Blackbox Russland

In „Blasse Helden“ nimmt Arthur Isarin seine Leser mit in eine Übergangszeit, das Russland der 1990er Jahre

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Arthur Isarins Held Anton kommt Anfang der 1990er Jahre aus den USA nach Russland. In New York hatte er hoch über der Wall Street, im 28. Stock eines Manhattaner Bürogebäudes, als Controller für eine Versicherungsgesellschaft gearbeitet. Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 ließ in dem 32-jährigen Deutschen dann den Wunsch erwachen, „so weit wie möglich in den Osten einzutauchen“. Als einer seiner Onkel, ein Kölner Anwalt, ihn mit Paul Ehrenthal bekannt macht, einem baltisch-deutschen Kaufmann, der in den 70ern als Handelsvertreter nach Moskau gekommen war und die ökonomischen Reformen der 80er Jahre genutzt hatte, um auf privatwirtschaftlicher Basis in den Rohstoffhandel einzusteigen, weiß Anton, dass er in der Firma des inzwischen längst hinter den smarten Oligarchen der neuen Generation zurückgebliebenen Kaufmanns eine einmalige Chance hat. Als „Mr. Fix-it“ steigt er bei Ehrenthal ein und führt fortan das verschwenderische Leben der neuen Eliten des Landes.

Arthur Isarin – der Name ist ein Pseudonym – nimmt den Leser in seinem ersten Roman mit in eine gut zehnjährige Übergangszeit. Der aktuell in Queensland/Australien lebende, 1965 in München geborene Autor hat nach dem Studium von Philosophie, Politik und Ökonomie in England, den USA, Russland und Kasachstan gearbeitet und legt mit Blasse Helden nun einen wirklichkeitsgesättigten, routiniert geschriebenen Roman vor, nach dessen Lektüre man besser begreift, wie jenes Russland, dem der Westen gegenwärtig weitgehend verständnislos gegenübersteht, nach einem chaotischen Dezennium Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts entstand.

Freiheit sucht der von der russischen Kunst und dem östlichen Lebensstil besessene Held von Isarins Roman – und er findet sie in einem Land, in dem die alten Gesetze außer Kraft gesetzt wurden und neue Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders erst rudimentär existieren. Es ist das Anarchische jener Transformationsjahre, das Anton anzieht und in dem er vollkommen aufgeht. Keiner Politik oder Ideologie verpflichtet, frei von Moral und sich gewissenlos nur der Maximierung der Profite am Tag und den Ausschweifungen in den Nächten hingebend, lebt er das Leben jener, die in dem Machtvakuum nach dem Untergang der Sowjetunion schnell zugegriffen haben und sich inzwischen mit ihrem Geld alles zu kaufen vermögen, von Luxuslimousinen und herrschaftlichen Villen über schöne Frauen bis hin zu maroden Fabriken, Bodenschätzen, Pipelines und Seehäfen, über die man die materiellen Grundlagen seines neuen Reichtums in alle Welt verschiffen kann.

Der Leser bewegt sich mit Anton in den ersten Kapiteln des Romans durch ein Moskau, in dem es nur Angehörige der aus dem Chaos des Untergangs der alten Strukturen hervorgegangenen Schicht neureicher Parvenüs, die sogenannten „neuen Russen“, zu geben scheint. Geld spielt in diesen Kreisen keine Rolle, Frauen muss man nicht nachlaufen, Polizei und Gerichte nicht fürchten. Man zahlt mit Dollars, während man den ständig mehr an Wert verlierenden Rubel jenen überlässt, die sich auch nach dem Untergang der Sowjetunion kaum das Notwendigste zum Überleben leisten können. Edelrestaurants sind an allen Ecken der russischen Metropole aus dem Boden geschossen und die Schaufenster in den Prachtstraßen Moskaus präsentieren sich voll mit Luxusgütern. Die Prostitution blüht und mit ein paar Geldscheinen findet man leicht jemanden, der einen vom Problem eines unliebsamen Konkurrenten ohne viel Federlesens befreien kann.

Dass dies alles auf Kosten eines Landes geht, in dem zur gleichen Zeit Millionen nicht wissen, was der nächste Tag für sie bringen wird, in dem Kriminalität und Korruption blühen, eine Hyperinflation die Sparguthaben auffrisst, Alkoholismus und Drogenkonsum an der Tagesordnung sind und Kinderbanden nachts aus Erdlöchern kriechen und auf Raubzüge gehen, scheint Isarins Held am Anfang gar nicht bewusst. Und so erlebt er auch den Aufstand des Alten gegen das Neue Anfang der 90er Jahre – die sogenannte „Verfassungskrise“ 1993, in der sich Volksdeputiertenkongress und Oberster Sowjet gegen Boris Jelzins Wirtschaftsreformen stemmen und daraufhin entmachtet werden – mehr als eine Art karnevaleske Veranstaltung. Es kostet ihm allerdings um ein Haar das Leben, als der amtierende Präsident letzten Endes mit Gewalt gegen seine Gegner vorgeht.

Nach und nach freilich weicht Antons verklärt-romantischer Blick auf ein Russland, das er lange mit seinen – inzwischen der Vergangenheit angehörenden – kulturellen Leistungen gleichgesetzt hat, einer realistischeren Sichtweise auf die Verhältnisse. Und je mehr diese sich ihm aufdrängt, umso schwieriger wird es für ihn, das Leben, das er führt, vor sich selbst zu rechtfertigen. Da helfen dann auch nicht mehr Bolschoi Theater und Konservatorium, die Lektüre von Lermontow und Gogol oder Begegnungen mit Alexander Solschenyzin und Swjatoslaw Richter.

Dass der Abschied von Isarins Held aus einem Russland, in dem für gut ein Jahrzehnt alles möglich war, mit dem Erscheinen von Wladimir Putin auf der politischen Bühne zusammenhängt, macht das Schlusskapitel des Romans deutlich. Schon vorher war Anton von einem dem Komitee für Staatssicherheit angehörenden Bekannten über die Rolle des Geheimdienstes in sowjetischer und postsowjetischer Zeit aufgeklärt worden: „Wir haben das Land zusammengehalten und werden dies weiter tun! Es geht um Russland, man braucht uns. […] warten Sie noch ein paar Jahre, dann wird man uns anflehen, wieder Ordnung zu schaffen.“

Dass viele seiner russischen Bekannten „den aus dem Nichts aufgetauchten Mann belächelt und über dessen entenhafte Züge gespottet“ hatten, vermag Anton nicht den Blick dafür zu trüben, dass der Ex-KGB-Mann Putin auf dem Weg nach oben ist. Mit der „libertären Gangsteraura“, die es skrupellosen Aufsteigern ermöglicht hatte, sich zu nehmen, was immer sie begehrten, würde es demnach bald vorbei sein. „Die Macht der Oligarchen eindämmen, die Armee reformieren, den Korruptionssumpf trockenlegen, die Jugend auf Vordermann bringen, den Krieg im Kaukasus gewinnen und die Expansion von McDonaldʼs stoppen“ – mit dieser Agenda des neuen starken Mannes an der Spitze des Staats will Isarins Held dann doch nichts mehr zu tun haben. Als ihm von Seiten der nach der Macht Greifenden eine lukrative Position im neuen System angeboten wird, lehnt er ab und verlässt das Land.

Titelbild

Arthur Isarin: Blasse Helden. Roman.
Knaus Verlag, München 2018.
318 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783813507775

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