Der ewige Kandidat

Zum Tod Philip Roths

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Wohl kaum ein anderer Schriftsteller galt in den letzten 30 Jahren so konstant als Kandidat für den Literaturnobelpreis wie Philip Roth. Alljährlich rechnete man lange Zeit mit einer Auszeichnung, bis er dann doch kurzfristig von der Liste der zunehmend als Orakel dienenden Wettanbieter verschwand. Fast schien es, als sei Roth mittlerweile so etabliert im Kreise der Anwärter, dass der feierlichen Verkündung zukünftig etwas fehlen würde, verschwände er plötzlich aus dem Kandidatenkreis. Sein im Jahr 2012 öffentlich verkündeter Rücktritt als Schriftsteller – in dieser Konsequenz eine Seltenheit in der Literaturbranche, die viel eher an einen in die Jahre gekommenen Rockstar erinnerte, der sich die Bühne und den harten Tour-Alltag nicht mehr zumuten wollte – öffnete schließlich ein Fenster für das Komitee: Wann, wenn nicht jetzt, könnte man den Mann aus Newark für sein Lebenswerk auszeichnen, wo er doch selbst einen Strich darunter gesetzt hat. Doch auch diese Geste half Roth nicht. Jetzt ist er, nur wenige Monate nach seinem 85. Geburtstag, an Herzversagen gestorben und ein Nobelpreis wird in diesem Jahr ja auch nicht vergeben. Obwohl gerade in einem Jahr, in dem die Akademie von einem Sexskandal heimgesucht wurde, eine Auszeichnung an Roth nicht einer gewissen Ironie entbehrt hätte.

Denn Roth war zeitlebens ein literarischer Erotomane gewesen und lief lange Gefahr, auch als solcher in die Literaturgeschichte einzugehen. Zu groß der Schatten seines mit pornografischen Elementen versehenen Romans Portnoy’s Complaint, sein frühes Meisterwerk – doch in den 1990er Jahren begann dann eine Phase im Schreiben Roths, in der er einen meisterhaften Roman nach dem anderen abgeliefert hat.

Seine frühe Schaffensperiode, die mit seinem noch recht konventionellen literarischen Debüt, der Kurzgeschichten-Sammlung Goodbye Columbus, begann und zwei auch retrospektiv wenig beachtete Romane hervorbrachte, war noch recht unspektakulär – bis eben mit Portnoy’s Complaint im Jahr 1969 ein Roman erschien, der ideal in seine Zeit zu passen schien. Leslie Fiedler nennt in seinem bahnbrechenden Essay Cross the Border – Close the Gap Roth den wichtigsten Vertreter eines Schreibens, das die Mittel der Pornographie verwendet, um eine neue amerikanische Literatur zu erschaffen, ähnlich seinem Zeitgenossen Kurt Vonnegut jr., der sich zur Überwindung der Kluft zwischen Elite- und Massenkultur der Science Fiction bediente. Beide trieben ein literarisches Spiel mit der Trivialkultur, ein Spiel, das seinerzeit als ‚postmodern‘ bezeichnet wurde, weil es die hohen ästhetischen und kulturkritischen Ansprüche der literarischen Moderne mit populärem Klamauk und gegenwartsbezogner Satire vereinte.

Nicht wenige Kritiker haben Portnoy’s Complaint als in die Länge gezogenen jüdischen Witz gedeutet, als Spiel mit Zuschreibungsmechanismen und Imagologie, dessen Bedeutung weit über die – zugegebenermaßen sehr expliziten – sexuellen Episoden hinausging. In den 1970er Jahren folgte Roth diesem ihm mittlerweile vorauseilenden Ruf, eine literarische Version des damals unheimlich populären Woody Allen zu sein. Tatsächlich sind Parallelen im Werk beider Künstler gerade zu Beginn des Jahrzehnts nicht zu übersehen, vergleicht man die Thematik von The Breast mit jener der Brust-Episode in Allens Spielfilm All You Ever Wanted To Know About Sex (But Were Afraid To Ask). Roth gefiel sich in der Rolle des Provocateurs, der mit spielerischer Leichtigkeit jüdische Themen mit dem Zeitgeist der 70er Jahre verband. Vielleicht muten gerade deswegen aus heutiger Sicht viele seiner Romane aus jenem Jahrzehnt manchmal als etwas verstaubt an, etwa sein 1975 erschienener, in Deutschland (sicher nicht zuletzt aufgrund der Baseball-Thematik) immer noch sträflich unterschätzter Roman The Great American Novel.

Spätestens mit der Zuckerman-Tetralogie in den 1980er Jahren veränderte Roth seinen Stil, eher nuanciert als radikal, doch gelang ihm vor allem mit dem zweiten Band, Zuckerman Unbound, ein nachdenklicher, zeitkritischer Roman, der nicht mehr die manchmal (bewusst) trivial anmutende spielerische Leichtigkeit des Frühwerks besaß. Auch verstärkte sich bei Roth der Drang zum ausgewiesen autobiographischen Schreiben. Zwar wiesen seine Figuren seit jeher stark autobiographische Züge auf, doch The Facts und Patrimony waren deutlich als autobiographische Schriften markiert und zeigen einen zunehmend nachdenklichen Schriftsteller, der bereits im Alter von rund 50 Jahren beginnt, sein Leben zu reflektieren und ein erstes Resümee zu ziehen.

Zwar ist es nicht unbedingt ratsam, das Schaffen eines Schriftstellers in unterschiedliche Phasen aufzuteilen, doch liegt es –  auch mit Blick auf das Werk, das noch folgen sollte – nahe, die autobiographischen Texte als Zäsur zu sehen, die das große Spätwerk Roths einleiten: eineinhalb Jahrzehnte, in denen der seit jeher produktive Autor eine beachtenswerte Publikationswut an den Tag legte: 12 Romane in knapp 17 Jahren, und nahezu jeder von ihnen ein in sich großes, individuelles Werk. Zwar behält Roth seine Kernthemen – Judentum, Sexualität, verstärkt auch Alter und Krankheit, und nicht zu vergessen das schonungslose Sezieren der amerikanischen Gesellschaft – ebenso wie seinen klaren, narrativ stringenten, das Experiment mittlerweile meidenden Stil bei. Doch allein der oberflächliche Blick auf seine Plots zeigt einen Schriftsteller, der sich nicht selbst genügte, sondern der begierig darauf war, aktuelle Debatten aufzugreifen und sie kritisch unter die Lupe zu nehmen.

So etwa in seinem 2000 erschienenen Roman The Human Stain, in dem Roth eines seiner liebsten Themen, die externe Zuschreibung von jüdischer Identität, aufgreift und sie im Kontext der in den USA aufkommenden Debatte um die political correctness einbettet, was ihm, obwohl der Roman schon damals als einer seiner besten gefeiert wurde, ob seiner ironischen Bloßstellung des Diskurses um die political correctness an amerikanischen Universitäten auch viel Kritik eingebracht hat. Eine Debatte übrigens die in den USA Jahre später unter Donald Trump plötzlich zum Kulturkampf stilisiert wurde. Und wenn man schon bei diesem amerikanischen Präsidenten ist: Roths 2004 erschienene kontrafaktische Geschichtsschreibung The Plot Against America wurde damals als eines seiner schwächeren Bücher wahrgenommen, doch der prophetische Gehalt des – zugegebenermaßen etwas konstruierten – Romans erstaunt aus heutiger Sicht doch gewaltig.

Zunehmend entwickelte sich Roth auch zu einem Schriftsteller, der klassische literarische Stoffe aufnahm und sie transformierte; und er tat dies dabei so gekonnt, dass sein Status als Bestseller-Autor niemals gefährdet war. Man konnte seine Romane stets als gut erzählte, spannende, unterhaltsame (und stets auch mit einer mehr oder weniger aufdringlichen Prise Sex garnierte) Geschichten lesen, die auch ohne Kenntnis der intertextuellen Referenzen zu verstehen waren. Doch für literarisch kenntnisreiche Leser war ein Roman wie beispielsweise Exit Ghost (2007) ein besonderes Vergnügen. Denn Roths 9-11-Roman (jeder bedeutende amerikanische Schriftsteller, so schien es, musste einen solchen verfassen) mit seinem reaktivierten Alter Ego Nathan Zuckerman beschreibt dessen Versuch, nach Krankheit und langem Rückzug auf dem Lande wieder in einem Post-9/11-New York Fuß zu fassen. Bereits der Titel verrät die Shakespeare-Anklänge und der Roman an sich ist eine zeitgenössische Variante jener zum amerikanischen Mythos gewordenen Erzählung um Rip Van Winkle, der 20 Jahre schlief, nur um in eine Gesellschaft zurückzukehren, die ihm fremd und unheimlich war.

Als das Alter bei Roth körperlich und, so lassen sich seine damaligen Aussagen deuten, auch geistig immer mehr seinen Tribut forderte, entschied er sich, anders als die meisten anderen Schriftsteller, zunächst kürzer zu treten – seine letzten Bücher sind eher längere Erzählungen als Romane –, um dann ganz aufzuhören. Wie Zuckerman in Exit Ghost zog er sich zurück aufs Land, gab nur noch sporadisch Interviews und verschwand im Großen und Ganzen langsam aus der Öffentlichkeit. Gerne hätte man gerade von ihm einen Roman zur Machtübernahme Donald Trumps gelesen, denn Trump wirkt tatsächlich wie eine groteske Figur aus einem Philip-Roth-Roman. Insgeheim hoffte man darauf, dass es dem Autor in seinem Landhäuschen ohne Schreiben mit den Jahren doch etwas langweilig geworden wäre und er sich wieder seiner Berufung hingegeben hätte. Bekannt ist darüber nichts, aber wer weiß, vielleicht überrascht er uns ein letztes Mal.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz