Viele Worte – keine Taten

Benjamin von Wyls Erstling „Land ganz nah. Ein Heimatroman“ überanstrengt den gewillten Leser

Von Philipp JogwichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Jogwich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Wyl ist ein wahrer Tausendsassa: Deutsch- und Geschichtsstudium in der Schweiz, danach Editor bei VICE, Dramaturg, freier Journalist. Mit Land ganz nah erscheint nun sein erstes literarisches Werk. Überzeugen kann es nicht.

Es könnte sich um den Sommer 2015 handeln, als hunderte, tausende Flüchtende über die Balkanroute nach Mitteleuropa strömen. Benjamin von Wyl fokussiert dabei in seinem Heimatroman aber ein Land, das von „Obergrenze“ und „Wir schaffen das!“ nur aus den Nachrichten weiß: die Schweiz.
Zur Handlung: Da wäre ein drogennehmender, daueralkoholisierter Student und Onlinejournalist, dessen Namen wir nicht erfahren. Dieser hat eine locker-offene Beziehung zu der im Vollrausch kennengelernten Journalistin Karola. In diese On-Off-Beziehung, die nicht zuletzt an der Entfernung Basel-Zürich verzweifelt, mischen sich die ersten Meldungen über strandende Flüchtlinge im Zwischendeck des Hauptbahnhofs in Zürich. Es kommt zu Protesten von beiden politischen Meinungslagern.

Auf 160 Seiten brennt von Wyl ein sprachliches Feuerwerk ab, das den Normalleser überfordert. Schwiizerdütsch/Schweizerdeutsch ist dabei Voraussetzung: Viele handelnde Figuren sprechen miteinander in weiten Teilen Schwiizerdütsch, darunter auch die Hauptfiguren. Zwar finden sich über Fußnoten Übersetzungen. Diese befinden sich aber viel zu häufig auf der nächsten Doppelseite oder geben direkt den Inhalt von mehreren Unterhaltungen wieder, wie hier:

„Wolltest du mir vorher etwas sagen? Ja? Hä? Was? Schau, es ist der falsche Kreis, um Leute anzuficken, ich kenne die richtigen Leute.“- „Tschuldigung, was ist los?“ – „Vorher, du weißt genau was.“- „Okay“- „Du weißt es! Musst einfach aufpassen.“ – „Pass auf, gell?“ Ich stech dich grad ab! Verdammte Szene-Tusse.“ – „Ich denke nicht, dass es Rassismus war. Sonst hätte er anderes Zeug gesagt.“- „Zürich…“

Nun könnte man über den Satz des Drucks schimpfen und den stilistischen Kniff des Schwiizerdütsch loben. Immerhin kann ein versierter Leser schnell darüber hinweglesen. Monologe sind dagegen auf hochdeutsch verfasst und somit problemlos lesbar. Traurig inkonsequent und ohne Witz. Das Potpourri aus stilistischer Willkür und undifferenzierter Figurensprache ist derart vorherrschend, dass anfangs und gegen Ende überhaupt nicht klar ist, wer sich äußert: Die Figuren haben weder Profil noch eine differenzierte Sprache. Ein rein männlich konnotierter Schreibstil überlagert jegliche Möglichkeit Charakterschärfe zu erkennen. Zudem bleibt ungewiss, ob man die Art des Äußerns als Bewusstseinsstrom oder als eine andere Art der Äußerung verstehen soll:

„Menschen aufwärts. Menschen abwärts. Noch eine Zigi. Alles in Rottönen, die Fassaden schräg. Die Design-Inseln. Nächste Woche fahre ich nach Kopenhagen, da kann ich abschalten. Er sagt mir das einfach so. Er klemmt es einfach ab. Klemmt mir auch die Möglichkeit ab, dass ich wütend werde. […] Ich mag mich nicht dafür, dass ich das gesagt habe.“

Weiterhin finden sich zahlreiche Stilblüten wie „Ich ziehe den bronzenen Stretchstoff hoch und pisse an die erste Hauswand, die in mein Sichtfeld gerät, auf dem Vorplatz.“ Diese bremsen den Lesefluss und veranlassen zum Fremdschämen über die Sinnlosigkeit des Ich-Erzählers und seiner Gedanken. „Beziehungen sind wie Klettverschlüsse. Jemand klammerte, jemand ist unantastbar.“

Häufig stellt man sich die Frage, was eigentlich passiert, wer was von Beruf ist, wer überhaupt was sein will, ist und war, was war und was überhaupt ist. Ursache für diese Problematik ist das willkürliche Einführen von Personen ohne Erklärung zu Rolle, Aussehen, Hintergrund oder politischer Überzeugung. Das mag erzähltheoretisch einer internen Fokalisierung gleichen, verkompliziert jedoch das Lesen unnötig.

Der Plot wird zudem nicht durch die Charaktere aufgenommen oder widergespiegelt. Die Journalistin Karola hat keine Charaktertiefe, keine eigene Stimme, die sich von den anderen unterscheidet, Emotionen flammen nur stoßweise auf. Der namenlose Protagonist verkommt zunehmend zu einem Schwafler ohne Job, in einer lockeren Verbindung zu Karola. Er schwebt grundlos melancholisch durch die Welt ohne jemals Halt zu finden. Dazu kommen der Dauerdrogenrausch und die Dauerpassivität. Wie eine Steinsäule steht der Ich-Erzähler neben jeglicher Situation. Jeder interagiert und spricht mit ihm, doch handeln tut er nicht. Beinah will man ihm „lebe“ zuschreien. Die On-Off-Beziehung der beiden Protagonisten nervt zutiefst. Man steht als Leser verwirrt daneben, weil man sich noch nicht einmal sicher ist, worauf diese Beziehung aufbaut.
Zudem verlangt der Roman ein großes Vorwissen über technische Innovationen wie Twitter sowie deren Streamingapp „Periscope“. „Pokémon“ und das Kartenspiel „Magic“ finden ebenso Erwähnung ohne Erklärung. Eingebracht werden diese Begriffe dabei ohne Notwendigkeit.

Benjamin von Wyls Roman hat seitens des Stoffs Potenzial. Der Umgang der Schweiz mit Flüchtlingen ist ein spannendes Thema, das klare strukturelle, gesellschaftliche und politische Unterschiede z.B. zu Deutschland aufzeigen kann. Leider überlagern zu viele literarische Fehlgriffe und Unsicherheiten diese spannenden Einblicke. Wirklich schade; der Schweiz kommt man so über eine Toblerone näher als mit diesem „Heimatroman“.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Benjamin von Wyl: Land ganz nah. Ein Heimatroman.
lector books, Zürich 2017.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783906913124

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