Ein Kollektiv der Künste in Weikersheim

Mit der Novelle „Form und Verlust“ schreibt Rainer Wieczorek unbeirrt seine Kunst-Prosa fort

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter den zeitgenössischen deutschen Autoren pflegt der Darmstädter Schriftsteller Rainer Wieczorek mit leichter Hand das traditionsreiche Genre der Künstlernovelle und stellt immer wieder unter Beweis, dass es sich noch nicht vollends verbraucht hat. Nach der Trias Zweite Stimme (2009), Tuba-Novelle (2010) und Der Intendant kommt (2011) hat Wieczorek in den letzten Jahren noch einmal ein Paar komplementärer Werke vorgelegt. Wie schon in Kreis und Quadrat. Eine Melancholie von 2016 steht diesmal wieder ein Protagonist im Mittelpunkt, der sein Familienerbe ausschließlich zur Pflege von Kunst und Kultur verwendet. Darin erschöpfen sich aber auch schon fast die Gemeinsamkeiten. Anstelle eines Ich-Erzählers vermittelt der Autor das Geschehen in der Rückschau durchgehend über (fast fünfzig) Dialogepisoden, die, meist nur ein paar Seiten lang, es geradezu wie ein leicht schwebendes Mobile umkreisen und dabei einen ganz eigenen ästhetischen Reiz entfalten, der das Erzählte fast in den Hintergrund treten lässt. Die der Sphäre der Musik entlehnten sinnreichen Titel der Stücke tragen das Ihrige dazu bei.

Der Maler Eduard Senckmann hat das traditionsreiche Orgelbauunternehmen seines Vaters geerbt, aber die Firma aufgelöst. Im mehrstöckigen Fabrikgebäude in Weikersheim an der Tauber hat er sich ein Atelier eingerichtet sowie einen Konzertsaal, in dem eine Gruppe von  ebenfalls das Haus bewohnenden Musikstudenten übt und Konzerte gibt. Diese jungen Leute sind die eigentlichen Hauptfiguren der Erzählung, denn Eduard ist bereits gestorben, wenn diese anhebt. Die Musiker gewinnen im lebendig gestalteten Tonfall der Gespräche mehr Farbe und Kontur in ihren Charakteren und Beziehungen untereinander als der Maler selbst, der ruhende Pol im Hintergrund, um den sich alles dreht. Stellvertretend für den Leser versucht Paulina, eine Freundin von Verena, einer Vertrauten Eduards, sich als Außenstehende ein Bild vom Leben im „Orgelbau“ zu machen. Der charismatische Maler hatte die Gewohnheit, sich über Verenas Vermittlung von bestimmten Musikern Kammermusikwerke der Moderne zur Inspiration seines Schaffens vorspielen zu lassen, während Verenas Ehemann Carlo für den Vorrat an Malfarben sorgen musste. Nachdem nun Eduard verstorben und der expositorische Teil der Novelle damit beendet ist, fassen zwei seiner Freunde den Plan, das bewährte Modell einer Einheit von Leben und Kunst fortzusetzen und eine Stiftung zu gründen, die eine Dauerausstellung der bislang nie gezeigten rund 300 Gemälde des Malers sowie öffentliche Konzerte zum Ziel hat. Da der Verstorbene aber kein Testament hinterlassen hat, beschließen sie kühn, eines zu fälschen, um das Stiftungsprojekt zu legitimieren.

In der Zusammenfassung mag all das eher spannungsarm wirken, doch ihre subtile poetische Dynamik gewinnt die Geschichte durch die im etwas kryptischen Titel dezidiert angesprochene Form – und zwar gewissermaßen ex negativo. „Form und Verlust“ – das kann auf den Inhalt bezogen, aber ebenso als ein selbstbezüglicher Hinweis darauf gelesen werden, was kompositorisch alles „verlorengeht“, was nicht eingelöst wurde.

Zuallererst das recht unverbrauchte dialogische Erzählverfahren: Die „nackten“, ohne inquit-Formeln und Sprechernamen sowie ohne explizite situative Einbettung wiedergegebenen Dialoge könnten ja polyperspektivisch – wie im „Rashomon-Effekt“ – differierende Versionen der erzählten Wirklichkeit liefern oder als „unzuverlässiges Erzählen“ unklar bleiben lassen, was wirklich und was nur imaginiert ist. So radikal modernistisch geht es bei Wieczorek nicht zu; man kann immer noch rückwirkend erschließen, wer was zu wem gesagt hat. Im Grunde hätte alles auch monoperspektivisch erzählt werden können. Doch wie auf der Dialogebene explizite Kontexte ausgespart werden, wird beim Bedeutungsaufbau konsequent alles weggelassen, was in der Erwartungshaltung des Lesers Problematisierung, Zuspitzung, Spannung andeuten könnte.

Daher zweitens: Die Figurenkonstellation treibt keinerlei Dynamik auf der Plotebene aus sich hervor. Die Beziehung zwischen Eduard und dem Paar Verena und Carlo ist gerade keine Ménage à trois, wie es gleich auf den ersten Seiten ausdrücklich heißt. Auch führen die Verwirklichung des Stiftungsprojekts und das gefälschte Testament nicht etwa zu Konflikten unter den Beteiligten. Diese Wendung mit ihrem Spannungspotenzial (Wird der ganze Schwindel auffliegen?) leitet aber auch nicht über zu einer verschmitzten Satire über den Kunst- und Kulturbetrieb, wie sie durchaus denkbar gewesen wäre und wie wir sie etwa vom frühen Wolfgang Hildesheimer kennen, dem der Autor überhaupt einiges verdankt.

Zum dritten wird die wechselseitige Befruchtung von Malerei und Musik als Hauptthema der Novelle nicht wirklich in ihrem inneren Zusammenhang plausibel gemacht, auch wenn Eduard, der in einigen Episoden selbst zu Wort kommt, über beide Künste philosophiert oder auch einmal Bildbetrachtungen anstellt. Der Maler hat ebensowenig ein existenzielles noch ein Schaffensproblem wie oft in Künstlernovellen; seine antireligiöse Grundhaltung wie der bemerkenswerte Umstand, dass er seine Werke, alle im Stil des Informel, nie ausgestellt oder gar verkauft hat, oder auch sein einfach konstatierter Tod, der erzähldramaturgisch nur den Sinn zu haben scheint, das Stiftungsprojekt zu ermöglichen – all das sind gleichsam blinde Motive, die nicht zum Spannungsaufbau oder zur Sinndeutung beitragen. Und zwei Werkreferenzen  – von Eduard hochgeschätzte, noch dazu im Wortlaut wiedergegebene Lieder von Alban Berg und Witold Lutosławski – sind tote Referenzen, die nicht weiterführen und nichts erhellen.

All diese verweigerten Sinnerwartungen, zusammen mit den mobile-artigen, um sich selbst kreisenden Dialogepisoden, machen die Novelle eigentümlich statisch und drängen in hohem Maße zu einer Auflösung. Diese allerdings verweigert Wieczorek dem Leser nicht; sie kommt zunächst unscheinbar daher, ist dann aber dermaßen fulminant, dass es wie bei der Besprechung eines Krimis unstatthaft und spielverderberisch wäre, sie zu verraten. Nur soviel sei gesagt: Es ist eine wahre Apotheose der Literatur, auf die bei allen Referenzen auf die Künste auffälligerweise im gesamten Text an keiner Stelle verwiesen wird.

Ein Kunstgriff verleiht Rainer Wieczoreks Kabinettstück über die Symbiose von Musik und Malerei in Weikersheim, das es dem Leser über weite Strecken nicht gerade leicht macht, einen krönenden Abschluss von funkelndem und zugleich abgründigem intellektuellem Witz, der in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur nicht alltäglich ist. Form und Verlust ist für den kleinen Kreis von Lesern, die eine stille Erzählprosa voller Raffinesse zu genießen wissen, allemal ein Gewinn. Und schließlich: Für eine Hörspieladaption, wie sie die Tuba-Novelle des Autors inzwischen gefunden hat, ist der vorliegende Text in seiner Dialogizität und Musikaffinität geradezu prädestiniert.

Titelbild

Rainer Wieczorek: Form und Verlust. Novelle.
Dittrich Verlag, Berlin 2017.
128 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783943941784

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