Zornbürger, Wahlkämpfer, engagierter Künstler

Streiflichter auf den politischen Grass

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Politischer Dichter“, das war für Günter Grass kein akzeptables Wort, fast widersinnig, so als ob man von einem „katholischem Radfahrer“ sprechen würde. Das Prädikat „politisch“ rücke den Dichter in eine anbiedernde Nähe zu den Mächtigen. Wo bleibt da die Freiheit des Wortes? Andererseits bedarf der Autor, will er Öffentlichkeit, der Politik, und sei es nur als Reibungsfläche. Solche Widersprüche verarbeitet Grass in seiner Rede in Princeton 1966 mit dem vielsagenden Titel Vom mangelnden Selbstvertrauen der schreibenden Hofnarren unter Berücksichtigung nicht vorhandener Höfe. Sie fehlt in dem Band, den Klaus Wettig mit politischen Texten von Günter Grass zusammengestellt hat. Dafür aber bietet er eine Reihe von Essays, Tagebuchnotaten, Gedichten, Reden und Briefen aus über 50 Jahren, die Einblick in ein durchaus „eigenständiges Werk der politischen Analyse und des Kommentars“ – so der Herausgeber – gewähren.

Es beginnt, zwei Jahre nach dem Debütroman Die Blechtrommel (1959), mit der Mitarbeit an dem Band Die Alternative. Mit Martin Walser und anderen votiert Grass für einen Regierungswechsel. Ein Einfluss des Bandes auf die Wahlergebnisse ist nicht nachweisbar, aber immerhin verkauften sich 75.000 Exemplare. Oskars Brüder waren erwacht.

Doch sie trommelten jenseits der Literatur. Das Kapitel vom Wahlkämpfer Grass, der für Willy Brandt und die SPD, später auch für niedersächsische Politiker zu Felde zog, sind nicht die besten Leumundszeugnisse der Kunst. Wohl aber Bekenntnisse eines Bürgers, der den Zorn der Weisheit vorzog und seinen zivilgesellschaftlichen Auftrag darin erkannte, das Gewissen einer belasteten Nation wieder und wieder wachzurütteln, Irrtümer und das eigene Gewissen – nach dem späten Geständnis der lange verschwiegenen jugendlichen Mitgliedschaft in der Waffen-SS – eingeschlossen. Grass hat so, um die Begründung für den Nobelpreis aufzugreifen, auch das „vergessene Gesicht“ der eigenen Geschichte in „munter schwarzen“ Farben und Fabeln gezeichnet.

Die Auswahl der Texte ist vielseitig und macht neugierig auf mehr, auch wenn das Buch manchmal Schlagseite hat, es mit Daten (wie der ersten Bundeskanzlerschaft, die 1963, nicht 1964, endete) nicht so genau nimmt und den Künstler mitunter hinter dem politischen Autor verschwinden lässt. Manche Augenzeugenerlebnisse aus der Politik aber sind auf die ein oder andere Weise in kunstvolle Rollenprosa übergegangen, so die Reise mit Brandt nach Warschau 1970. Von der hochsymbolischen Aktion des „Kniefallkanzlers“ erzählt Grass in seiner Chronik Mein Jahrhundert (1999). Es kommt der Wahlkämpfer zu Wort, das Gewerkschaftsengagement, der Einsatz für verfolgte und drangsalierte Künstlerkollegen, alles gut komponiert, wenn auch nicht mit der Umsicht der politischen Kapitel in Volker Neuhausʼ vorzüglicher Grass-Biographie von 2012. Wenn Grass sich schützend vor etwas stellt, dann für eine Demokratie der Citoyens im Sinne Heinrich Manns, für Gerechtigkeit mehr als für Freiheit werbend, immer sisyphusartig darum bemüht, „das bisschen Freiheit für Steinewälzer (und ähnlich absurde Narren) immer wieder bergauf zu sichern“.

„Meiner Liebe gewisses Land, / dem ich verhaftet bin, / notfalls als Splitter im Auge“: Grass war vielleicht nicht das Herz und die Seele Deutschlands, aber sein nie ganz widerspruchsfreies, letztlich religiös empfindliches Gewissen. Man muss es ja guter Literatur nicht unbedingt ansehen, dass und wie sie politisch ist, und um zu erklären, was ein „Radfahrer“ ist, braucht man seine Konfession nicht zu kennen; selbst wenn er eine Soutane trüge, wäre das ohne Bedeutung für seine Tätigkeit. Außer beim Tempo vielleicht. Aber das hat Grass ja mit dem Krebs- und Schneckengang des Fortschritts mehrfach beschrieben.

Titelbild

Klaus Wettig (Hg.): „Ich wohne nicht in stehenden Gewässern“. Der politische Günter Grass.
Steidl Verlag, Göttingen 2018.
128 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783958293779

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