Mit „Faust“ zur politischen Karriere

Einblicke in das Denken der philosophischen Politikerin Sahra Wagenknecht

Von Hannah Varinia SüßelbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannah Varinia Süßelbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sahra Wagenknecht ist nicht nur eine bekannte Politikerin, die in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit – auch in den Reihen ihrer eigenen Partei DIE LINKE – oft kontrovers diskutiert wird, sondern auch eine eifrige Publizistin. Mittlerweile sind mehr als ein Dutzend Bücher von ihr erschienen. Couragiert gegen den Strom – Über Goethe, die Macht und die Zukunft erschien 2017 im Frankfurter Westend-Verlag und besteht hauptsächlich aus einem ausführlichen Gespräch Wagenknechts mit Florian Rötzer, Chefredakteur des Online-Magazins Telepolis.

Auf den ersten Blick ist das Buch in vier scheinbar gleichwertige Kapitel unterteilt. Beim Lesen wird jedoch deutlich, dass es in seiner Grundstruktur eigentlich aus zwei voneinander unabhängigen Abschnitten besteht. Der ungleich größere Abschnitt besteht aus dem genannten Gespräch. Zur besseren Übersicht wurde dieser Dialog thematisch in drei Teilbereiche untergegliedert. Im Anschluss an die Gesprächskapitel sind, als zweiter Abschnitt, vier Transkriptionen ausgewählter Reden der Politikerin angehängt, in denen selbst Zwischenrufe während des Vortrags nicht ausgespart bleiben. Diese Reden greifen die zuvor angesprochene Themen auf und vertiefen sie.

Zu Beginn erzählt Wagenknecht von ihren wichtigsten politischen Anliegen: der sozialen Gerechtigkeit, dem Kampf gegen Terror, Kriegseinsätze und Rüstungsexporte, zudem von ihrem Vorgehen gegen den politischen Trott. Ihr Wunsch ist es dabei, folgt man dem Credo der Überschrift dieses ersten Kapitels, „anders Politik zu machen“. Nach diesen kurzen Schlaglichtern folgt das Interview im zweiten Teil des Buches beinahe chronologisch dem Lebenslauf Wagenknechts. Von ihrer Kindheit in der DDR, wobei sie ostentativ ihre Unangepasstheit an das System hervorhebt, bis zu ihrem Fußfassen in der politischen Landschaft des vereinigten Deutschlands, zieht sich die Liebe zu den Klassikern der Weltliteratur sowie der Philosophie als roter Faden durch den Dialog.

Johann Wolfgang Goethes Faust, so sagt sie, „war der Auslöser, erst danach habe ich ernsthaft angefangen, über gesellschaftliche Fragen nachzudenken.“ Goethe fasziniere sie, gerade durch seine politische Dimension als Kapitalismuskritiker: „Faust II endet mit der Botschaft, dass der Kapitalismus eine Übergangsgesellschaft ist. Er hat die Aufgabe, die Menschheit reich zu machen, also die Produktionsmittel, die Maschinen, so zu entwickeln, dass wir mit relativ wenig Arbeit sehr viel Wohlstand erzeugen können.“

Diese Faszination ist keine Neuigkeit. Bereits 2011 publizierte Wagenknecht im Wochenmagazin Focus den Artikel Lest mehr Goethe!: „Goethe ist ohne Zweifel einer der frühesten, feinsinnigsten und tiefgründigsten Kritiker, die der Kapitalismus je hatte.“ Von Goethes „geradezu prophetisch vorhergesehener“ Bedrohung von „Kultur, Zivilisation und Humanität in einer durchkommerzialisierten Gesellschaft“ kam sie zu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, über den sie wiederum zu Karl Marx kam.

So porträtiert Wagenknecht sich im Lichte dieser großen Namen und erklärt ihr politisches Engagement als Konsequenz eines Weltbildes, das sie sich durch die „Lektüre von Philosophie und Literatur angeeignet“ habe. Ihrer Überzeugung nach sei „eine Gesellschaft, die auf Egoismus und rücksichtsloser Ellenbogen-Mentalität beruht, […] nicht menschlich, denn der Mensch ist ein soziales Wesen und im Kern eben kein rücksichtsloser Egoist.“ Dabei sei sie von Hegel am meisten geprägt. Dieser sei „bis heute genial, nicht nur wegen seines universellen Anspruchs, sondern auch wegen seiner Abrechnung mit dem Kapitalismus, der in seinem Werk unter dem Begriff ‚bürgerliche Gesellschaft‘ vorkommt und ausgesprochen kritisch analysiert wird.“

Auf diesem literarisch-philosophischen Unterbau gründet sie ihre Argumentation des dritten Kapitels Was ich erreichen möchte, in dem schließlich aktuelle politische Fragen aufgegriffen und beantwortet werden. Themen wie die Überwindung des Kapitalismus, Umwelt- und Datenschutz oder Einwanderungspolitik werden dabei ebenso behandelt wie Innerparteiliches, Medien und Globalisierung. Innerhalb dieses breiten Spektrums übt sie Kritik an der Politik der anderen etablierten Parteien in Deutschland. Rhetorisch bleibt sie dabei ihrer Liebe zur Literatur häufig treu: So beschreibt sie das gespaltene Verhältnis der LINKEN zur SPD mit dem Gleichnis von Kurt Tucholsky, in dem ein Hund „aggressiv wird, sobald er das Geheul freier Wölfe hört, weil er es nicht aushält, dass der wilde Artgenosse ihn an seine nicht-domestizierte Vergangenheit erinnert“. Die LINKE sei das „parteigewordene schlechte Gewissen der SPD“, da sie für die vergessenen Ziele der Sozialdemokratie stehe.

Wer nun aber denkt, dass sie ihrer eigenen Partei und sich selbst gegenüber unkritisch ist, wird enttäuscht, da sie gerade mit eigenen früheren Aussagen hart ins Gericht geht. Um sich von den Karrieristen der neuen PDS abzugrenzen, hatte sie einst aus Wut und Trotz nicht nur das System der DDR, sondern sogar die Mauer verteidigt. Dies reflektiert sie im Nachhinein als „politisch großen Blödsinn“ und „reichlich unreif.“

Aber auch die Fragen von Rötzer sind nicht auf Gefälligkeit ausgerichtet, sondern durchaus kritisch und fordernd. Nach einer Aussage von Wagenknecht, dass „Unternehmen miteinander im Wettbewerb stehen müssen, weil es sonst zu wenig Druck gibt, innovativ und produktiv zu sein und sich an den Bedürfnissen der Kunden zu orientieren“, hinterfragt er diese kapitalistisch anmutende Sichtweise und damit auch das Parteiprogramm der LINKEN: „Möglicherweise fehlt uns heute auch eine Utopie, eine bessere Gesellschaftsordnung, nach der man strebt. […] Trauen sich auch die Linken nicht mehr wirklich, über den Kapitalismus hinauszudenken? Im Programm der Linken ist da eigentlich genau wie bei den anderen Parteien nichts zu finden, wenn man davon absieht, dass etwa die Ungleichheit reduziert werden soll oder Kriegseinsätze abgelehnt werden.“

Daraufhin stellt Wagenknecht klar, dass das „Grundsatzprogramm der Linken eine andere Wirtschaftsordnung fordert“, geht darauf allerdings nicht konkret ein. Überdies folgt ein Verweis auf ihr zuvor erschienenes Buch Reichtum ohne Gier (2016), in dem sie ihren „Beitrag zur Diskussion über grundsätzliche Alternativen“ bereits geleistet habe. Die Leser*innen von Couragiert gegen den Strom erfahren an dieser Stelle daher nichts über Wagenknechts Entwurf einer postkapitalistischen Gesellschaft oder gar eines alternativen Wirtschaftssystems, sondern lediglich etwas über die Resonanz ihrer vorherigen Publikation. Unklar bleibt, ob dies dem Rahmen des Buches geschuldet ist oder bloß strategisch geschickt platzierte Werbung darstellen soll.  Und unabhängig davon ist äußerst fraglich, ob die Leser*innen an dieser Stelle dann überhaupt eine Erkenntnis durch diesen Hinweis gewinnen.

Nicht immer der gleichen Meinung, sprechen die beiden philosophisch gebildeten Menschen differenziert über politische und gesamtgesellschaftliche Gegebenheiten. Bemerkenswert ist dabei: Wagenknecht präsentiert ihre Meinung zu keinem Zeitpunkt als einzig mögliche Wahrheit, sondern stellt heraus, dass ihre Ideen sorgfältig erarbeitet und mit der Zeit gereift sind. Gerade durch die Trennung in Gesprächs- und Redenteil des Buchs werden ihre dargestellten Ansichten authentisch in einen größeren Kontext eingebettet, der den innerparteiischen Kleinkrieg beiseitelässt. So argumentiert sie beispielsweise mit Hegels Dialektik gegen „billige Sowohl-als-auch“ Argumente und plädiert für eine „klare Überzeugung von einer bestimmten Position“, die anerkennt, „dass die gegenteilige Meinung auch eine Teilwahrheit enthält, vielleicht einen bestimmten Aspekt der ganzen Wahrheit, der es verdient, ernst genommen zu werden.“ Sie betont, dass Hegels Dialektik oft zu Unrecht mit der Formel „These, Antithese, Synthese“ banalisiert werde, obwohl sein „übergreifendes Allgemeines“ als philosophische Kategorie sehr interessant sei, da sie „ihr Gegenteil enthält, ohne eine kompromisslerisch dumme Beliebigkeit zu werden“. In diesem Sinne geht es Wagenknecht darum, Einseitigkeit zu vermeiden und offen zu bleiben, um sich stetig weiterentwickeln zu können.

Durch ihre Fähigkeit, hochkomplexe Zusammenhänge derart zu verdichten und kompetent zu balancieren, eignet sich dieses Buch, um sich einen Überblick über die grundlegenden Überzeugungen Sahra Wagenknechts – und damit der derzeit wohl bekanntesten marxistischen Politikerin Deutschlands – zu verschaffen. Durch ihre pointierten inhaltlichen Aussagen und ihre klaren Worte ist es leicht lesbar, ohne dass das Interview zu einem gemütlichen Plausch verkommt. Gemütlich ist generell nichts an diesem Buch. Ihre Wortwahl ist zu keinem Zeitpunkt zufällig, kein Thema scheint achtlos gewählt und jeder Satz ist gezielt formuliert. Ihr Vokabular ist dabei mal das des bekannten kühlen Medien-Profis, dann wieder scheinbar unverstellt, wenn sie die „saudische Kopf-ab-Diktatur“ kritisiert. Derart emotionalisierende Aussagen sind jedoch selten und wirken – aufgrund der kontrolliert-professionellen Aufmachung des Dialogs – weniger wie Affekthandlungen, sondern geradezu arrangiert.

Nicht zuletzt dadurch entsteht der Eindruck, dass Wagenknecht zwar offen ihre Meinungen und Perspektiven zeigt, jedoch immer die Oberhand und Kontrolle behält. Das Ergebnis ist ein stoffreiches Buch, das sich als fundierter Beitrag zu zentralen politischen Diskursen der Gegenwart versteht, jedoch nicht als letztgültige Wahrheit.

Titelbild

Sahra Wagenknecht: Couragiert gegen den Strom. Über Goethe, die Macht und die Zukunft.
Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
222 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783864891878

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