Revolten in Bonn und Berlin

Christina von Hodenberg zeigt nicht nur ein anderes Achtundsechzig, sondern vor allem, dass Achtundsechzig anders war

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ändern wollten die RebellInnen der mit der Chiffre 1968 bezeichneten Revolte bekanntlich so ziemlich alles. Laut Christina von Hodenberg war „Achtundsechzig“ aber selbst anders als von den damaligen Aktivisten propagiert und den späteren Chronisten überliefert wurde und wird. Man denke etwa an Wolfgang Kraushaar, der jüngst im Rahmen der Frankfurter Römerberggesprächen des Jahres 2018 vergeblich versuchte, Hodenbergs Thesen zu widerlegen. Stattdessen belegte er sie vielmehr ganz unfreiwillig in Persona, wie der FAZ-Autor Christian Geyer-Hindemith berichtete.

Hodenberg wiederum warf nicht nur während der Römerberggespräche einen Blick auf Das andere Achtundsechzig, sondern hat bereits zuvor eine gleichnamige Studie veröffentlicht, der wohl ihre Einladung in die Frankfurter Diskussionsrunde zu verdanken war. Was an der 1968er-Revolte genau anders war, als von Kraushaar und Genossen behauptet, erörtert sie anhand dreier Fragestellungen: der Generationenfrage, der Geschlechterfrage und der Frage der Sexualität. Vorangestellt hat sie einen Vergleich des Schahbesuchs 1967 und der studentischen Reaktionen in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn und der, wie sie zu dieser Zeit oft genannt wurde, ‚Frontstadt‘ Berlin.

Überhaupt spielt Bonn eine prominente Rolle in dem Band, besteht doch das von Hodenberg erstmals historisch ausgewertete Quellenmaterial aus zeitgenössischen Tonbandaufnahmen einer psychologischen Forschungsgruppe der Bonner Universität, die ausführliche Interviews mit 200 damals über 60-jährigen ProbantInnen führten, sämtlich „kleine Angestellte und Kaufleute, Facharbeiter, Handwerker und Hausfrauen“ aus diversen Gegenden abseits der Großstädte. Die Gespräche wurden alljährlich im Rahmen der 1965 begonnen „Bonner Längsschnittstudie des Alters“ geführt. Der Geschlechteranteil der Befragten hielt sich die Waage. Neben den „privaten Beziehungen zwischen den Generationen und Geschlechtern“  thematisierten die Interviews auch die „medienwirksamen Zusammenstöße von Studenten und Polizei, Professoren und Politikern“. Zu den Gesprächen mit den (angehenden) RentnerInnen kommen 89 ebenfalls zeitgenössische Interviews mit Menschen der mittleren Generation (Mitte 30 bis Ende 50) sowie 22 zeitgenössische Gespräche mit damals an der Bonner Universität Studierenden. 16 im Jahr 2006 von der Autorin mit AktivistInnen der Bonner 68er-Bewegung geführte Interviews ergänzen den Quellenfundus. Anstelle der gedruckten und vor allem der visuellen Quellen der Massenmedien setzt die Autorin also auf das überlieferte gesprochene Wort. Denn die stets auf den selben „ kleinen Kern einer jugendlichen, männlichen, intellektuellen, großstädtischen Elite“ fokussierenden Bilder und Filmberichte führen ihr zufolge „in die Irre“, da sie „nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt dessen zeigen, was die Revolte ausmachte“. Mit dem von ihr vorgelegten Band will die Autorin zudem „das von den Zeitzeugen gewobene Netz der Mythen zu verlassen und mithilfe neuer Quellen und neuer Perspektiven qualitativ zu anderen Erkenntnissen über die gesellschaftlichen Wurzeln und Wirkungen von Achtundsechzig gelangen“.

Aufgrund der Erzählungen der ProbandInnen des psychologischen Forschungsprojektes im Jahre 1968 nimmt Hodenbergs Darstellung oft anekdotischen Charakter an. Da sie es dabei aber nicht dabei belässt, mindert das den Erkenntniswert ihrer Untersuchung nicht, sondern lockert die Lektüre nur auf.

In den ersten, dem ‚Generationenkonflikt‘ nachgehenden Abschnitten zeigt sie zunächst, dass „an der gängigen Formel vom Vater-Sohn-Konflikt um die braune Vergangenheit“, schon darum wenig dran ist, „weil die Eltern der Achtundsechziger rein ihrem Alter nach nicht ganz ins Klischee der Tätergeneration passen“. Vor allem aber machen die Interviews deutlich, dass von den Söhnen und Töchtern „zu Lebzeiten der Eltern nicht genauer nachgefragt“ wurde, sondern sie deren Darstellungen ihres Verhaltens während der Nazizeit um des lieben Familienfriedens willen unhinterfragt „hingenommen“ haben. So übernahmen die Jüngeren nicht selten „apologetische Familienmythen“ und flüchteten sich in ein „abstraktes Verständnis des Nationalsozialismus“, indem sie nicht von ihren konkreten Vätern, sondern „in der Regel nur über die abstrakten Väter – wie Heinrich Lübke, Kurt Georg Kiesinger“ –  sprachen. Erst Jahre und Jahrzehnte nach der 1968er Revolte „begannen die Achtundsechziger, ihre Differenzen zu den (abstrakten wie konkreten) Eltern zum Schlüsselmoment ihrer Lebensgeschichte aufzuwerten“, wie die Autorin anhand zahlreicher Quellen, unter ihnen auch zwei einige Jahre auseinanderliegender Zitate von Jürgen Habermas zeigen kann. Erst in den (späten) 70er Jahren wurde „das Schweigen der Eltern […] zur dämonischen Macht“ erhoben, „die die Leben der Achtundsechziger vergiftet“ habe. Ein Mythos, der von vielen „beschworen“ wurde, „allen voran Klaus Theweleit“, der einen „Zusammenhang zwischen der Verklemmtheit zuhause und der Nazischuld der Väter“ konstruiert habe. Tatsächlich aber musste in den Familien das Beschweigen der nationalsozialistischen Zeit „weder mit Gefühlskälte einhergehen noch die politische Radikalisierung der Kinder verursachen“, zumal der Autorin zufolge viele der aufbegehrenden StudentInnen nicht etwa Nachkommen von Nazis waren, sondern aus sozialdemokratisch geprägten Elternhäusern stammten.

In den anschließenden Kapiteln hebt Hodenberg den von den Herren Chronisten zumeist verschwiegenen oder kleingeredeten Anteil der Achtundsechzigerinnen an der Revolte hervor und betont, dass die Frauenbewegung nicht erst 1971 mit der Kampagne gegen den § 218 begann, sondern von Helke Sanders Rede auf dem SDS-Delegierten-Kongress 1968 und dem anschließenden Tomatenwurf Sigrid Damm-Rügers initiiert wurde, in deren Gefolge sich nicht nur der Berliner Aktionsrat zur Befreiung der Frau und in Frankfurt der sogenannte Weiberrat gründeten, sondern die Genossinnen, die nicht selten zugleich Mütter waren, zudem ebenfalls 1968 die Kinderladenbewegung ins Leben riefen, da ihnen ganz zu Recht das Private als politisch galt. Anders als die politische Revolte des männlichen Teils „griff“ die Frauenbewegung vor allem „als unterirdischer Prozess von Anfang an über die Universität hinaus und rekrutierte in atemberaubenden Tempo Frauen als allen Schichten und Regionen“. Während die Studentenführer in den Jahren nach 1968 „durch Einschreibung in mediale Debatten einen Generationenmythos bastelten“, veränderten die Achtundsechzigerinnen „sich selbst und das Land“, lautet Hodenbergs Fazit. Anders als im ersten, dem Generationenkonflikt gewidmeten Abschnitt sind die Erkenntnisse dieses zweiten nicht ganz neu, wurde der Anteil der Achtundsechzigerinnen an der Revolte und ihren Folgen doch schon mehrfach ins rechte Licht gerückt.

Im letzten, der sexuellen Revolte geltenden Teil unterscheidet Hodenberg drei „Varianten“ der „sexuellen Revolution“: 1. die „grundständige“, die nicht darüber hinaus ging, „Toleranz nur für ‚sexuelle Beziehungen mit einem einzigen Partner, zu dem eine Liebesbeziehung besteht und den man heiraten möchte‘“ zu fordern, 2. die „Politisierung von Sex“, der im „Dienste der sozialistischen Revolution“ vollzogen werde sowie 3. die von der Autorin merkwürdigerweise zu einer Variante mit der „Emanzipation sexueller Minderheiten“ zusammengefasste  Kritik an der „Vernachlässigung weiblicher Lust“ und die ersten öffentlichen Diskussionen über „Opfer sexueller Gewalt“. Diese Diskussionen entwickelten sich allerdings erst in den 1970er Jahren, in denen sie 1976 zu den ersten Frauenhäusern führten.

Die Theorie der zweiten Variante der „sexuellen Revolution“ wiederum fasst Hodenberg prägnant zusammen wie nur wenige vor ihr:

Die allgegenwärtige Repression natürlicher Triebe führe zwangsläufig zu Neurosen, analer Fixierung, Gewalttätigkeit, autoritären Charakteren und in letzter Konsequenz zum Faschismus […] Wilder, hedonistischer Sex würde gegen faschistische Ideen immunisieren, verklemmte Seelen therapieren und das kapitalistische Leistungssystem unterlaufen.

Diese Version sexueller Befreiung sei um 1968 zwar „nur von einigen tausend jungen Bildungsbürgern“ propagiert worden, habe aber die „Dominanz männlich-penetrativer Heterosexualität „fortgeschrieben und  schließlich viele ins „frustrierende Krisenkarussell der siebziger Jahre“ gesetzt.

Um aber nachvollziehen zu können, was die sexuelle Revolte um 1970 bedeutete, muss man sich vergegenwärtigen, dass Abtreibungen nicht nur weit härter verfolgt wurden als heute, sondern dass die sogenannte Kuppeleiparagraphen (§180-181 StGB) erst 1973 abgeschafft wurden. Bis dahin bedrohten sie Eltern, Hotels oder VermieterInnen, die ledige Paare gemeinsam übernachten ließen, mit nicht weniger als fünf Jahren Zuchthaus. Wenn Hodenberg allerdings schreibt, dass die Paragraphen 175 und 218 zur Zeit der Revolte „noch galten“, so ist das insofern irreführend, als der § 218, wenn auch in veränderter Form, noch immer gilt. Gerade die Bonner Kriminalstatistik für das Jahr 2017 führt sogar einen „unerlaubten Schwangerschaftsabbruch“ auf, wie der Bonner Generalanzeiger in einem Artikel über die Statistik unter der Zwischenüberschrift „Kapitalverbrechen“ auf seiner Web-Seite am 7. März 2018 meldete.

In Zusammenhang mit dem damaligen Sexualverhalten der AchtundsechzigerInnen werden die von der psychologischen Forschungsgruppe geführten Interviews noch einmal interessant. Zwar verzichtete deren Forschungsdesign auf Fragen zur Sexualität, doch thematisierten die Befragten sie selbst immer wieder sehr schnell, und zwar die über 60-jährigen noch stärker als die Befragten der mittleren Alterskohorte. Letztere hatten eine eher „neutrale“ Haltung gegenüber dem „Sexualverhalten der Jugend“, während es von der Generation der Großeltern „heftig“ kritisiert wurde.

Nicht ganz überzeugend ist Hodenbergs Argumentation, der zufolge 1968 „keine Zäsur in der Geschichte der Sexualität “markierte“, da „schon Anfang bis Mitte der Sechziger“ nicht nur aufgrund der Erfindung der Pille „die wesentlichen Schlachten geschlagen und zugunsten der sexuellen Revolution entschieden“ gewesen seien und sich „Tendenzen der Liberalisierung und Kommerzialisierung von Sex“ gegen den Widerstand von „kirchlichen und bürgerlichen Moralaposteln“ durchgesetzt gehabt hatten. Diese Argumentation funktioniert jedoch nur, wenn man wie Hodenberg die „grundständige“ Variante der „sexuellen Befreiung“ in den Mittelpunkt stellt, die „nicht an der bürgerlichen Ehe rüttelte und eben nicht eine Politisierung von Sex oder die Emanzipation sexueller Minderheiten wollte“. Die Politisierung von Sex war aber genau der Kern der sexuellen Revolte von 1968, der sich in den 1970er und frühen 1980er als sehr wirkungsmächtig erwies. Denn wie Hodenberg selbst schreibt, sah das um 1980 etwa 10 bis 15% der Jugend umfassende „linksalternative Milieu“ die „restriktive Sexualmoral sowie die bürgerliche Ehe und Familie als wahlweise faschistische oder kapitalistische Herrschaftstechniken“ an und argumentierten genau wie die Achtundsechziger, „dass das Ausleben des Sexualtriebes befreiend auf eine Bevölkerung wirken werde, die durch die allgegenwärtige Triebrepression neurotisch, autoritär und gewalttätig geworden sei“. Vor allem aber praktizierte das linksalternative Milieu nun das, was die sexuelle Revolution um 1968 weitgehend nur propagiert hatte.

Hodenbergs abschließendem Befund zufolge trifft der „Gemeinplatz, dass die Bewegung ‚politisch gescheitert, aber kulturell erfolgreich‘ gewesen sei“, aus zwei Gründen nicht zu. Zum einen überschätze er „die kulturelle Strahlkraft“ von Achtundsechzig, zum anderen fuße er auf einem „zu engen Politikbegriff“. Denn er unterschlage, „dass die Vorreiterinnen der neuen Frauenbewegung die Familie und das Geschlechterverhältnis politisierten“.

Hodenbergs Buch geht über das Versprechen seines Titels hinaus. Denn es zeigt nicht nur ein anderes Achtundsechzig, das mehr war als das, was sich in den Hochburgen Berlin und Frankfurt abspielte, sondern vor allem, dass es in mancher Hinsicht anders war als in den gängigen Darstellungen der Herren Revoluzzer und Chronisten behauptet. Das macht ihr Buch so wichtig.

Titelbild

Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte.
Verlag C.H.Beck, München 2018.
250 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783406719714

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