37 Gelegenheiten, sich unbeliebt zu machen
Deike Lautenschläger sagt ihrem Alter Ego Sophie, wie sie sich in Taiwan am besten nicht verhält
Von Astrid Lipinsky
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseTaiwan entwickelt sich zusehends zum touristischen (oder kulinarischen) internationalen Hotspot. Die Touristenzahlen haben nach jahrelangem kontinuierlichen Anstieg 2016 fast 11 Millionen erreicht. Daneben ist die Zahl der ausländischen Chinesisch-Studenten in Taiwan auf mehr als 100.000 gestiegen.
Für die Touristen gibt es in den bekannten Reihen (zum Beispiel Know-how, Lonely Planet, Polyglott oder National Geographic) Taiwan-Reiseführer. Jeder von ihnen dokumentiert die Einzigartigkeit von Taiwan jenseits einer bloßen „chinesischen Provinz“. Der zunehmenden Zahl von Touristen entspricht die wachsende Zahl von Direktflügen aus Europa – Taiwan hat mit den Schengen-Staaten den visafreien Kontakt ausgehandelt. Außerdem werden Taiwans südliche (Kaohsiung) und nördliche (Keelung) Häfen zum Anlaufpunkt für Weltreiseschiffe.
Eine ähnliche Reiseführer-Reihe mit inzwischen über dreißig Bänden von Australien bis Vietnam (und auch China) ist der „Fettnäpfchenführer“. Aber Deike Lautenschlägers Taiwan-Band ist mehr als ein Reiseführer. Er ist gleichzeitig nützliches Handbuch für den Langzeitaufenthalt.
Statt der gewohnten Liste der „Must-See“ erzählt das Buch in 37 Kapiteln über den fremden Alltag in Taiwan und wie man als Deutsche damit am besten klarkommt. Die Verfasserin ist Journalistin, wie man am geschliffenen und flüssigen Deutsch merkt. Sie hat daneben einen durchaus akademischen sinologischen Anspruch und mahnt den Leser, von der fremden Sprache wenigstens ein bißchen zu lernen. Zur Einstimmung gibt sie jedem Kapitel eine chinesische Redewendung inklusive der für Taiwan typischen Langzeichen als Titel.
Taiwan stellt sie in Form der Geschichte der fiktiven Figur der Sophie vor, deren Erfahrungen, wie die Verfasserin zugibt, sie größtenteils selbst gemacht hat. Das heißt: Es könnte jeden Neuankömmling in Taiwan treffen, und was Sophie auffällt oder aufstößt, löst beim Taiwan-erfahrenen Leser mit Sicherheit einen Wiedererkennungseffekt nach dem anderen aus. Zusätzlich zur wortgewandten Unterhaltung erhält er in grau unterlegten Feldern die wissenschaftlich korrekte Erläuterung, die ihm vielleicht bisher gefehlt hatte. Die 37 Kapitel enthalten knapp fünfzig „graue Kästen“, in denen sich nicht nur grundlegende Informationen zu Taiwan (Geschichte seit seiner Entdeckung durch die Portugiesen, Bevölkerung, Ureinwohner, Religion, Klima…) finden, sondern auch Kultur- oder Taiwan-Spezifisches von den heißen Quellen und dem stinkenden Tofu bis zum Tempelorakel mit roten Halbmonden (und wie man es richtig nachmacht).
Für den eiligen Touristen, der für gut 300 Seiten keine Zeit hat, liegt dem Buch eine eng bedruckte Karte bei: Auf einer Seite die zehn „must do“, auf der anderen die zehn schlimmsten Verhaltensfehler in Taiwan. Zu den zehn touristischen Pflichtaufgaben gehört außer dem Wolkenkratzer Taipei 101 keine einzige typische „Besichtigung“. Stattdessen empfiehlt Lautenschläger dem taiwanischen Alltag nachzuspüren: mit dem Besuch eines Nachtmarktes, eines Wahrsagers (Lautenschläger stellt ein halbes Dutzend verschiedene Methoden vor), eines Arztes für traditionelle chinesische Medizin, einer heißen Quelle, eines Tempels – nicht wegen der farbenprächtigen Architektur, sondern für ein Gebet in Kopie und in Nachahmung der anwesenden Gläubigen. Hat man dann noch nicht genug von der Insel gesehen, empfiehlt die Verfasserin den – immer erstaunlich pünktlichen – Zug. Ausführlichere „Fünfzehn must sees“ – auch die Museen, vor allem das Palastmuseum, und die Goldgräberstadt Jiufen – enthält der Anhang auf den Seiten 296 bis 302.
Wie Deike Lautenschläger selbst reist Sophie zum Chinesischlernen nach Taipei und will wie sie selbst nur kurz bleiben. Sophie beruhigt alle potentiell Interessierten: Den Chinesischkurs kann man heute von Deutschland aus mit ein paar englischen Sprachkenntnissen online buchen. Die nächsten Kapitel folgen Sophies Ankunft in Taipei und geben die nötigen Tipps, um „Fettnäpfchen“ – wie das Betreten einer Wohnung, ohne vorher die Schuhe ausgezogen zu haben – zu vermeiden. Die Kapitel enden jeweils mit dem Punkt „Was ist diesmal schiefgelaufen?“ (nämlich die Schuhe nicht ausgezogen haben) und diesem folgend: „Was können Sie besser machen?“ (sich umschauen, wie es die Taiwaner machen, wie an dem Haufen Schuhe VOR der Wohnungstür ersichtlich). Lautenschläger erklärt, warum es keinen 4. Stock im Hochhaus gibt (gleichklingend mit „Tod“, weshalb niemand dort wohnen will).
Neben dem unterhaltsamen Stil verstecken sich hinter dem Bericht über Sophies Erlebnisse – aus ihrer Sicht – so viele nützliche Informationen, dass der Leser mit dem Zählen gar nicht nachkommt und zum Beispiel wie Sophie die Stockwerke falsch nummeriert: In Taiwan ist das Erdgeschoss der erste Stock, und einen vierten Stock gibt es in vielen Häusern nicht, weil die Vier wie Tod klingt und niemand dort würde wohnen wollen. Damit ist ein wesentlicher Charakterzug der Taiwaner eingeführt (den jeder, der bereits in Taiwan war, bestätigen kann): Egal, welches Alter und welche Bildung: Sie sind unheimlich abergläubisch, ohne sich einer bestimmten Religion (Buddhismus, Taoismus) zuzurechnen. Dafür hat jedes Anliegen seinen darauf spezialisierten Gott, was für Lautenschläger, die aus der ehemaligen (atheistischen) DDR stammt, besonders faszinierend ist. Taiwans mehr als 5000 Tempeln begegnet die Verfasserin aber mit großem Respekt und gibt detaillierte Anweisungen, wie sich der ausländische Besucher richtig verhält: rechter Eingang, linker Ausgang und das mittlere Tor ist für die Götter reserviert.
Neben Überlegungen zum Liebesgott Yuelao (und der deutsch-taiwanischen Liebesgeschichte von Sophie) bietet das Buch aber auch Alltagspraktisches und überhaupt nicht Romantisches: So widmet sich ein Kapitel den im tropischen Wetter allgegenwärtigen Kakerlaken. Die Autorin bestätigt, dass eine kakerlakenfreie Wohnung wohl kaum zu finden ist. Sie erläutert dem Sprachstudenten-Leser, der diese Information benötigt, auch, wie man die Kakerlakenleichen (und den Müll überhaupt) loswird: In Taipei und mittlerweile auch in anderen Städten der Insel fährt täglich ein Müllauto, für das es offizielle Mülltüten gibt.
Deike Lautenschläger hat eine Reihe weiterer nützlicher Tipps zum Geldverdienen als Deutsch-Sprachlehrer – in Taiwan ist man extrem lernbegierig und füllt jegliche Freizeit mit Kursen aller Art –, zum richtigen Hochzeitsgeschenk oder zu allem, was man vermeiden muss, einer Freundin im Mutterschafts-Erholungsurlaub mitzubringen. Sie widmet sich den lokalen kulinarischen Spezialitäten – etwa dem inzwischen auch in Europa angekommenen Bubble Tea – und lässt Sophie von Taipeis ältestem Viertel erzählen. Sie warnt davor, Ess- oder Trinkbares mit zur U-Bahn zu bringen (ist verboten) oder rote Kübel auf dem Gehsteig (zum Verbrennen von Opfergeld) für Mülltonnen zu halten und für Abfall zu verwenden.
Anders als übliche Reiseführer ist dieser Fettnäpfchenführer eher ein Taiwan-Handbuch. In einen Besuch im Da‘an-Park baut Lautenschläger einen Exkurs zu Taiwans rapider Alterung und zu den südostasiatischen Altenpflegerinnen ein. Es gibt nicht nur eine Visite beim Arzt für chinesische Medizin, sondern auch Informationen zum taiwanischen Gesundheitswesen, der weltweit bekannten Krankenversicherung für alle und der fehlenden Anonymität der medizinischen Visite. Das ist deshalb sinnvoll, weil das Buch davon ausgeht, dass der Leser eine Weile bleibt, sich für Sprache und Kultur interessiert und deshalb nach einem chinesischen Namen sucht, der wirklich einer ist und keine lautmalerische Transkription des deutschen. Der Langzeit bleibende sammelt Kassenbons für die taiwanische Lotterie, legt (wie Lautenschläger) einen Dachgarten an und findet (legal oder illegal) einen Arbeitsplatz.
Der „Fettnäpfchenführer Taiwan“ ist für Sprachstudenten, Arbeitsuchende und Urlauber eine kompetente und unterhaltsame Einführung für die erfolgreiche Integration – für kürzer oder länger – in den taiwanischen Alltag.
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