Drei Männer ohne Eigenschaften

Die Helden in André Kubiczeks Roman „Komm in den totgesagten Park und schau“ sind auf der Flucht vor sich selbst und vor unserer Gegenwart

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

André Kubiczek (geb. 1969) hat den Titel für seinen neuen Roman einem Gedicht von Stefan George entliehen. In dessen 1897 erschienenem Zyklus Das Jahr der Seele beginnt der erste Text des Abschnitts Nach der Lese überschriftslos mit diesen Zeilen:

Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade

Georges Verse werden meist als Ausdruck des überfeinerten Empfindens des Sprecher-Ichs gedeutet, das einen Gleichgesinnten einlädt, sich „schauend“ einer untergehenden Schönheit zu versichern. Vordergründig ist dies ein eingehegter Naturabschnitt, der begrenzte Bereich eines Parks im Herbst, der sich noch einmal mit grandiosen Farben schmückt, bevor alles Leben aus ihm verschwindet und später im Jahr der Schnee sich wie ein Leichentuch über die Landschaft legen wird. Im Unterschied zu anderen, mit ähnlichen Bildern arbeitenden Naturgedichten, die auf die Trauer über das Vergangene und den „Tod“ der Natur abheben, trägt Georges Gedicht allerdings eine festlich-hymnische Grundstimmung. Zum Genuss einer späten, absterbenden Schönheit wird eingeladen wie zu einer Feier des Untergehenden. Was andere schon „totgesagt“ haben – für den Eingeweihten und seine – wenigen – Adepten hat es etwas Sakrales, in dem das Göttliche zum Vorschein kommt.

Mit Gedichten beschäftigt sich auch eine der drei Hauptfiguren Kubiczeks. Marek Winter geht auf die 50 zu, ist Literaturwissenschaftler und hält sich mit Vertretungsprofessuren über Wasser. „DDR-Lyrik der 70er  und 80er Jahre und ihr […] Beitrag zum Sturz des sogenannten totalitären Systems“ ist sein Spezialgebiet, über „Schwundstufen des Anarcho-Expressionistischen in der neoklassischen DDR-Lyrik der späten vierziger und kompletten fünfziger Jahre“ trägt er in den Perioden der Arbeitslosigkeit zwischen seinen befristeten Anstellungen Material zusammen. Denn er möchte eines Tages auch zu den „richtigen“ Professoren gehören, den auf Lebenszeit angestellten Saturierten mit „ihrer jovialen Art und ihrer verlottert aussehenden Kleidung“, ein Traum, der freilich nicht in Erfüllung geht.

Zu Felix, seinem Sohn aus erster, gescheiterter Ehe, der mit Mutter und Schwester nach Bonn gezogen ist und dort ein Gymnasium besucht, hat Marek kaum mehr Kontakt. Stattdessen muss er sich mit seiner aus Brasilien stammenden zweiten Frau Adriana und deren beiden Töchtern herumschlagen.

Und schließlich ist da noch Veit Stark, ehemaliger Hilfswissenschaftler (HiWi) und aktueller Forschungsstipendiat von Marek Winter, leidenschaftlich an Literatur interessiert und allein deshalb schon etwas Besonderes in den Augen seines Förderers, weil er aus Cottbus stammt, einer ähnlichen Ex-DDR-Bezirksstadt wie Potsdam, wo Winter seine Kindheit und Jugend verbrachte. Als Veit seine 70-jährigen Eltern in einer ZDF-Nachrichtensendung auf einer jener Demonstrationen entdeckt, die seit den Dresdener  PEGIDA-Märschen in vielen ostdeutschen Städten an der Tagesordnung sind, beginnt er, über den von ihm so genannten „Morbus Ostdeutschland“ nachzudenken. Und weil er findet, dass weder sein Vater noch seine Mutter zu jenen „Ewig-Gestrigen“ zählen, zu denen der Fernsehkommentar sie fraglos rechnet – „sie waren eben nur von gestern, aus der DDR, nicht von vorgestern“ –, verbreitet und kommentiert er von da an in den „Echoräumen des Internets“ neurechtes Gedankengut.

Der Leser von Komm in den totgesagten Park und schau begegnet Marek und Felix Winter sowie Veit Stark zu Beginn des Buches auf deren gemeinsamer Flucht. Irgendwo in der Nähe von Prag hat sich das Trio schließlich in einem Ferienhaus eingenistet. Es ist Herbst – wie in Stefan Georges Gedicht, das ein bisschen die Grundstimmung in Kubiczeks Roman beschreibt –, die Tage und Nächte werden kälter und das Verhältnis zwischen den Männern ist gereizt. Warum man sich aus Berlin über die Lausitz ins Böhmische abgesetzt hat – statt von einer „Flucht“ sprechen Kubiczeks Protagonisten lieber beschönigend von einer „Reise“ – erfährt man nach und nach aus den Erinnerungen der drei unterschiedlichen Generationen angehörenden Männer. Zwei davon sind in Briefform gehalten: Felix schreibt an seine Bonner Klassenkameradin Nina, mit der zusammen zu sein offensichtlich mehr Wunschtraum des jungen Mannes ist als reelle Möglichkeit, während Marek sich brieflich seinem Sohn gegenüber zu rechtfertigen versucht. Im Gegensatz zu diesen Bekenntnissen in Ich-Form sorgt im Fall von Veit Stark ein personaler Erzähler für mehr Distanz zu dieser dritten zentralen Figur.

Was ist geschehen, dass man Deutschland den Rücken gekehrt hat und vorerst auch nicht daran denkt, das Niemandsland, in dem man sich befindet, wieder zu verlassen? Um im Wettstreit mit einem anderen Gymnasiasten um die Aufmerksamkeit seiner Mitschülerin Nina nicht den Kürzeren zu ziehen, hat sich Felix von den beiden auf eine Antifa-Demonstration in Köln mitnehmen lassen und anschließend sein Imponiergehabe so weit übertrieben, dass er das Auto eines Burschenschaftlers anzündete. Der zu erwartenden unvermeidlichen Konfrontation mit der Polizei versucht er auszuweichen, indem er zu seinem Vater nach Berlin flieht.

In der Hauptstadt landet Felix dann bei einem Mann, der sich ebenfalls bis zum Hals in Schwierigkeiten befindet. Denn Marek bekommt das Zusammenleben mit seiner zweiten Frau und deren beiden Töchtern genauso wenig in den Griff wie seine erste Ehe. Einer Vertreterin des Jugendamts gegenüber lässt er sich sogar zu Tätlichkeiten hinreißen, die die ohnehin angespannte Situation weiter verschärfen. An Letzterem hat auch der von ihm sehr geschätzte Veit Stark einen nicht unbeträchtlichen Anteil.

Dem ist zur selben Zeit das Missgeschick passiert, dass er sich auf seinem Twitter-Account als anonymer Verbreiter neokonservativen Gedankenguts selbst enttarnt hat. Als eine seiner Studentinnen daraufhin damit droht, ihn öffentlich bloßzustellen, willigt er ein, sich mit ihr zu treffen und den Fall zu diskutieren. Um ihr zu zeigen, wo er herkommt und wie die Leute dort denken, nimmt Veit die junge Frau, die sich den nom de guerre Noa Snow zugelegt und in die Veit sich wohl auch ein bisschen verliebt hat, schließlich sogar mit auf eine Fahrt zu seinen Eltern. Doch anstatt die farbige, politisch korrekt denkende Studentin bei dieser Gelegenheit auf seine Seite zu ziehen, muss er hilflos miterleben, wie sie in der ostdeutschen Provinz von rechten Schlägern ins Koma geprügelt wird.

Komm in den totgesagten Park und schau ist ein Roman über unsere Gegenwart, der erste seit Langem von einem Autor, der sich zuletzt in der Vergangenheit rund um seine Familiengeschichte (Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn, 2012), die letzten Jahre der DDR (Skizze eines Sommers, 2016) und das erste Wendejahr (Das fabelhafte Jahr der Anarchie, 2014) wohler fühlte. Thematisch kreist das Buch um das Deutschland unserer Tage und die politischen Verwerfungen, die es mehr und mehr prägen. Auch vor etlichen gewagten Thesen schreckt Kubiczek, darin verwandt mit jüngeren Einlassungen anderer ostdeutscher Autorinnen und Autoren zur aktuellen Situation im Land, nicht zurück. Behauptungen wie die folgende legt er freilich vorsichtshalber in den Mund der dubiosesten seiner drei den Roman tragenden Figuren:

Seit vor dreißig Jahren die Gegenwelt des Sozialismus untergegangen und der neoklassische Kapitalismus zur alleinherrschenden Ideologie aufgestiegen ist, wurde den Leuten von Regierungen scheinbar verschiedener politischer Richtungen diese Ideologie als ein Naturgesetz verkauft, dem man sich nicht entziehen kann, so wie man sich der Gravitationskraft nicht zu entziehen vermag.

Der eigenen Verantwortung durch die Flucht entkommen zu wollen, wie es die beiden Winters und Veit Stark machen, bedeutet freilich Ausweichen und nicht, sich der Verantwortung zu stellen. Vielleicht sind die drei aber auch einfach nur die falschen Helden in einer Zeit, in der es leichter zu sein scheint, zu kritisieren und an den Pranger zu stellen, dafür aber umso mühevoller, für sich in einer in stetigem Wandel begriffenen Welt einen Ort zu finden und diesen mit Sinn zu erfüllen. Insofern hat es André Kubiczek letztlich wohl versäumt, die sich senkende Waagschale, auf der er die Protagonisten von Komm in den totgesagten Park und schau angesiedelt hat, durch ein entsprechendes Gegengewicht auszutarieren. Denn dass er zu jenen zählt, die wie sein Held Veit Stark der Meinung sind, dass der nahenden „Apokalypse Deutschlands“ nicht mehr zu entkommen ist, wollen wir ihm nicht abnehmen.

Titelbild

André Kubiczek: Komm in den totgesagten Park und schau. Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2018.
382 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783871341793

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