Adorno und Horkheimer ade! Es lebe die Kulturindustrie!

Benjamin Schaper untersucht „Poetik und Politik der Lesbarkeit in der deutschen Literatur“

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Inspiriert durch die in den 1990er Jahren geführte Debatte, in der politisch und moralisch ambitionierter Nachkriegsliteratur eine mindere ästhetische Qualität attestiert wurde und in Folge deren die „Lesbarkeit“ zu einem der zentralen poetologischen Begriffe der Gegenwartsliteratur avancierte, widmet Benjamin Schaper eben diesem Phänomen seine 2016 an der Universität Oxford vorgelegte Dissertation. Die von Matthias Politycki proklamierte „Neue Lesbarkeit“ sollte die Literatur massenkompatibel machen, indem sie eine Brücke zwischen hoher und niedriger Literatur schlagen soll. Für Schaper ist die Lesbarkeit dagegen einerseits ein Literaturprogramm, andererseits gilt sie als ein zwar vom jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext motiviertes, jedoch an sich universelles Prinzip. Sein Anliegen ist es, die Lesbarkeit als grundlegende poetologische Kategorie sicht- und analysierbar zu machen. In seinem Argumentationsgang bezieht er sich zum einen auf antike Prinzipien von docere, delectare und movere, zum anderen stellt er das Programm der Neuen Deutschen Lesbarkeit der kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno und ihrem Begriff der Kulturindustrie gegenüber. Bei seinen Ausführungen orientiert sich Schaper vorzugsweise an den theoretischen Essays ausgewählter Autoren und Literaturkritiker, also an der Literatur, wie sie zu sein glaubt oder idealerweise sein sollte, viel zu wenig dagegen an der Literatur, wie sie ist. Dabei sind eben diese Textpassagen die wahre Leistung dieser Arbeit.

Einleitend wird eine Parallele zwischen Polityckis Vorschlag der „Simplifizierung bei gleichzeitiger Verkomplizierung“ und der Poetik von Aristoteles gezogen, der ebenfalls eine stilistische Klarheit ohne Banalität forderte. Dem folgen (Kap. 1) einige Bemerkungen zur Narratologie (u.a. von Monika Fludernik und Greta Olson), deren Funktion jedoch vielmehr in der Rechtfertigung der eigenen Vorgehensweise, insbesondere des Rückgriffs auf die Antike, zu liegen scheint, als darin, das Phänomen der Lesbarkeit zu er- und zu begründen. Schaper entzieht sich überdies dem Anspruch, die Lesbarkeit als statische Kategorie zu begreifen, die es ermöglichen würde, die literarischen Werke schlicht als lesbar oder unlesbar einzustufen. Stattdessen nutzt er die antike Poetik als Referenzsystem, um der Frage nachzugehen, „inwiefern ein Rückgriff auf das klassische Erzählen die Lesbarkeit eines Textes beeinflussen kann.“ Denn „den Text für den Rezipienten verständlich zu gestalten, ist insgesamt eine inhärente Grundfunktion der Rhetorik und das primäre Ziel des Lesbarkeitsdiskurses“. Im zweiten Kapitel führt er eine diachronische Untersuchung des Lesbarkeitsbegriffs durch, die vom frühen 18. Jahrhundert bis zur neueren deutschen Literaturgeschichte reicht und bei der er die Herausgebervorworte verschiedener Journale heranzieht, die die Lesbarkeit der Texte betonen und/oder die Unterhaltungsfunktion der Literatur und die Orientierung am Publikumsgeschmack diskutieren. Obwohl diese Ausführungen für die Argumentation nicht zwingend nötig sind, veranschaulichen sie, dass sich die Einschätzung der Unterhaltungsfunktion stets zwischen ihrer Ablehnung und Bejahung bewegte und die Frage nach der Qualität unterhaltender Texte eine lange Tradition aufweist. Dennoch hätte man Schapers Schlussfolgerung, das Interesse des Verlegers einer Zeitschrift richte sich darauf, möglichst viele Leser zu erreichen, auch kompakter ausarbeiten können.

Die Unterhaltungsfunktion diente den Vertretern der Neuen Deutschen Lesbarkeit um 1990 hauptsächlich dazu, die deutsche Gegenwartsliteratur im In- und Ausland erfolgreicher zu machen. Als grundlegender theoretischer Text wird im dritten Kapitel hierfür Leselust (1996) von Uwe Wittstock angeführt. Es ist allerdings bedauerlich, dass Schaper Wittstocks Ausführungen nicht mit dessen Debütroman Weißes Rauschen (2016) kontrastiert, denn ein solcher Vergleich hätte einen differenzierten Blick auf die Umsetzung seiner Prämissen ermöglicht. Anschließend werden mehrere Essays von Wittstock, Politycki und Hielscher referiert, anhand deren Schaper sein Urteil fällt, dass Lesbarkeit sich in der Breitenwirkung der Literatur spiegelt und kein Anzeichen für mangelnde Qualität sei. In dem darauffolgenden Kapitel befasst sich Schaper mit Texten von Helmut Krausser, Daniel Kehlmann und Thomas Glavinic, was ihn zu der These führt, dass das Eintreten für die Lesbarkeit mittlerweile zu tiefgreifenden poetologischen Entwicklungen in der deutschsprachigen Literatur geführt habe, die auch von der Literaturkritik befürwortet würden. Schaper zufolge speise sich Kraussers Auffassung von Lesbarkeit „aus der Konstellation zwischen Autor, Werk und Leser: zugunsten der Bedürfnisse der Leserschaft verabschiedet er die idealistische Freiheit der Kunst, sich auf rein ästhetische Qualitäten zu konzentrieren.“ Nebenbei erwähnt, hat sich Schaper anscheinend von Kraussers erster Münchner Poetikvorlesung inspirieren lassen, in der Krausser eine Pathostradition nachzeichnet, die mit Aristoteles, Cicero und Quintilian beginnt und bis zur Verurteilung des Pathos als nationalsozialistisches Stillmittel durch die deutsche Nachkriegsliteratur reicht. Glavinics „lesbarer“ Roman Melodien (1993) weist zudem auffällige Parallelen zu Thomas Manns Roman Der Zauberberg auf, der von Schaper wiederum als ein schwer lesbares Buch bezeichnet wird, das beim Rezipienten ein hohes Maß an Bildung voraussetze. Zudem zeige „die Formulierung »Ich kann Sie versichern«, dass die Lesbarkeitsdebatte stets an einen temporalen Aspekt gebunden ist. Rein linguistisch gesehen ist Manns Satzanfang nach der gegenwärtigen Grammatik in diesem Kontext nicht korrekt und widerspricht dem Prinzip der Sprachrichtigkeit.“ So erweitert Schaper seine Definition der Lesbarkeit (stillschweigend) um grammatische Korrektheit. Schließlich schlussfolgert er, die Debatte um die Lesbarkeit habe das Repertoire der qualitativ hochwertigen Literatur nicht erweitert, sondern ein Umdenken eingeleitet: Autoren könnten nun Mittel wie Kitsch nicht nur verwenden, sondern deren literarisches Potential ausschöpfen, ohne sich für deren Verwendung vor der Kritik rechtfertigen zu müssen. Mit seinem Rekurs auf Felicitas Hoppes und Ulrike Draesners Poetologien (Kap. 5) will Schaper aufzeigen, dass beide Autorinnen trotz der kritischen Haltung in ihren Werken gegenüber der Lesbarkeit auf deren Techniken rekurrieren. „Zusammen mit der zumeist wenig konzipierten syntaktischen Gestaltung durch Parataxen und im letzten Teil auch mit der analeptischen Einleitung der Sätze […] sichert Draesner [in Sieben Sprünge] mit der eindeutigen Zuteilung und semantischen Aufladung der Hell-Dunkel-Dichotomie die Lesbarkeit und Verständlichkeit des Textes, was an die von Hoppe im Iwein zur leichteren Orientierung eingesetzte Farbgebung erinnert.“ Hier ist jedoch kritisch zu hinterfragen, ob man sich als SchriftstellerIn dem roten Faden und der Verständlichkeit wirklich entziehen will? Außerdem wurde an dieser Stelle nicht näher definiert, welche Aspekte der Lesbarkeit die Autorinnen ablehnen, die Verständlichkeit, die Breitenwirkung oder die Orientierung am Geschmack des Lesers? Zum Schluss wird Draesner als die Bestreiterin neuer Wege der Lesbarkeit angepriesen, die durch die Nutzung einer Internetseite zur Umsetzung von Lesbarkeit beitrage, indem sie den LeserInnen online weiterführende Informationen zum Roman liefert, die das Verständnis der Texte steigern und es den LeserInnen sogar erlauben, sich am Text kreativ zu beteiligen. Sowohl Hoppes als auch Draesners Werke bestätigen Schaper zufolge „den poetologischen Einfluss von Lesbarkeit auf die deutsche Literatur im frühen 21. Jahrhundert.“

Hervorzuheben ist hier Schapers Analyse der Erzählstrategie in Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt. So nutzt Kehlmann u.a. die Chronologie der Lebensläufe der Hauptfiguren als den roten Faden, variiert die Darstellung der Figuren zwischen Privatperson und Genie und stattet sie mit privaten Mängeln aus, um sie für das Publikum menschlicher erscheinen zu lassen. Sehr interessant ist auch zu beobachten, wie einige Autoren miteinander kooperieren und es mithilfe verschiedener Kommunikationskanäle schaffen, den Geschmack der Massen nachhaltig zu beeinflussen. Zudem veranschaulicht die Analyse der Essays und Poetikvorlesungen, wie tief die Frankfurter Schule und Adornos und Horkheimers Kritik an der Kulturindustrie im kollektiven Bewusstsein der Literaturschaffenden verankert ist. Denn in allen herangezogenen Texten lässt sich ein Versuch der Rehabilitierung der Unterhaltungsfunktion erkennen, wohl, um die eigenen Werke nicht im Bereich der Trivialliteratur platziert zu sehen.

Trotz ihrer interessanten Ansätze weist die Arbeit einige Schwächen auf, die hier nicht verschwiegen werden sollten. Eine davon ist die fehlende Stringenz der Argumentation, was damit zu begründen ist, dass Schaper keiner einheitlichen Definition von Lesbarkeit folgt. Zwar macht er Aristoteles᾽ Anforderungen an den Text als die Grundlage der Lesbarkeit fest, doch gleichzeitig betrachtet er die Lesbarkeit als eine dynamische Größe, die nicht am Text festgehalten werden kann. Mal argumentiert er mit der Breitenwirkung, mal mit einem klar geschriebenen Text, mal mit dem Erfolg beim Publikum und mal mit der grammatischen Korrektheit oder der Übersetzbarkeit in andere Sprachen, meistens ohne dabei das gerade eingesetzte Verständnis von Lesbarkeit offenzulegen. Des Weiteren erfolgt der Bezug auf die kritische Theorie von Adorno und Horkheimer nur durch eine Abgrenzung von dem verpönten Begriff „Kulturindustrie“, ohne dass auf den entsprechenden Quellentext und seine Argumente näher eingegangen wird. Gleichsam schwierig erscheint der Versuch, die Lesbarkeit am Erfolg beim Publikum messen zu wollen. In einem Umkehrschlussverfahren müsste das nämlich bedeuten, dass erfolgreiche Bücher allesamt lesbar sein müssten. Dabei ist der an Verkaufszahlen gemessene Erfolg eines Romans oft guten Marketingmaßnahmen zu verdanken. Schließlich verursachen zahlreiche Wiederholungen den Eindruck, dass immer wieder dieselben Argumente vorgeführt werden, und der Versuch, alle möglichen Meinungen zum Thema anzuführen, ein gewisses Durcheinander. Hier wäre eine noch stärkere Bündelung der jeweiligen Positionen von Vorteil.

Zudem erschwert die ungewöhnliche Benutzung des Wortes „Desiderat“ die Lesbarkeit der Arbeit. Laut Duden bedeutet Desiderat „etwas, was fehlt, Erwünschtes“. Im gängigen Gebrauch kommt das Wort „Desiderat“ als eine meist in der Wissenschaft festgestellte Lücke vor, die zu schließen wünschenswert ist. Doch Schaper benutzt dieses Wort auffällig oft in der Bedeutung „Erstrebenswertes“ bzw. sogar als „Forderung“, wie z.B.: „Eine leichte Verständlichkeit ist aufgrund des formulierten Bildungsauftrags für breite Bevölkerungsschichten ein zentrales Desiderat“ oder „Schiller bindet das Schönheitsdesiderat untrennbar an formelle Aspekte“ oder auch „Fontanes Realismusbegriff jedoch versieht Lesbarkeit mit einer hohen ästhetischen Qualität, die er durch den Einfluss der Rhetorik legitimiert, der Klarheit, Anschaulichkeit und leichte Verständlichkeit sowie Publikumsaffinität zum Desiderat werden lässt.“ Ob der Autor damit seine Thesen ex negativo bestätigen wollte?

Bei seinen Ausführungen berücksichtigt Schaper ausschließlich „höhere Literatur“, wobei erst ein Vergleich mit der Genre-Literatur seine Vermutungen hinsichtlich der Unterhaltungsliteratur ausreichend belegen könnte. Die Auswahl der Romane und Autoren, die als Kontrollgruppe gewählt wurden, erscheinen beliebig. So greift er u.a. auf den Jugendroman Iwein von Felicitas Hoppe zurück und stellt ihn als Beispiel für ein lesbares Buch dar, das einen leichten Zugang zum historischen Stoff bietet. Dabei ist Jugendliteratur per se weniger komplex geschrieben als Literatur für Erwachsene. Oder soll dies als ein Appell gelesen werden, für Erwachsene wie für Kinder zu schreiben? Zielgerichteter wäre hier statt der Jugendliteratur vielleicht Pop- oder Genreliteratur zu untersuchen.

Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass es sich bei dem besprochenen Werk um eine Auffächerung des Begriffs Lesbarkeit handelt. Der überwiegende Zugang ist autorpoetisch, denn Schaper bedient sich, um den Begriff der Lesbarkeit zu beleuchten, der Schriften (meist der Poetikvorlesungen) der Autoren selbst. Er sieht bei den deutschsprachigen Autoren Indizien dafür, dass sie genau das realisieren, was Aristoteles fordert. Die Rettung der deutschsprachigen Literatur sieht Schaper in der Textleichtigkeit, wie sie bei den anglo-amerikanischen Schriftstellern schon seit Langem gang und gäbe sei. Denn das Ziel der Lesbarkeitsdebatte sei, „die Literatur vermehrt in den öffentlichen Raum zu tragen“.

Das Buch ist denjenigen zu empfehlen, die sich für das Netzwerken und seine Macht interessieren. Denn vor allem die Analyse der Bemühungen dreier Autoren zur Durchsetzung der Prinzipien der Neuen Deutschen Lesbarkeit wirft ein interessantes Licht darauf, wie der Geschmack des Publikums geformt wird. Auch die Analyse von Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt zeigt überzeugend, welche Erzähl- und Konstruktionsverfahren die Beliebtheit eines Romans bei seinen LeserInnen erhöhen können. Eine weitere wichtige Erkenntnis dieser Arbeit ist die Einsicht, dass die Erforschung der Neuen Deutschen Lesbarkeit, zumindest in Deutschland, noch nicht weit fortgeschritten ist. Doch mit dieser Arbeit ist – trotz einiger Schwächen – ein guter Anfang gemacht.

Adorno und Horkheimer argumentieren, dass die Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Konsumenten zum Verlust der Autonomie der Kunst und ihrer poetischen Qualität führen würde, denn die Autoren würden ihre Werke in den Dienst des Publikums stellen und diese so ihrem Geschmack anpassen. Dabei wollen jüngere Autoren - so Schaper - nur „zurück ans Lagefeuer und eine Geschichte erzählen, die man einfach gern liest.“ Hoffentlich entstehen dabei keine Gruselgeschichten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Benjamin Schaper: Poetik und Politik der Lesbarkeit in der deutschen Literatur.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2017.
264 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783825367329

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