Absoluter Mangel an Kunstunbewusstheit

Walsersche Geschichten aus und über Berlin

Von Alexandra RichterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Richter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die hier versammelten Berlin Stories von Robert Walser sind kein poetisches „Sightseeing“, wie es der Klappentext werbetauglich verspricht. Von Berlin erfährt man recht wenig, aber das Walsersche Wenig ist gerade das Interessante. Da fährt einer mit der Elektrischen durch die Stadt und wundert sich über das „besetzt“-Schild. Ein anderer stellt sich auf eine der vielbefahrenen Straßen der Großstadt und schaut, wer da so vorbeieilt. Oder er steht im Bahnhof herum, zu arm zum Verreisen und desto begieriger, „die Reisenden, die ankommen und fortgehen, gemütlich betrachten zu können“. Es gibt absolut unspektakuläre Beschreibungen der Luft in der Friedrichstrasse und vollkommen banale Gedankengänge über Alltägliches. Die Eindrücke sind allesamt lose verbunden, mehrheitlich nichtssagend und doch mit einem spitzbübischen Vergnügen an dieser Bedeutungslosigkeit, sodass man unweigerlich darüber lächeln muss.

Kaum einer wird sich beim Lesen wie Franz Kafka „vor Lachen kaum mehr halten“ können, und manchen wird das seitenweise hingeworfene, rotzig-trotzige Geblödel und Geplänkel wohl auch ärgern. Doch der unbeirrte Leser wird für seine Geduld belohnt: Immer wieder findet sich eine goldene Nadel unter dem Heuhaufen. So die absolut poetisch daherkommende, formvollendete und wie ein Denkbild anmutende Miniatur Vom Zeitungslesen. Oder das berührende Porträt der alten, hässlichen, geizigen und dennoch rührenden Millionärin Frau Scheer. Der Schalk spricht auch aus Für das Lebensbild des Kaisers Wilhelm, in dem Walser dem Helden, „der den Weltkrieg verlor“, ein abgründiges Denkmal setzt. Denn da ihn „Mängel stärker interessieren oder erwärmen als die Fähigkeit, rücksichtslos zu sein, die ja eigentlich gar keine Eigenschaft ist, sondern das absolute Nichtvorhandensein derselben“, gleitet er von der Schilderung einer wohl imaginären Begegnung mit dem Kaiser im Auto, vor dem er „schlichtbürgerlich“ (man würde eher meinen „schildbürgerlich“) den Hut zieht, ab und folgt einer wortwörtlich dahergelaufenen Frau, „die ein Schneiderkleid trug und schmal aussah und ein Billet, einen Brief oder sonst etwas Schriftlichscheinendes in der Hand trug“, bevor er dann „zu etwas Weicherem, Lieberem“ abschweift, einem Pfarrer, dessen Todesanzeige er gerade las und den er als Knabe gekannt hat.

Dieses Daherplappern ist alles andere als natürlich und Walser versucht auch gar nicht, Anmut in seinen Stil zu bringen oder das Ungereimte zu kaschieren. Er posiert gerne und gefällt sich in der burschikosen und flapsigen Freilegung seines fehlenden Kunstwillens. Wie der Bär aus Heinrich von Kleists essayistischer Erzählung Über das Marionettentheater reagiert er nicht auf Finten und zeigt sich unbeeindruckt von jeglicher Kunstfertigkeit, die nicht einem ernstgemeinten Stoß dient. So steht denn auch in der „Porträtskizze“ des Prinzen von Homburg: „Übrigens hat er seine Rolle auswendig gelernt, reiner Überfluss, sich die Stellen gemerkt, wo sein ganzes prinzlich homburgischen Wesen zum Durchbruch kommen soll, absoluter Mangel an Kunstunbewusstsein.“ Viel vom Autoporträt ist in dieser „bezaubernden Naturburschenhaftigkeit“ des Prinzen, der nicht aus seiner Rolle fällt, sondern darin ganz aufgeht. Man ist unweigerlich an Walter Benjamins Bemerkung erinnert, die Walserschen Figuren hätten den Wahnsinn „hinter sich“ und blieben deshalb „von einer so zerreißenden, so ganz unmenschlichen, unbeirrbaren Oberflächlichkeit“ wie sie nur Geheilten innewohnt.

Das Nachwort von Clemens J. Setz kommt sehr selbstgefällig, ganz im Walserschen Stil daher: „Was weiß ich über Berlin? Eigentlich nichts. Man hat mich einige Male dorthin eingeladen. Ich kenne Straßennamen, aber auch die bringe ich schnell durcheinander. Vielleicht erschien ich deshalb den Herausgebern dieses Bandes als geeignet für das Verfassen eines Nachworts“. Dennoch vermag  es, nebst allerlei freien Assoziationen, auch einige wesentliche Schlaglichter auf Walsers Werk zu werfen. So eine Beschreibung von Willy Haas, dem mit Kafka befreundeten Literaturkritiker, die an das unbestimmbare und unheimliche Wesen Odradek aus der Erzählung Die Sorge des Hausvaters erinnert. Heißt es dort, dass das Ganze „zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen“ erscheint, so schrieb Haas 1962 in der Welt über Walsers Werk: „Es war wie ein kompliziertes kleines Ding aus Draht, Bindfaden und Holzstückchen, das plötzlich vor einem im dunkeln Treppenhaus liegt und von dem man nicht genau weiß, ob es ein bloßes Spielzeug ist, das kleine Kinder sich zusammengebastelt haben oder nicht vielleicht das getreue Modell des Mikrokosmos von Paracelsus.“

Auch auf diese Berliner Geschichten trifft diese Beschreibung zu. Sie sind ein undefinierbares Etwas zwischen selbstgebasteltem Spielzeug und perfekter Miniatur. In ihnen kommt die Stadt in der einen oder anderen Weise vor, als Diebin, als Dekor, als Riesin, die ihre Locken schüttelt, oder in Form exemplarischer Erscheinungen (der Löwe im Zoo, der Tiergarten, et cetera). Ohne ein Genre zu bilden und ohne einer bestimmten Epoche zuzugehören (zum Beispiel dem achtjährigen Berlinaufenthalt Walsers von März 1905 bis 1913, während dem er drei Romane geschrieben und veröffentlicht hat), bietet der Band eine ideale Einführung, mehr noch eine Verführung zur Walser-Lektüre. Sehr zu empfehlen für Beginners, Dummies und wie die Kategorien alle heißen. Ganz besonders aber für Gestresste, denen diese Texte aus der entschleunigten Welt einfach nur gut tun werden. Salopp, flapsig, ungeniert wird hier erzählt. Und dann stellt sich, wie Kleist es im Marionettentheater in Aussicht stellt, nachdem die Erkenntnis „gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist“, plötzlich die Grazie ein. Ganz offensichtlich hat Walser, als er feststellte, dass das Paradies verriegelt ist, die Reise um die Welt gemacht. Und siehe da: es war „hinten irgendwo wieder offen“.

Titelbild

Robert Walser: Die kleine Berlinerin. Geschichten aus der Großstadt.
Mit einem Nachwort von Clemens J. Setz. Herausgegeben von Pino Dietiker und Reto Sorg.
Insel Verlag, Berlin 2018.
218 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783458363224

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