Völkische Sozialpolitik und imperiale Herrschaftsambitionen

Ein Sammelband untersucht die Rolle des Reichsarbeitsministeriums im NS-Staat unter der Begriffstrias „Verwaltung – Politik – Verbrechen“

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Jahren bereits gehört es zum zivilisatorischen Minimum, hier und da verknüpft mit dem, was die moderne Kommunikationsindustrie Corporate Identity zu nennen pflegt: die Erforschung der NS-Zeit als Auftragsarbeit, angefordert und finanziert von Firmen und staatlichen Einrichtungen verschiedenster Art. Den Anfang machten aus gutem Grund die großen Konzerne, die wegen Komplizenschaft mit dem Regime, vor allem wegen der Beschäftigung von Zwangsarbeitern, ins Gerede gekommen waren. Gewiss, nach wie vor gibt es Ausnahmen, nicht alle Unternehmen legen ihre Vergangenheit offen. Manche erwecken den Anschein, als sei ihnen die eigene Geschichte peinlich, und vermuten dort vermintes Gelände, um das man besser einen Bogen schlägt. Aber das besänftigt weder den Verdacht noch die Neugier.

Die Ministerien und Ämter der Republik haben etwas länger gebraucht, um die Bedeutung und die moralpolitische Brisanz zu erkennen, die im Tun ihrer jeweiligen Vorgängerinstitutionen steckt. Den Part des Vorreiters übernahm hier die Auswärtige Amt, gedrängt von Joschka Fischer, dem damals verantwortlichen Minister, der 2005 eine mehrköpfige Historikerkommission berief, die 2010 ihre Befunde in dem dickleibigen Buch Das Amt und die Vergangenheit vorlegte, dessen ungeschminkt und ohne jede Beschönigung vorgetragene Thesen heftige Kontroversen auslösten. Gleichviel, wie man dazu im Einzelnen stehen mag, markierte dies eine weithin hörbare Abkehr von der jahrzehntelang geübten Praxis des Beschweigens, Vertuschens und Verharmlosens. Mittlerweile sind zahlreiche Ministerien in Bund und Ländern gefolgt. Leidenschaftliches Pro und Contra gehen davon allerdings nicht mehr aus, das Publikum hat sich an derlei Aktivitäten gewöhnt. In einer Epoche, die fortwährend Transparenz als bürgerliche Normaltugend beschwört, wird dergleichen als selbstverständlich erwartet, und es riefe Irritationen hervor, wollten sich die Verantwortlichen in Berlin und anderswo davor drücken oder sich gar dagegen sperren.

Nun also das Reichsarbeitsministerium. Unter Federführung des Berliner Sozial- und Wirtschaftshistorikers Alexander Nützenadel präsentiert das mit der Erforschung des Hauses beauftragte Historikerkollegium erste Ergebnisse, die demnächst mit einer eigenen Buchreihe ergänzt, vertieft und ausgeweitet werden sollen. Offenbar will man auf eine umfassende Gesamtdarstellung verzichten und stattdessen einzelne Aspekte und Handlungsfelder in den Vordergrund rücken, Desiderate aufgreifen und Forschungslücken füllen. Das Ziel ist eine, wie es im Vorwort heißt, „moderne Verwaltungsgeschichte“, die sich nicht allein auf institutionelle Belange und Phänomene kapriziert, sondern auch und vor allem nach den Spielräumen des Ministeriums und seiner leitenden Beamten fragt, zentrale Bereiche der Politik in Augenschein nimmt und deren Bedeutung und Stellenwert im Rahmen des NS-Staates zu bestimmen sucht. Dabei gerät unvermeidlich das Problem der Kontinuität in den Blick, und zwar in doppelter Weise: zum einen in personeller wie inhaltlicher Hinsicht der 1933 ins Werk gesetzte Übergang von der Weimarer Republik in die völkische Diktatur, zum andern der nach der Kapitulation von 1945 zunächst auf Landes-, dann auf Bundesebene sich vollziehende Neuaufbau staatlich administrativer Strukturen, was unter anderem der Klärung dient, in welchem Umfang Mitarbeiter mit NS-Belastung weiter- oder wiederbeschäftigt wurden.

Parallel zur Ausbildung und Differenzierung des modernen Interventionsstaates wuchs der Bedarf an sozial- und arbeitsmarktpolitischer Regulierung. Das lässt sich bis ins späte 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Im Ersten Weltkrieg beschleunigt sich diese Entwicklung, und im Blick auf die Bewältigung der Kriegsfolgekosten (Versehrten- und Hinterbliebenenfürsorge), aber auch im Blick auf einschneidende Konjunktureinbrüche (Inflations- und Weltwirtschaftskrise) gewann sie in den Jahren der Weimarer Republik für breite Schichten der Bevölkerung zunehmend existentielle Bedeutung. Dabei rückte das im Oktober 1918 gegründete Reichsarbeitsamt, im März 1919 in Reichsarbeitsministerium umbenannt und bis 1932 geleitet von Männern, die aus der sozialdemokratischen und christlichen Gewerkschaftsbewegung kamen, in eine Schlüsselposition. Die behielt es auch 1933, denn „Arbeits- und Sozialpolitik“ spielte, wie Nützenadel betont, „im ideologischen Selbstverständnis der NSDAP eine herausragende Rolle.“ Das Ministerium und die ihm nachgeordneten Behörden hatten deren Visionen und Projekte, die auf Schaffung einer ‚artgemäßenʻ völkischen Sozialordnung hinausliefen, in die gesellschaftliche Realität einzupassen, was zugleich einen Kurs kontinuierlicher Anpassung an die Erwartungen und die Praxis des Regimes implizierte. Insofern, und daran besteht kein Zweifel, war das Arbeitsministerium ein integraler, williger und in Maßen effizienter Bestandteil in den Funktionsmechanismen der nationalsozialistischen Diktatur.

Die Aufsätze des Sammelbandes beruhen durchweg auf profunden Recherchen, argumentieren nachvollviehbar und befleißigen sich einer lesbaren Prosa, was bei den teilweise recht sperrigen Sachverhalten nicht gering zu achten ist. Fast alle Beiträge beginnen mit einem prägnanten Zitat oder einer bezeichnenden Episode, die einem Brennglas gleich die jeweils behandelte Thematik einfangen und bündeln. Den Auftakt macht Ulrike Schulz mit einer gehaltvollen Analyse der Institution, das heißt, sie seziert eine Mammutbehörde, durchleuchtet „Organisation, Führungspersonal und politische Handlungsspielräume“ zwischen 1919 und 1945. Deren Bedeutung lag vor allem darin, dass es der Demokratie ebenso wie der Diktatur erhebliche Legitimationsressourcen zuführte. Dafür spricht, hebt die Autorin hervor, der „hohe Grad an personeller und struktureller Kontinuität“, die das Ministerium auszeichnete. Ein gewichtiger Ausdruck dafür war der Minister höchstpersönlich, der sich trotz mancher Anfeindungen von Anfang bis Ende im Amt zu behaupten vermochte: Franz Seldte, in der Weimarer Republik der Führer des  Wehrverbandes „Stahlhelm“.

Ursprünglich eine Vereinigung von Kriegsteilnehmern, hatte dieser seit Oktober 1926 mit zunehmender Lautstärke weit reichende Gestaltungsansprüche und politische Teilhabe angemeldet. Sein Vorsitzender war im Januar 1933, wie zu Recht angemerkt wird, nicht „als persönlicher Kandidat Hitlers“, sondern als Exponent der Kreise um den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ins Kabinett geholt worden. Seldte und damit eine ‚nationaleʻ Massenorganisationen einzubinden, war zweifellos ein „geschickter Schachzug“, aber darin dürfte sich das Motiv für die Berufung nicht erschöpft haben. Der „Stahlhelm“ nämlich hatte, was in dem ansonsten vorzüglich informierten Beitrag von Ulrike Schulz nicht berücksichtigt wird, in den späten 1920er Jahren mit Planungen für eine tief greifende, am Vorbild des faschistischen Italien orientierte, gegen den Weimarer Sozialstaat und die Gewerkschaften gerichtete korporative Umgestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung begonnen. Inmitten der ökonomischen und gesellschaftlichen Krise, der Auflösungs- und Umschichtungstendenzen in der politischen Landschaft waren dies Signale, dass er sich auf den Griff nach der Macht vorbereitete. Die Parolen, mit denen er hantierte, etwa: Pflege des „berufsständischen Gemeinschaftsbewusstseins“ oder „Werks-, Standes- und Volksgemeinschaft“ statt „Klassenkampf“, waren den Nationalsozialisten keineswegs fremd, eine Koalition also durchaus naheliegend.

Tatsächlich verhandelte das Ministerium mit Vertretern verschiedener Gruppierungen über eine berufsständische Neuordnung bis weit ins Frühjahr 1933. Mit der Gründung der Deutschen Arbeitsfront wurde das obsolet und im Januar 1934 mit dem „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ endgültig zu den Akten gelegt. Parallel dazu vollzog sich mit der schrittweisen Eingemeindung in die SA die Gleichschaltung des „Stahlhelm“. Damit wurde Seldte machtpolitisch gewissermaßen entkernt, verlor Hausmacht und eigenständige Operationsbasis. Das dürfte im politischen Kräftespiel nicht ohne Konsequenzen gewesen sein. Vielleicht aber war es auch, so ließe sich spekulieren, überhaupt die Voraussetzung dafür, dass er bis 1945 auf seinem Posten belassen wurde. Daraus auf prinzipielle Schwäche oder gar auf anhaltende Einflusslosigkeit zu schließen, erscheint nach den Befunden des Sammelbandes jedoch verfehlt. Zwar musste das Ministerium im Laufe der Jahre immer wieder Zuständigkeiten abtreten, eine Entwicklung, die im Krieg kulminierte, aber Seldte vermochte die zahlreichen Konflikte mit konkurrierenden Instanzen und ambitionierten Parteifunktionären wie Robert Ley, dem kompetenzhungrigen Leiter der „Deutschen Arbeitsfront“, auszusitzen. 1938 verlor er den direkten Zugang zu Hitler, ein Schicksal das auch andere Ressortchefs erlitten, mehrfache Rücktrittsangebote lehnte dieser aber bis zum Schluss ab.

Wohltuend ist, dass die Autoren des Sammelbandes gängigen Zuschreibungen mit Skepsis begegnen. Zu nennen ist hier etwa die auf den in die USA emigrierten Juristen und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel zurückgehende und weitläufig rezipierte Theorie, wonach das Wesensmerkmal der NS-Diktatur in der Dichotomie von „Normen“- und „Maßnahmestaat“ zu sehen sei: jener verkörpert von der Bürokratie, dieser von der SS, der Gestapo und den zahllosen Sonderkommissariaten und Generalbevollmächtigten, jener orientiert an bürokratischer Regelhaftigkeit und Rationalität, dieser bestrebt, gerade dies auszuhebeln und zu unterminieren. Nun zeigen die hier versammelten Beiträge – unter anderem über Konflikt und Kooperation mit der Arbeitsfront (Rüdiger Hachtmann), über wohnungsbaupolitische Konzepte (Karl Christian Führer), über die Rentenversicherung, das Arbeitsrecht und die Arbeitsverwaltung im Krieg (Alexander Klimo, Sören Eden und Henry Marx) –, dass der „Normenstaat“ in Gestalt des Arbeitsministeriums bereits früh und dann kontinuierlich immer tiefer in den „Maßnahmestaat“ hineinwuchs. Das heißt, dass sich die Gegensätze zwischen den verschiedenen Machtzentren des Regimes zwar nicht verflüchtigten, aber doch der Tendenz nach nivellierten, wobei den Ministerialbeamten die Aufgabe zufiel, die ‚Maßnahmen‘ durch ‚Rechtsnormen‘ abzusichern. Im Blick auf die zahllosen Rivalitäten und das allenthalben zu beobachtende Kompetenzgerangel sieht der Herausgeber Nützenadel die Ausbildung eines „hybriden Organisationstypus“ am Werk, „der die strikte Trennung von klassischer Bürokratie und außerstaatlichen Institutionen transzendierte.“ Rüdiger Hachtmann, einer der Autoren des Bandes, hat unlängst in diesem Zusammenhang sogar von „neuer Staatlichkeit“ gesprochen.

Im Verlauf des Krieges verstärkte sich diese Entwicklung. Das Arbeitsministerium wurde zum Komplizen der nationalsozialistischen Raub- und Vernichtungspolitik, auch zum Propagandisten einer Internationalisierung der deutschen Sozialpolitik, der sich Kiran Klaus Patel und Sandrine Kott zuwenden. Das zielte auf Errichtung einer ‚völkischen‘ Sozialordnung in den besetzten oder abhängigen Territorien, sollte die kontinentaleuropäische Expansion und die hegemonialen Ambitionen des Reichs abfedern und beglaubigen. Im 19. Jahrhundert hätte man dergleichen womöglich unter dem Stichwort „moralische Eroberungen“ verbucht. Nun aber im Krieg lief es einher mit brutaler Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik, war Begleitung und Fortsetzung imperialistischen Machtstrebens mit sozialpolitischen Mitteln.

Davon zeugen die Praktiken der zunehmend gewaltsamen Rekrutierung von Arbeitskräften, die Elisabeth Harvey am Beispiel Belgiens und des Generalgouvernements analysiert. Swantje Greve richtet das Augenmerk auf den Ende März 1942 in Gestalt des Thüringer Gauleiters Fritz Sauckel installierten „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“, der im Feld der Arbeitspolitik mit ausdrücklicher Rückendeckung Hitlers zentrale Befugnisse und Weisungsrechte an sich zog, dabei den Apparat des Ministeriums nutzte und zur Steuerung und Koordinierung nur einen kleinen Arbeitsstab mit vertrauten Figuren aus seinem Thüringer Wirkungskreis einrichtete. Michael Wildt schließlich verweist auf den unlösbaren Zusammenhang von Judenmord, Ausplünderung und Arbeitseinsatz in den Ghettos des „Reichsgaus Wartheland“, des Generalgouvernements und der okkupierten sowjetischen Gebiete. Zwar waren die dorthin entsandten Angehörigen der Arbeitsverwaltung, so das Fazit des Autors, „keine Täter an den Erschießungsgräben“, aber sie haben durch Selektion der „Arbeitsfähigen“ von den „Arbeitsunfähigen“ an „entscheidender Stelle daran mitgewirkt, welche Menschen getötet wurden und welche nicht.“

Dass sich nach dem Krieg der Aufklärungseifer in engen Grenzen hielt, wundert nach allem, was wir aus anderen Behörden und Verhältnissen wissen, nicht. Kim Christian Priemel untersucht Aspekte der juristischen Aufarbeitung  durch die Nürnberger Prozesse, wo der Generalbevollmächtigte und Bilderbuchnazi Sauckel zwar zum Tode verurteilt wurde, die leitenden Beamten des Ministeriums aber relativ ungeschoren davon kamen. Ja, Franz Seldte, der in der Haft starb, rühmte sich „als Mann des sozialen Ausgleichs“, der die „deutsche Sozialpolitik entscheidend vorangebracht“ habe. Während der Vernehmungen erweckte er den Eindruck, so Priemel, als habe er „zwölf Jahre lang Zeitung gelesen – oder nicht einmal das.“ Ergänzt und fortgeführt wird diese Problematik durch einen quantitativ und qualitativ argumentierenden Beitrag von Martin Münzel, der den Blick auf das „Spitzenpersonal der zentralen deutschen Arbeitsbehörden“ in den Jahren 1945 bis 1960 richtet, und zwar nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in der DDR. Namentlich im Westen war – erwartungsgemäß – der Impetus zu vergangenheitspolitischer Selbstreflexion denkbar schwach. Die Rückkehr von qualifizierten Beamten aus der NS-Zeit „in die Führungsebene des Bundesarbeitsministeriums“, resümiert Münzel, „entsprach vom Ausmaß her den prinzipiellen Trends innerhalb der jungen westdeutschen Verwaltung.“ Seit Mitte der 1950er Jahre gehörte es „in seiner Spitze“ allerdings „zu den am stärksten mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern durchsetzten Bundesministerien“. Kein Zweifel, die „Geräuschlosigkeit“, mit der ns-belastete Beamte  rekrutiert wurden, „wirft einen Schatten auf die Frühgeschichte des Hauses.“

Titelbild

Alexander Nützenadel (Hg.): Das Reichsarbeitsministerium im Nationalsozialismus. Verwaltung – Politik – Verbrechen.
Geschichte des Reichsarbeitsministeriums im Nationalsozialismus.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
592 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783835330023

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