Hybride des Wissens und der Erkenntnis

Ein Sammelband fragt nach dem Verhältnis von Literatur und Philosophie

Von Julia StetterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Stetter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf den ersten Blick scheint die Trennung von Literatur und Philosophie eindeutig: Homers Odyssee als eine der ältesten Dichtungen abendländischer Literatur ist klar literarisch, Immanuel Kants Drei Kritiken fallen schon durch ihre Titel zur Philosophie. Doch wie ist es beispielsweise mit Friedrich Schiller, eigentlich einer der bedeutendsten deutschen Dramatiker, der sich aber andererseits an Kant anlehnte und mit seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung einen wesentlichen Beitrag zur Ästhetik leistete? Oder wie verhält es sich mit Bertrand Russell, Philosoph und Mathematiker, dem 1950 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde? Etwa zu Unrecht?

Die zwölf Beiträge des Bandes Literarische Denkformen wollen den tradierten Dualismus Literatur versus Philosophie beziehungsweise Form versus Wahrheit ins Wanken bringen. Zuspruch erhielten sie bei ihrem Unternehmen schon insofern, als dass viele der Beiträge auf eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte gleichnamige Tagung zurückgehen, die 2014 am Stuttgart Research Centre for Text Studies stattfand. Sicher wurde das Verhältnis zwischen Literatur und Philosophie schon oft diskutiert, doch unter einer entscheidenden Fehlannahme, wie die Herausgeber Marcus A. Born und Claus Zittel meinen: unhinterfragt vorausgesetzt wurde immer die Trennung beider Gattungen, woraufhin dann nur noch nach philosophischen Versatzstücken innerhalb von Literatur oder umgekehrt nach literarischen Passagen innerhalb von Philosophie gesucht wurde. Diesem Reduktionismus wollen sie einen Neuansatz entgegenstellen, denn Sprache und Form allein der Literatur vorzubehalten, die Fähigkeit zur Metakritik dagegen exklusiv der Philosophie zuzuschlagen, wäre einseitig. Gewiss gibt es innerhalb der Forschung bereits Ansätze in die vom Band angepeilte Richtung, auf die sich die Herausgeber auch explizit berufen, etwa auf Gottfried Gabriels These, dass Literatur eben doch bestimmte Formen von Erkenntnis möglich macht, sodass sie sich hinter der Philosophie nicht zu verstecken braucht. Andererseits reservierte Gabriel für die Philosophie die spezielle Erkenntnisform der Wahrheit, was man ebenfalls je nach vorausgesetztem Wahrheitsbegriff hinterfragen könnte. Rote Linien, die der Band verfolgt, liefern indes die folgenden Fragen:

Gibt es Formen des Denkens und Erkennens, die sich nicht in klassischen philosophischen Darstellungsweisen ausdrücken lassen, gleichwohl aber einen philosophischen Gehalt haben? Wären diese als genuin Literarische Denkformen aufzufassen? Müsste dann jedoch nicht an die Stelle des traditionell behaupteten Gattungsunterschieds zwischen wahrheitsorientierter philosophischer Prosa und fiktionaler Literatur ein neues Modell treten, das die Modi des Erkennens gleichermaßen in Literatur und Philosophie einfängt? Wie wäre dann aber jeweils der erkenntnistheoretische Mehrwert literarischer Darstellungsformen zu bestimmen?

Das Untersuchungsfeld zur jeweiligen Beantwortung ist weit gesteckt: Es reicht von Analysen zu den platonischen Dialogen, René Descartes und Wilhelm von Humboldt bis hin zu Daniel Casper von Lohenstein, Jean Paul, Hugo von Hofmannsthal und Robert Musil. Auch Denis Diderot, Walter Benjamin, Sigmund Freud und Henri Bergson sind anzutreffen. Ein wiederkehrendes Moment der Analysen sind allerdings Dialoge und dialogische Schreibformen, wobei für das Abendland natürlich diejenigen Platons prägend waren. Entsprechend nehmen verschiedene Beiträge auf sie Bezug, etwa wenn Marco Rispoli Hofmannsthals Hang zum Gespräch nachspürt. Dessen Dialogessays zeichnen sich, so Rispoli, durch Verzicht auf Auflösung von Widersprüchen aus und stellen stattdessen miteinander inkompatible Gedanken dar. Ähnliches wurde bzw. wird von der germanistischen Forschungsliteratur auch in Bezug auf Lohensteins Arminius-Roman angenommen. Dort seien verschiedene Haltungen derart widersprüchlich nebeneinandergestellt, dass der Leser letztlich die freie Wahl zwischen ihnen habe. Zittel teilt diese Deutung jedoch nicht. In seinem Beitrag entwickelt er vielmehr, dass Lohensteins Roman eine Art Plädoyer gegen übersteigerte moralische Kontrollforderungen sei. Es geht um das Verhältnis des Menschen zu seinen Affekten. Normalerweise wäre es im Barock – etwa bei Andreas Gryphius – so gewesen, dass der tugendhafte Held Affektbeherrschung übt. Dass dies im Arminius nicht der Fall ist, weist laut Zittel aber nicht auf die Unentschiedenheit des Romans hin. Vielmehr werde in ihm eine antistoische Position positiv dargestellt. Dies liege daran, dass Literatur im Gegensatz zu Philosophie größere Freiheiten genossen habe, sodass sie auch mehrheitlich eher nicht akzeptierte Positionen vorsichtig zur Sprache bringen konnte.

Eine Vorliebe für das Dialogische findet ferner Isabella Ferron bei Wilhelm von Humboldt. Zwar schrieb Humboldt meist in Abhandlungen, doch solchen, die sehr adressatenorientiert angelegt waren, sodass darin seine Präferenz für ein Denken in Gesprächen zum Ausdruck kam. Letztere hängt wiederum zusammen mit seiner Sprachphilosophie, der zufolge der Menschen erst durch seine Sprache zum vollständigen Menschen wird. Angelehnt an Platons Dialoge wird bei Humboldt das Denken als offen und tendenziell unabschließbar betrachtet, was von Aristoteles abzugrenzen ist, bei dem Sprache dazu dient, eine bereits gefundene Wahrheit nur noch zu artikulieren. Darüber hinaus können Humboldts Schriften als Beispiele dafür gelesen werden, „wie sich die Philosophie literarischer Mittel bedient, um ihre Mitteilungen klarer darzustellen und zugänglicher werden zu lassen“. Gleichzeitig beschäftigte er sich auch selbst mit dem Verhältnis von Literatur und Philosophie, indem er sich mit Schiller auseinandersetzte.

Weniger der Dialog und stattdessen die Wissenschaft-Literatur-Relation steht im Zentrum des Beitrags von Andrea Albrecht. Ihr geht es darum, eine Herangehensweise an literarische Texte vorzuführen, bei der sowohl wissenschaftliche Texte literaturwissenschaftlich gelesen, als auch literarische Texte vor den Hintergrund von Wissenschaftsgeschichte gestellt werden. Als Beispiel betrachtet sie Herrmann Brochs Roman Die Unbekannte Größe, in der ein Mathematiker mit einem schwierigen mathematischen Problem zu kämpfen hat. Schließlich kommt er zu einer Lösung, was ihm eine feste Anstellung und eine Frau verschafft. Wenn Albrecht diesen Roman mithilfe wissenschaftshistorischer Diskurse zu Intuition und Kreativität kontextualisiert, kann sie sowohl Parallelen als auch Abweichungen feststellen. Wissenschaftshistorisch geht es dabei vor allem um eine Aufwertung von Kreativität/Phantasie im Lösungsfindeprozess, mit der ab dem 19. Jahrhundert Intuition an wissenschaftlichem Ansehen gewann. In Brochs Roman lässt sich nun teilweise Verwandtes  finden, andererseits fehlt dem Protagonisten aber der von der Wissenschaft propagierte Gedankenblitz. Albrecht folgert, dass ein entscheidender Unterschied zwischen Mathematik und Literatur nicht unbedingt in der Bewertung von Kreativität liegt, sondern im Aspekt der Zielorientiertheit. Die wissenschaftshistorischen Diskurse preisen gerade deshalb den Gedankenblitz an, weil sie eigentlich per se als Rezepte zum Herangehen an mathematische Probleme gedacht sind. Literatur hingegen ist freier, weil sie nicht das Ziel verfolgt, ihre Leser mit kognitiven Lösungsstrategien ausstatten zu müssen. Albrecht folgert, dass sie damit zu einer kritischen Gegenstimme zu den Wissenschaftsdiskursen werden kann, indem sie deren Mängel vorführt.

Fasst man Albrechts Schluss über das Verhältnis von Literatur und Philosophie zusammen, geht es ihr also darum, dass Literatur vor allem eine Korrekturfunktion einnehmen kann. Zu einem ähnlichen Urteil gelangt auch Alexander Becker in seinem Beitrag. Dass eine dualistische Trennung von Philosophie und Literatur kontrovers diskutiert wird, kann er zwar nachvollziehen, dennoch ist er gegen eine vollständige Aufhebung. Stattdessen möchte er herausstellen, welcher Mehrwert jeweils sowohl der Literatur gegenüber der Philosophie als auch der Philosophie gegenüber der Literatur zukommt, wobei er schließlich Literatur wie Albrecht eine Korrekturfunktion bescheinigt.

Möchte man die Positionen des Bandes insgesamt theoretisch zuordnen, kann man auf Axel Pichlers Beitrag zurückgreifen, der seinerseits auf eine dreigliedrige Unterteilung von Schildknecht/Teichert verweist. Es gebe drei verschiedene Positionen: 1) Die Disjunktionsthese: Philosophie und Literatur erfüllen unterschiedliche Funktionen, Philosophie allein ist aber für Wahrheit und Erkenntnis zuständig. 2) Die Komplementaritätsthese: Philosophie und Literatur erzeugen beide Wissen und das auf ihre jeweils eigene Weise. 3) Die Entgrenzungsthese: Eine Unterscheidung zwischen Philosophie und Literatur ist in Anlehnung an Jacques Derrida zweifelhaft. – Indem einige der Bandbeiträge Literatur eine Korrekturfunktion zusprechen, sind sie der Komplementaritätsthese zuzuordnen. Sie lehnen sowohl ab, dass man zwischen Philosophie und Literatur nicht trennen kann, als auch, dass Literatur keine Beteiligung an der Findung von Erkenntnis hätte. Was aber Pichler tut ist, alle drei Thesen zu verwerfen:

Problematisch an derartigen Differenzierungsversuchen ist deren Entstehung. Sie stellen zumeist das Resultat gegenstands-, d.h. textferner Bestimmungsverfahren dar, die mit einer ahistorischen festlegenden Definition von Philosophie und Literatur einsetzen und dann die solcherart konstituierten binären Oppositionen in der Untersuchung und Ausdifferenzierung des Verhältnisses fortschreiben. Diese Binarität scheint auch noch der Rede von ‚literarischen Denkformen‘ eingeschrieben zu sein. […] Der Fokus auf derartige binäre Oppositionen hat bis jetzt jedoch noch nicht zu einer allgemeingültigen Definition des Verhältnisses zwischen Philosophie und Literatur geführt.

Gewiss liegt darin ein Angriff auf das generelle Konzept des Bandes, der zudem berechtigt scheint. Anzurechnen ist aber, dass der Band diese gegen sich selbst gerichtete Stimme in sich aufgenommen hat und zu Wort kommen lässt. Abschließend bleibt zu bemerken, dass er ein wichtiges literaturwissenschaftliches Forschungsgebiet aufgreift und viele interessante Impulse enthält, die freilich noch kontrovers zu diskutieren wären.

Titelbild

Claus Zittel / Markus Andreas Born (Hg.): Literarische Denkformen.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2018.
329 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783770561841

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