auf den Egalitarismus der Menschen untereinander bezieht, sondern auf die implizite elitistische Positionierung des Menschen in einem hierarchischen moralischen Axiom qua Begriffsbildung. Wie Achim Lohmar selbst herausstellt, hier in meinen Worten:

(3)   Es ist nicht so, als würde niemand merken, dass „Menschenwürde“ einen „anthropozentrischen Gehalt“ hat. Das ist vielmehr so offensichtlich, und der Menschenwürde-Begriff wird mit einem solchen Stolz und einer Vehemenz verteidigt, dass man davon ausgehen muss, dass Sprecher des Menschenwürde-Diskurses fälschlicherweise glauben, Anthropozentrismus sei etwas Gutes.

Und zwar deshalb, weil es die Interessen der Menschen schütze. Es würde doch aber faktisch die Interessenbefriedigung des Menschen überhaupt nicht behindern, wenn man zusätzlich auch die Interessen anderer Tiere beachten würde. Wer glaubt, dass Menschen und ihrer Würde irgendetwas damit genommen ist, dass man den Begriff erweitert oder ablegt, hat möglicherweise ein viel größeres Problem als nur den vermeintlichen „Angriff“ gegen die Menschenwürde. Der irrationale, quasi-religiöse Glaube, tierethische Positionen implizierten den Verlust des moralischen Handelns gegenüber Menschen, rührt her von einem elitären Menschlichkeitsverständnis, das um jeden Preis den Vorrang menschlicher Interessen vor allem anderen betonen muss. Das ist irrational, denn:

(4)   Der Verlust eines „defekten“ Begriffs ist nicht identisch mit dem Verlust dessen, worauf man den Begriff vermeintlich zu beziehen gedenkt.

Zum Glück. Mein Nachbar kann glauben, was er will, aber ich werde weiter für den Schutz der Kladderadatschfidelbumm-Elefanten kämpfen. Was auch immer das bedeutet. Wir können darüber lachen, aber vielleicht sollten wir lieber weinen. Denn der Hemmschuh des Ganzen ist, dass nicht der Anthropozentrismus selbst widersprüchlich ist, sondern vielmehr die Suche nach einer Eigenschaft, die Menschenwürde verleiht: Dabei kann man nur in Paradoxien gelangen. Eine Eigenschaft, die menschenspezifisch ist, die alle Menschen besitzen und die dem Besitzer automatisch moralischen Status verleiht, gibt es nämlich nicht. Suchen Sie mal, und wenn Sie eine gefunden haben, überweise ich Ihnen sofort zu jedem Monatsersten mein komplettes Gehalt aus der Kladderadatschfidelbumm-Elefantenzucht. Wir haben beide nichts zu befürchten.

Der Menschenwürde-Begriff dient also insgesamt nicht, und das ist für den Diskurs der wirklich schockierende Punkt, allein einer „Erweiterung“ des Würdebegriffs und damit eines moralischen Berücksichtigungsgrundes auf alle menschlichen Individuen unabhängig von Herkunft, Geschlecht und anderem, sondern zementiert zugleich auch die moralische Grenzziehung gegenüber einer viel größeren Gruppe, die einfach qua Begriffsbildung komplett aus diesem moralischen Anspruch exkludiert wird: Alle nicht-menschlichen Tiere fallen heraus. Das liegt am axiomatischen Charakter des Wortes – in dem Moment, in dem ich den Menschenwürde-Begriff nutze, nehme ich die Setzung eines normativen moralischen Systems vor, das auf Ausgrenzung basiert, indem es klugerweise den Schein erzeugt, als sei es lediglich als Inklusion aller Menschen gedacht.

Weshalb sich niemand für Lohmars Buch interessieren wird

Es handelt sich insgesamt um einen unscheinbaren Beitrag zur Forschung, den nur wenige aus den Bücherregalen ziehen geschweige denn überhaupt lesen werden. Das hat mehrere Gründe.

Erstens nimmt der Autor eine Kritik des Begriffs „Menschenwürde“ und dessen Entlarvung als eines nicht nur inhaltlich inkohärenten, sondern auch in seiner pseudo-epistemischen Verwendung fragwürdigen Begriffs vor. Die „intellektuelle Anomalie“, die Lohmar feststellt, ist nicht der Menschenwürde-Begriff selbst, sondern dessen einschränkende Auswirkung auf unser moralisches Denken. Eine solche Kritik will niemand lesen, weil das bedeuten würde, grundlegende Kategorien, in denen wir täglich denken, mit denen wir uns beliebt machen und moralisch auf der sicheren Seite fühlen können, nicht nur zu hinterfragen, sondern diese im Zuge eines aufklärerischen Projekts auch nach rationalen Überlegungen aufgeben zu können. Darauf hat niemand Lust, weil die menschliche Gesellschaft aufgrund der zu hohen Komplexität mancher Begriffe so veranlagt ist, einige derselben (wie zum Beispiel „Menschenwürde“, „Menschenrecht“, „menschlich“) mitsamt der jeweils zugeordneten Konnotation („gut“, „wichtig“, „existiert auf jeden Fall und kommt allen gleichermaßen zu“) unhinterfragt im Alltagsgebrauch zu übernehmen und damit zu hantieren, als sei jedem Sprecher bewusst, worum es sich dabei handelt, wie dieser Begriff zu gebrauchen sei und als besitze man die unumstößliche Gewissheit, dass es eine exakte Entsprechung dessen in der Realität oder ein definiertes kognitives Konzept dessen gäbe, was der Begriff bezeichnen soll. Die Idee der Menschenwürde ist also nicht nur Ursache für ein Sprachspiel, das sich die „Aura eines fortschrittlichen ethischen Bewusstseins zu geben weiß“, das alte inegalitäre Irrtümer „ein für alle Mal überwunden“ hat, sondern auch „Quelle falschen Bewusstseins“, die den weltanschaulichen Blick des Anthropozentrismus einer epistemisch und kritisch orientierten Denkhaltung vorzieht. Deshalb ist Lohmars Publikation nicht nur eine Begriffskritik, sondern auch ein dezidiert aufklärerisches Werk, das die Lesenden ermutigen möchte, kritisch zu denken – unabhängig von normativen Begriffen, die eine implizite Moralvorstellung reproduzieren.

Es ist keine einfache ontologische Kritik, die der Autor vornimmt, womit wir beim zweiten Grund wären, aus dem nur wenige das Buch lesen werden. Die Kritik des Autors lautet nicht einfach: „Menschenwürde habt ihr euch ausgedacht und jetzt sprecht ihr so, als gäbe es sie wirklich“. Das wäre wenigstens leicht verständlich. Seine Kritik lautet auch nicht: „Ihr verwendet den Begriff falsch.“ oder „Ihr versteht ihn falsch.“ Das wäre wenigstens Kritik, wie man sie aus dem Alltag kennt. Und vor allem schreibt der Autor nicht: „Menschenwürde ist etwas, das man ablehnen sollte.“ Dann wenigstens könnten wir uns wieder mal richtig aufregen. Seine Kritik ist viel fundamentaler, komplexer, eleganter und vor allem ist sie aufklärerisch. Von einer solchen Geisteshaltung will niemand mehr etwas wissen, sonst nämlich bräuchten Zeitungen viel mehr Zeit, um gut durchdachte Artikel zu publizieren, gäbe es in Deutschland mehr Philosophen und weniger Juristen in der Politik und die Wahlergebnisse auf dem internationalen politischen Parkett wären abhängig von dem sprachlichen und philosophischen Reflexionsniveau dessen, was politische Vertreter behaupteten, und nicht davon, wer von ihnen am lautesten ruft, dass er in die GroKo will, den größten Raketenvorrat hat oder „Menschlichkeit ist ein wichtiges Gut“ trällert, um dann in ein saftiges Ein-Euro-Schnitzel zu beißen.

Drittens werden dem Autor viele unberechtigte Einwände begegnen – und das gerade von der Seite, über deren argumentative Fehlgeleitetheit er schreibt und die noch nicht einmal versuchen wird, den Anschein zu erwecken, als wolle sie ihn ebenfalls verstehen. Denn das Buch handelt nicht von Menschenwürde – das hätten Sie wohl gern! Philosophen sollen schließlich klare Antworten liefern, indem sie hohle Konzepte brauchbar ausfüllen –, sondern von der „Menschenwürde“ als inkohärentem Begriff, dessen Funktionalität an seiner schiefen Herleitung krankt. Dies aber ist nur der erste Teil. In der zweiten Hälfte nimmt Lohmar eine Kritik des konservativen Skeptizismus vor, die die meisten Leser wohl abschrecken wird.

Der vierte Grund, aus dem kaum jemand das Buch als Anlass begreifen wird, sein oder ihr Denken in Bezug auf den Begriff „Menschenwürde“ und dessen Verwendung zu hinterfragen, liegt auf der Hand: Die meisten Menschen auf der Welt sind Anthropozentriker und sehen in dieser Haltung sogar eine löbliche moralische Einstellung, deren Um- und Abgrenzung sie nicht mehr wahrnehmen (können), bis sie auch radikal speziesistische Einstellungen an sich nicht mehr realisieren, da diese gerade das sind, was auch der Normativität des Menschenwürde-Begriffs zugrunde liegt. Es geht schließlich um die Menschen! Klingt doch gut. Und damit soll gefälligst alles gesagt sein. Wer, wie Achim Lohmar, etwas an der Struktur dieses eindimensionalen Denkens auszusetzen hat, und einwendet, dass die Bindung eines moralischen Anspruchs an das Konzept der Menschenwürde eine argumentative Sackgasse ist, langweilt nur. Auch die vorliegende Rezension wird im Nichts verpuffen. Denn wir Menschen sind uns am Ende des Tages ja alle einig, dass Menschenwürde verdammt wichtig ist. Uns ist die Zirkularität unseres Denkens egal. Also behaupten wir einfach, Lohmar wolle uns in einem bösartigen Zerstörungswillen unsere Würde einfach kaputtargumentieren. Da das Buch aber nun einmal kein Buch über Menschenwürde ist, sondern über ein gesellschaftliches, sich in Begriffen niederschlagendes Problem dahinter, hat es bisher kaum Interesse geweckt.

Wichtig für ein korrektes Verständnis dessen, was Falsches moralisches Bewusstsein will, ist es, zu betonen, dass Lohmar nicht auftritt wie ein Prophet aus dem Philosophenhimmel (das macht nur die Rezensentin), sondern auch die Fundamente seiner eigenen Position als falsifizierbar herausstellt, sofern jede Attribution falschen Bewusstseins – also genau das, was er vornimmt – selbst falsch sein könnte. Das titelgebende „falsche Bewusstsein“ ist ein epistemischer Begriff, erläutert der Autor. In der Form der Zuschreibung eines solchen „falschen Bewusstseins“ kann durchaus ein Fehler liegen. Offen gestanden ist der bei Lohmar aber nicht zu finden. Alle irrationalen Zweifel, die man finden könnte, räumt er aus, bevor man überhaupt darauf gekommen wäre. Die „epistemologische Doppelmoral“ der Gegenseite kennt der Autor besser als die Gegner selbst. Und er nimmt sie schneller und schärfer auseinander als die Gegner sie formuliert hätten.

Ein weiterer für viele Lesende wahrscheinlich entscheidender Punkt ist, dass Lohmar nicht aus einer betont tierethischen Position spricht oder die anthropologische Differenz nicht als solche ausdrücklich ablehnt, aber dass sein Standpunkt für solche Positionen fruchtbar gemacht werden und kritischen Denkern Hilfe leisten könnte, die normativen Verstrickungen des Anthropozentrismus zu entlarven. Lohmar versteht Aufklärung dabei nicht einfach als „Aufruf zum eigenständigen Denken“, denn jedes Denken ist eigenständig, sondern entwickelt einen visionären, fundamental (sprach)politischen Begriff von Mündigkeit, der noch über das hinausgeht, was Immanuel Kant einst den vermeintlich Unmündigen vorwarf. Intelligenz, könnte man resümieren, ist kein zufälliges Geschenk, sondern eine Entscheidung. Und Philosophie bedeutet, keine Angst davor zu haben, obsolete Begriffe auch als solche bloßzulegen.

Nicht allein für die Frage der Menschenwürde gilt das. Ein durch Begriffe generiertes falsches moralisches Bewusstsein findet sich ja auch in sprachlichen Systemen des Rassismus und Sexismus. Der Autor liefert einen wertvollen Beitrag zu der Frage, was überhaupt moralisches Bewusstsein ist. Denn die Tatsache, dass es „falsches“ moralisches Bewusstsein zu geben scheint, das sich auf inkohärente Begriffe stützt, demonstriert, dass moralische Positionierungsoptionen eben nicht einfach nur Ansichtssache sind, sondern einer konkret nachvollziehbaren Herleitung und Rechtfertigung bedürfen, bevor sie quasi-religiös übernommen und ihre Begriffe für ethische Positionen instrumentalisiert werden, an denen konservativ festgehalten wird.

Ein einziger Kritikpunkt, der aber mehr für Lohmars Position als gegen sie spricht: Der Autor schreibt an einer Stelle, bereits der Begriff „Würde“ allein genommen diene einer moralischen Grenzziehung. Ist das wirklich der Fall? Würdevoll thront ja auch der Kaiser im goldenen Sessel, würdevoll steht der Hirsch am Hang und würdevoll ist das Antlitz der Kleopatra. So betrachtet ist „Würde“ vielleicht auch eine ästhetische Kategorie und keine rein ethische. Dass der Begriff „Menschenwürde“ in dieser Kombination plötzlich an eine substantielle ethische Position gebunden ist und „Menschenwürde“, im Gegensatz zu „Würde“, nur noch in moralischen Debatten verwendet wird, ist ein wirklich interessanter Punkt, den Lohmar sich selbst verbaut, wenn er die These aufstellt, Würde sei immer schon ein Begriff, der moralisch gedacht werde. Das aber ist nur eine Kleinigkeit, denn die Konklusion ist nach 400 Seiten dieselbe: Der Begriff Menschenwürde sollte nicht mehr weiter genutzt werden. Wer das weiterhin macht, fällt einem konservativen Skeptizismus zum Opfer, den einige Philosoph_innen teilen: Sie bemerken, dass etwas mit dem Begriff nicht stimmt, aber halten zugunsten einer moralischen Illusion an dieser leeren und defekten Idee fest.

Dieses Buch ist es wert, eine Uni- oder Arbeitswoche zu ersetzen. Lesen Sie auch dann, wenn Sie von der ersten hier vorgestellten Hälfte schon überzeugt sind, auch die zweite Hälfte des Buches und spiegeln Sie Ihren eigenen Aufklärungsbegriff an Lohmars Option. Bleiben Sie zu Hause und erleben Sie eine wirkliche kopernikanische Wende der Denkungsart. Oder, wenn Ihnen das zu anstrengend ist, bleiben Sie einfach bei Kant kleben, halten also einen Suizidversuch für einen Grund, jemandem die ominöse „Würde“ und das Recht auf moralische Gleichbehandlung abzusprechen, und schalten und walten Sie mit Tieren und Bibern, wie Sie es eben wünschen.

Titelbild

Achim Lohmar: Falsches moralisches Bewusstsein. Eine Kritik der Idee der Menschenwürde.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2017.
437 Seiten, 28,90 EUR.
ISBN-13: 9783787331451

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