Das Unzeitgemäße als Gegen-Programm

Botho Strauß erweist sich in seinem Prosaband „Der Fortführer“ als Fort-Führer – der Literatur, des eigenen Werks und seiner Leser

Von Ralf SchnellRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Schnell

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Botho Strauß hat ein staunenswertes Buch vorgelegt: anregend und aufregend, scharfsichtig und scharfsinnig, gelehrsam und belehrend, bisweilen irritierend, ja verstörend – mit einem Wort: bewunderungswürdig. Ein Buch, das, geistreich und gedankenreich, unser Denken herausfordert, das geprägt ist von höchster poetischer Sensibilität und bestimmt wird von intellektuellen Quer- und Tiefbohrungen. Sein Titel ist Programm: Dieser Autor versteht sich als Fortführer, in einem präzisen Sinn des Wortes. „Man ist Fort-Führer – oder es gibt einen gar nicht“, lautet der selbstbewusste erste Satz des letzten, umfangreichsten Teils, der diesem Abschnitt wie dem Buch insgesamt seinen programmatischen Titel gibt. Und um nichts im Ungefähren und die Leser nicht im Unklaren zu lassen, heißt es weiter: „Der Dichter führt vorangegangene Dichter fort. Der Dichter führt aber auch Leser fort, entfernt sie aus ihren Umständen, Belangen und Geschäften.“ Diese programmatischen Sätze sollte ernst nehmen, wer sich auf das Buch einlässt – nicht allein um sich fort-, sondern auch um sich ver-führen zu lassen. Der Autor breitet die Früchte seiner immensen Lese-, Bildungs- und Aneignungslust in überwältigender Fülle aus – Gedankenblitze und Ideensplitter von Dichtern, Essayisten und Philosophen, Tiefsinniges und Hochkarätiges, Aperçus und Ausschweifungen von der Antike bis zur Gegenwart.

In vierzehn durchnummerierte, überwiegend kurze Kapitel ist der erste Teil des Buches untergliedert, und auch sein Titel ist Programm: „Zwischen Jetzt und Nu“. Das diesem Titel zugrundeliegende Motto entstammt einer Predigt Meister Eckharts: „Nime ich ein stücke von der zît / sô enist es weder der tac hiute / noch der tac gester. / Nime ich aber nû, daz begrìfet / in im alle zît“. Dieses „nû“ bildet den Fluchtpunkt der durchweg in Form ungebundener Verse gehaltenen Gedankensplitter und knappen Sentenzen („Das alte Wissen: das Alte wissen“), atmosphärisch verdichteten Impressionen und surrealen Visionen. Aphorismen wechseln mit phantastischen Szenen, Zitate und Assoziationen mit Bildern und Metaphern. Der Monolog steht neben dialogischen Sequenzen, die Deskription neben dem Gedankenspiel. Es gibt keine übergreifenden Sujets, die den einzelnen Kapiteln einen inhaltlichen Zusammenhang verleihen könnten. Vielmehr wirken in ihnen permanent sich fortzeugende Impulse, die in Gestalt poetischer Verdichtungen einen je eigenen Rhythmus ausbilden und sich auf diese Weise in Bewegung halten. Umspielt wird mit solcher Formenvielfalt die Multiperspektivität des „Jetzt“ – der Bewegungsimpuls selbst aber, der ihr zugrunde liegt, der sie poetisch steuert und kunstvoll arrangiert, zielt auf den Einklang jenes mystischen „nû“, das mit dem Namen Meister Eckharts verbunden ist.

Im zweiten Teil des Buches nimmt Botho Strauß seine Trouvaillen in Form von Zitaten und Anspielungen auf, in Gestalt poetischer und intellektueller Miniaturen und essayistisch gehaltener Exkurse, variiert sie, vertieft sie und macht sie fruchtbar für – nein: gegen unsere Zeit. Die Stoßrichtung dieser Anknüpfungsstrategie ist eindeutig: Sie wendet sich gegen den medialen Mainstream unserer Tage, deren Oberflächen- und Schlagwortcharakter Strauß verschiedentlich in Gestalt der zentralen sprachlichen Leerformel unserer Tage „Kommunikation“ – gleich „gefällig Mitgeteiltes“ – attackiert. Der „Fort-Führer“ als Wort-Führer im Kampf gegen die „allgemeine Unansprechbarkeit durch Sprache“, gekleidet in das Gewand eines Großessays aus kleinen Mustern und vielfältigen Partikeln.

Will man sich auf eine Art Spurensuche begeben, auf die Suche nach Fortschreibungen des Werks, nach zurückliegenden Impulsen und verborgenen Anregungen, dann lassen sich zwei Quellen nennen. Zum einen der Essayband Paare, Passanten, in dem Botho Strauß bereits zu Beginn der achtziger Jahre seinen Scharfsinn als Sonde einer unnachsichtigen Gesellschafts-, Kultur- und Sprachkritik eingesetzt hat. Schon 1981 wusste er, was man heute aus allen kulturkritischen Ecken raunt: „Eine kulturelle Egalität, die jedem Ding gleichen Erscheinungswert zubilligt, ist die Wüste des Bewußtseins; und sie wächst, sie drängt an den Rand des Idiotismus“. Als Antidot entwickelte Strauß seinerzeit den Essay zu einer Kunst- und Kampfform inmitten verminten Geländes. Alltagsszenen und Medienereignisse, Verhaltensklischees und Denkschablonen wurden schon hier zum Anlass radikaler Infragestellung sozialer Selbstverständlichkeiten, „Originalfundstücke vom Beziehungsmarkt“ (Strauß) zum Gegenstand von Reflexionen, in denen sich Verachtung mit Überdruss paart. Die zweite Quelle, aus der Der Fortführer schöpft, ist der vor zwei Jahren unter dem Titel Oniritti erschienene Prosaband mit essayistischen Kurzformen und  Phantasiestücken – „Bildschriften auf der Höhlenwand der Nacht“, so Strauß, die jetzt, in seinem neuen Buch, als Graffiti einer hellsichtigen Denk-Schrift erscheinen.

Auch darin also, in der Fortschreibung des eigenen Werks, erweist sich Botho Strauß als Fort-Führer und zugleich als ein vielgestaltiger Anreger, der seine Präsenz an keiner Stelle des Textes verleugnet. „Unsereins liest mit dem Scheitelauge, das sich von Licht ernährt und Schlaf ausscheidet. Er liest mit der Raffgier des Eignens. Er überspringt sogar das Verstehen, er kennt nur wildes Sich-an-Eignen.“ Ein Bekenntnis, das sich auch als Anleitung zur Lektüre dieses Buches verstehen lässt. Diese lohnt die Mühe dann, wenn man sich freimacht von Umständen, Belangen und Geschäften des alltäglichen Lebens, des Mainstreams und der Medienwelt.

Und – dies sei ausdrücklich hinzugefügt – wenn man nicht vorschnell zu den vorhandenen Einordnungsrastern greift, denen Botho Strauß bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten unterliegt, seit der Veröffentlichung seiner großen zeitkritischen Essays ab Mitte der 1990er Jahre in der Zeit und im Spiegel. Gelegentlich wird auch in diesem neuen Buch eine „Aufgabe“ umrissen, die des Nationalismus und Populismus verdächtigt werden könnte: „die Zeichnung des letzten Deutschen als Phänotyp“. Doch Strauß‘ Charakterisierung dieses Phänotyps spricht ihren Autor frei vom Verdacht reaktionärer politischer Parteinahme: „Er ist weder Chauvinist noch völkisch gesinnt. Ist hörig allein seiner Muttersprache. Er ist auch nicht der Einwanderer und Fremden wegen so letztlich. Sondern weil neben ihm, unter seinen Landsleuten, keiner ähnlich angebunden und angestammt lebt. Und weil er nie aus dem Deutschen herauswollte, sondern immer tiefer hinein.“ Das „Deutsche“ fungiert bei Strauß nicht in erster Linie als politische Kategorie, sondern – wie sich auch an seiner ebenso empathischen wie eleganten Annäherung an Hölderlins Gedicht „Gesang des Deutschen“ ablesen lässt – als Auf- und Herausforderung zur Versenkung in Abgründe, die poetisch produktiv geworden sind: „Gebeugt über die / ausgetrocknete Zisterne der Passion, muteten / ihn die Lieder des jugendlichen Dichters an wie / aufsteigende Wasser […]“.

Überlässt man sich der Lust am Querdenken, das diesen Autor auszeichnet, setzt man sich der Faszination aus, die von seinen Denkbildern und Parabeln, von seinen Allegorien und den durch und durch poetischen Reflexionen herrührt, so wird man jenes Reichtums gewahr, der mit seinem „wilden Sich-an-eignen“ verbunden ist. Das Unzeitgemäße als Gegen-Programm – es steht in der Traditionsreihe jener „einzig Authentischen“, von Kleist und Hölderlin über Nietzsche und Kafka bis zu Paul Celan, die Strauß schon in Paare, Passanten aufgerufen hatte und bis heute für das eigene Schreiben in Anspruch nimmt. Und auch sein Schreib-Antrieb hat sich unverwechselbar und einzigartig erhalten: „Man schreibt einzig im Auftrag der Literatur. Man schreibt unter Aufsicht alles bisher Geschriebenen“, wusste Botho Strauß schon 1981. Und noch 2018 gilt für ihn, was er damals bereits sagte: „Man schreibt aber doch auch, um sich nach und nach eine geistige Heimat zu schaffen, wo man eine natürliche nicht mehr besitzt.“ Mit diesem Buch hat sich der Dichter eine geistige Heimat geschaffen, die man sein „Vermächtnis“ (Strauß) nennen kann. Es lenkt den Blick zurück auf die schöne Doppeldeutigkeit des Mottos aus der Feder von Antoine de Saint-Exupéry, das dem Band vorangestellt ist: „Und der Schatten des Baums wird für den Sohn dasein.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Botho Strauß: Der Fortführer.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
203 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498065539

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