Auf eine Suppe bei Ernst Nolte
Saul Friedländers zweite Autobiographie „Wohin die Erinnerung führt. Mein Leben“ ist die richtige Lektüre zum 70. Geburtstag Israels
Von Jan Süselbeck
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin Werk des traumatischen Realismus nach Auschwitz
„Die israelische Politik zu kritisieren ist gewiß berechtigt; das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen ist etwas ganz anderes; manchmal hat man das Gefühl, daß in diesem speziellen Umfeld die erste Position leicht in die zweite übergeht.“ Knapper kann man die Sachlage angesichts der pünktlich zum 70. Geburtstag Israels wieder einmal eskalierenden Angriffe auf den „Juden unter den Staaten“ (Léon Poliakov) kaum zusammenfassen als in Saul Friedländers zitierter Formulierung vom Ende seiner zweiten Autobiographie „Wohin die Erinnerung führt. Mein Leben“.
Der Shoah-Überlebende knüpft mit seinen 2016 erschienenen Memoiren an deren ersten Teil an, den Friedländer in deutscher Übersetzung aus dem Französischen 1979 unter dem Titel „Wenn die Erinnerung kommt“ publizierte. Als Kind deutschsprachiger jüdischer Eltern aus Prag wurde Pavel Friedländer nach dem Einmarsch der Wehrmacht im französischen Exil unter dem Namen Paul-Henri-Marie (Félicien) Ferland in einem katholischen Internat versteckt und so gerettet. Seine Eltern, die ihn dort abgegeben hatten, waren nach der Formulierung des Autors als ausländische Juden im nationalsozialistisch besetzten Frankreich „wandelnde Tote“. Sie wurden bei ihrem verzweifelten Versuch, 1942 vor den deutschen Deportationen in die Schweiz zu fliehen, gefasst, von den Schweizer Grenzbeamten der französischen Polizei übergeben und noch im selben Jahr in Auschwitz ermordet.
Friedländers Fortsetzung seiner Memoiren mag literarisch kein Großereignis sein und an vielen Stellen den Eindruck vermitteln, relativ spontan verfasst worden zu sein. Daran leidet zumindest die Struktur des Textes, der teils in unguter Weise dem Duktus unzusammenhängender Erinnerungen folgt. Gewiss: Man kann aus diesem unvermeidlichen Effekt des autobiographischen Gedächtnisses, das stets von gegenwärtigen Erfahrungen her neu konstruiert werden muss, ästhetisches Kapital schlagen, wenn man bewusst damit umgeht. Saul Friedländers Text versucht auch genau das und gehört damit zum Genre des traumatischen Realismus der Shoah-Literatur, das der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg definiert und beschrieben hat. Zwar spielt auch Friedländer immer wieder mit der offensiven Thematisierung seines altersgemäß nachlassenden Gedächtnisses und der traumatischen Versunkenheit seiner frühen Kindheit, wie dies auch andere Autorinnen und Autoren des Genres seit 1990 bereits erfolgreich getan haben. Doch oft finden sich selbst zu viel späteren Ereignissen in Friedländers Leben Formulierungen nach dem Motto: „Ich hatte übrigens vergessen zu erwähnen…“, die ganz einfach auf eine mangelnde Ausformung seines Werks hinweisen. Sie wäre leicht zu beheben gewesen. An viele Namen von Personen und Bekannten aus seinem Leben kann sich Friedländer nicht mehr erinnern. Er scheint sich aber auch keine Mühe gemacht zu haben, beim Schreiben seines Textes nachzuschlagen oder gewisse öffentliche Geschehnisse kurz nachzurecherchieren.
Dennoch handelt das Buch von historischen Zusammenhängen und politischen Fragen, die aktueller und dringender kaum denkbar sind, wenn auch teils auf Umwegen. Friedländer berichtet in „Wohin die Erinnerung führt“ hauptsächlich von seiner akademischen Karriere. Insofern erinnert der zweite Teil seiner Autobiographie an vielen Stellen an Ruth Klügers Buch „unterwegs verloren“ (2008), das schwerpunktmäßig von dem schwierigen Leben einer Literaturwissenschaftlerin an männerdominierten amerikanischen Universitäten handelt und dabei viel Unerfreuliches zutage fördert: Frauenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus. In seiner Identifikation mit Franz Kafka und mit seinen literarischen Interessen wiederum erinnert der Historiker Friedländer zugleich an seinen israelischen Kollegen Otto Dov Kulka, der 2013 mit seinen „Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft“ eine hochkomplexe und sensationelle autobiograpische Schrift vorlegte. Genauso wie Friedländer stammte Kulka (geboren 1933) aus der Tschechoslowakei, wie sein Historiker-Kollege Friedländer überlebte Kulka die Shoah als Kind, wenn auch wie die Literaturwissenschaftlerin Klüger (geboren 1931) in Auschwitz und nicht wie Friedländer (geboren 1933) in einem Versteck im französischen Exil. Dennoch: Manche Übereinstimmungen sind schlicht verblüffend. Kulka hat in seinem Erinnerungsbuch versucht, die eigene Überlebensgeschichte durch die Berufung auf Kafka besser zu verstehen, und auch bei Friedländer fielen die intensivere Beschäftigung mit Kafka und sogar die Verfassung einer kleinen Monographie über den Prager Schriftsteller mit seinem Projekt zusammen, eine Fortsetzung seiner Lebenserinnerungen zu schreiben.
Die Liste der biographischen Übereinstimmungen mit dem Schicksal anderer AutorInnen ließe sich fortsetzen: Wie Ruth Klüger lehrte Friedländer bis zu seiner Emeritierung an einer kalifornischen Universität. Davor führte ihn sein Lebensweg aus Frankreich nach Israel und in die Schweiz. In beiden Ländern lehrte der Politikwissenschaftler und Historiker über Jahrzehnte parallel, bevor er 1988 an die University of California in Los Angeles wechselte. Der Autor wurde seit den 1960er Jahren nach und nach zu einem der wichtigsten Historiker der Shoah. Seine seit den 1990er Jahren in zwei Teilen verfasste und 2006 abgeschlossene monumentale Studie „Das Dritte Reich und die Juden“ war bereits bei ihrem Erscheinen ein weithin anerkanntes, gerühmtes und bald mit renommierten Preisen ausgezeichnetes Standardwerk.
In „Wohin die Erinnerung führt“ rekapituliert Friedländer aber auch seine wechselnden Perspektiven auf die Geschichte Israels seit 1948, die unguten geschichtspolitischen und -wissenschaftlichen Entwicklungen in Deutschland seit den 1960er Jahren sowie die an den renommierten US-Universitäten oft betont antiisraelische Stimmung. Beispielhaft für letztere Problematik sind im Buch Friedländers heikle öffentliche Begegnungen mit dem Godfather der Postcolonial Studies Edward W. Said, der selbst zu Beginn der 1990er Jahre, also zur Zeit des knapp gescheiterten Friedensabkommens zwischen Israel und den Palästinensern zwecks einer Zweistaatenlösung, auf dem sogenannten palästinensischen Rückkehrrecht beharrte und damit nur die Auslöschung des Staas Israel für akzeptabel hielt.
Eine lehrreiche Lektüre zu Zeiten erhöhter Kriegsgefahr in Israel
Angesichts der aktuellen Gewalt-Explosion an der israelischen Grenze zu Gaza und kurz vor einem möglichen Ausbruch eines offenen Krieges zwischen Israel und dem Iran, also jener antisemitischen Diktatur, welche die einzige Demokratie im Nahen Osten seit Jahrzehnten mit Vernichtungsdrohungen überzieht, um nun, 2018, nach der Aufkündigung des Atomabkommens durch die Regierung Donald Trumps, auf eine erneute offene Eskalation zuzuarbeiten, gibt Friedländers Autobiographie Gelegenheit, nachzuvollziehen, wie es so weit kommen konnte und wie groß die aktuellen Bedrohungen für Israel tatsächlich sind.
Saul Friedländer wurde in Israel als streitbarer Friedensaktivist oft als ‚Verräter‘ angegriffen und geschmäht. Er ordnet seine eigene gemäßigte politische Position in Israel links der Mitte ein. An vielen Stellen seines Buches vertritt der Autor sogar Meinungen, die deutschen Israelkritikern auf den ersten Blick gefallen dürften. So schreibt Friedländer an einer Stelle, es ließe sich „nicht bestreiten, daß der jüdische Staat heute nicht nur aufgrund seiner fehlgeleiteten Politik, sondern bereits aufgrund seiner bloßen Existenz den Anstieg eines neuen/alten Antisemitismus fördert“.
Das ist im Kontext aber nicht so gemeint, wie es viele Antizionisten in der ganzen Welt heute sicher gerne verstehen wollen würden – nämlich so, dass Israel an der gesamten prekären Situation letztlich selbst Schuld sei. Eher weist Friedländer wiederholt darauf hin, dass der Hass von Israels Nachbarn auf das Land ganz einfach so groß ist, dass dessen bloße, 1948 international anerkannte und legalisierte Existenz immer wieder neue Angriffe und Vernichtungsversuche verursacht, denen militärisch entgegengetreten werden muss, wenn es nicht zur Katastrophe kommen soll. Auch im Blick auf den Antisemitismus ist Friedländer pessimistisch und glaubt nicht, dass diese besonders intensive Form des Hasses jemals ganz verschwindet: „Was den Antisemitismus angeht, so glaube ich nicht, dass es irgendeine Möglichkeit gibt, ihn auszulöschen.“
Aus der Sicht eines Shoah-Opfers, das seine Eltern im Holocaust verlor und während seines jahrzehntelangen Lebens in Jerusalem und Tel Aviv mehrere Angriffskriege von Israels Nachbarn miterleben musste, lesen sich vor allem Friedländers Erinnerungen des Sechstagekriegs 1967 und des Jom-Kippur-Krieges 1973 eindrucksvoll. Sie handeln von einer akuten Bedrohungssituation, die Israel zwar stets in erstaunliche militärische Siege wenden konnte, die aber zugleich auch ganz anders hätten ausgehen können und innerhalb des Landes traumatische Spuren hinterließen. Insbesondere der überraschende Krieg von 1973 stand zunächst auf Messers Schneide, löste in der israelischen Administration kurzzeitig Panik aus und hätte beinahe zu einer nuklearen Eskalation geführt. „Militärisch gesehen gelang es Israel, das anfängliche Chaos in eine Art Sieg zu verwandeln“, räumt Friedländer ein, „aber der Verlust an Menschenleben war erheblich: 2500 Soldaten wurden getötet und 7000 schwer verletzt“. Unter diesen Opfern befanden sich auch zwei der Doktoranden des Autors. Die Beschreibungen von Friedländers Erlebnissen während dieser heimtückischen ägyptischen Angriffskriege auf Israel sind gerade heute, anlässlich von Israels 70. Geburtstag, eine erhellende und zugleich beklemmende Lektüre.
Super-Gau beim Suppenessen mit Ernst Nolte
Dem deutschen Publikum sind insbesondere Friedländers Betrachtungen der Geschichtspolitik seit Martin Broszats Forderung einer „Historisierung des Nationalsozialismus“ und dem Historikerstreit von 1986 ans Herz zu legen. Mit skeptischem Blick betrachtet der Autor in seinem Buch auch legendäre Fernsehereignisse der 1980er Jahre wie etwa Edgar Reitz’ vielgerühmte TV-Trilogie „Heimat“. Der Regisseur bekannte in einem Interview, seine Serie solle den Deutschen ihre Erinnerung wiedergeben, die ihnen die US-Serie „Holocaust“ Ende der 1970er Jahre „gestohlen“ habe. Dieser TV-Erfolg über die Leiden einer deutsch-jüdischen Familie während der 1930er Jahre und der Kriegsjahre hatte in Deutschland eine bis dahin beispiellose Welle des Mitgefühls mit den Opfern der Shoah ausgelöst und eine breitere Beschäftigung mit dem Holocaust in Gang gesetzt. Laut Friedländer handelt „Heimat“ dagegen von einer durch den Nationalsozialismus nahezu unberührten, unschuldigen Idylle im Hunsrück, während es nicht etwa die Nazis, sondern die einmarschierenden Amerikaner sind, die am Ende jene Modernisierung bringen, welche „die uralten Traditionen zerstörte und, aus der Sicht von Reitz, die wahre Katastrophe ausmachte“.
Auch Friedländers kritischer Briefwechsel mit Broszat in den „Vierteljahresheften für Zeitgeschichte“ ist legendär und wird im Buch erneut rekapituliert: Broszat warf Friedländer Befangenheit vor und behauptete, jüdische Zeugen vermöchten aus ihrer Perspektive als Opfer lediglich eine „mythische“ Geschichte des Holocaust zu schreiben. Friedländer antwortete postwendend, dass jemand, der wie Broszat Mitglied der Hitlerjugend war, wohl auch nicht ganz objektiv über das Thema arbeiten könne.
An wahre Horrorszenen jedoch erinnert sich Friedländer angesichts einer Begegnung mit Ernst Nolte. Der renommierte Faschismushistoriker hatte in den 1980er Jahren den Historikerstreit provoziert, indem er in einem FAZ-Artikel behauptet hatte, Hitlers Vernichtungskrieg im Osten sei bloß eine rationale Verteidigungsreaktion, also eine Art Präventivkrieg gegen Stalins bereits vorher begonnene kommunistische Gräuel gewesen, die Westeuropa akut bedrohten. Der Gulag, so Noltes revisionistische These, sei das „Original“ gewesen, Auschwitz aber bloß die „Kopie“.
Ausgerechnet Nolte lud Friedländer nun zusammen mit dem amerikanischen Literaturhistoriker Peter Demetz (Yale) und den PolitikwissenschaftlerInnen Alexander und Gesine Schwan (FU Berlin) zu sich nach Hause zum Abendessen ein. Kaum war die Suppe aufgetragen, begann Nolte eine Art Kreuzverhör mit Friedländer, das auf nichts als antisemitischen Verschwörungsphantasien beruhte: „Herr Friedländer, Sie können nicht bestreiten, daß es so etwas wie ein Weltjudentum gibt.“ Dieses unleugbar existierende „Weltjudentum“ habe sich im Krieg mit Deutschland befunden, weswegen Hitler „die Juden als Feinde betrachten und sie als Kriegsgefangene in Konzentrationslagern internieren konnte, wie die Amerikaner es mit den Japanern gemacht haben“. Am Ende setzt Nolte in dieser alptraumhaften Begegnung sogar noch einen drauf: „Wußten Sie, Herr Friedländer, daß Kurt Tucholsky in den zwanziger Jahren schrieb, er wünschte sich, daß die deutsche Bourgeoisie den Gastod sterben würde?“ Dem Attackierten blieb nach einigen ebenso fassungslosen wie schlagfertigen Repliken nur die Bitte, ihm ein Taxi zu rufen, um mit Demetz fluchtartig das Weite zu suchen, während Alexander und Gesine Schwan es vorzogen, zu alledem zu schweigen und einfach sitzen zu bleiben.
Ähnlich konsternierend lesen sich Friedländers Erinnerungen an seine Begegnungen mit dem schwärmerischen Regisseur Hans-Jürgen Syberberg, der sich der Einschätzung des Autors nach nie sonderlich bemüht habe, „seinen Antisemitismus zu verhehlen“. Auf seine mystische Überhöhung des NS-Diktators in seinem umstrittenen Film „Hitler, ein Film aus Deutschland“ (1977) angesprochen, der mit seinem schwelgerischen Wagner-Soundtrack die „Verzauberung“ und Führer-Begeisterung von einst heraufbeschwöre, habe Syberberg seinen jüdischen Kritiker in Hamburg angefahren: „Aber es war ja faszinierend!“ Mehr noch: Bei einer Vorstellung seines Hitler-Films in Israel brüllte der Filmemacher seine Gastgeber bei einem Abendessen an: „Was ich hier zeige, ist Kunst, während die Juden mit Auschwitz Geld verdienen!“
Wären sie nicht so entsetzlich, könnte man diese Anekdoten sogar fast unterhaltsam nennen. Doch wie unter anderem jüngste antisemitische Vorfälle auf deutschen Straßen, in Berliner Schulen oder sogar bei der Echo-Preisverleihung zeigen, ist dieser Ungeist deutscher Wissenschaftler und Künstler der 1970er- und 1980er Jahre nach wie vor lebendig, ja geradezu wieder zum Mainstream-Diskurs avanciert. Die neuesten, überaus besorgniserregenden Entwicklungen antisemitischen Denkens, die seit 2017 nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Deutschland zu beobachten sind, konnte Friedländer in seinem 2016 erschienenen Buch nicht mehr behandeln. Wie wenig all das überrascht, was nun passiert, kann man sich bei der Lektüre seiner Memoiren jedoch auf beunruhigende Weise vergegenwärtigen. Kurz: Wenn es auch nicht so glänzend geschrieben ist wie etwa Marcel Reich-Ranickis Autobiographie „Mein Leben“ (1999), ist Friedländers Buch nicht weniger als ein erhellender Beitrag zur wechselvollen deutschen Zeitgeschichte der Shoah-Erinnerung seit 1980 sowie eine streitbare Darstellung israelischer Zeitgeschichte seit 1948.
|
||