Ein Pensionär findet Wiederverwendung

Milena Michiko Flašars neuer Text im J-Modus

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein missmutiger älterer Herr, vor kurzem ehrenvoll aus seiner Firma entlassen, weiß nicht viel mit sich anzufangen. Die große unstrukturierte Menge an Zeit, die nun vor ihm liegt, stellt eher eine Bedrohung dar als die Befreiung von der täglichen Mühe des Angestelltendaseins. Zwar hatte er sich vorgenommen, mit seiner Frau eine Reise nach Paris zu unternehmen, diese wurde aber nicht verwirklicht, und so fällt er ihr zu Last, gerät ins Grübeln ob der Lebensentscheidungen, ob dem Verlauf der Karriere, des Zusammenhalts in der Familie, der Beziehung zu seiner Frau, die ihm zuliebe ihren Traum vom Ballett aufgegeben hatte, und nicht zuletzt über das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter, die den Vater früh verlassen und dem Sohn gegenüber nie Interesse gezeigt hat.

In dieser Phase der Bilanzziehung und der Suche nach einem Betätigungsfeld – angedacht werden zum Beispiel Spaziergänge mit einem weißen Spitz – trifft der ältere Herr während eines Abstechers auf einen Friedhof eine jüngere Frau. Die Gründerin der Agentur „Happy Family“ spricht ihn an und möchte ihn für das Unternehmen gewinnen, denn er wirkt auf sie wie jemand, der „viel zu selten und viel zu wenig gebraucht wird“, offenbar jedoch noch über hinreichend Potential verfügt – dessen konnte sie sich vergewissern, da er, sich unbeobachtet wähnend, spontan vor den Toten eine kleine pantomimische Einlage vollführt hatte.

Bei der ihm angetragenen Tätigkeit handelt es sich um „Stand-ins“: Man übernimmt gegen Bezahlung die Rolle eines Familienangehörigen und spielt diesen für die Dauer der gemieteten Stunden so, wie es sich der Auftraggeber wünscht. Die erste Rolle des Rentners ist die eines Herrn Katô, unter dessen Namen er auch als Protagonist in Milena Michiko Flašars Roman Herr Katô spielt Familie auftritt.

Insgesamt drei Rollen gibt Katô recht eindrucksvoll: den liebevollen Großvater eines Jungen ohne Vater, den sich zurücknehmenden, stummen Ehemann einer abgemagerten Frau, die von der Präsenz ihres echten Mannes erdrückt wird, sowie den Chef eines Bräutigams auf dessen Hochzeitsfeier. Allen Aufträgen liegt ein schicksalhaftes Geschehen zugrunde. Die Rollen verlangen es gleichsam, den Auftraggeber und sein Umfeld zu „heilen“ von den Wunden, die ihnen das Leben geschlagen hat. Mit den „Stand-in“-Aufträgen erweitert sich auch der Horizont des Protagonisten, der sich in zwischenmenschlichen Konstellationen erproben kann, die in seinem Umfeld bislang nicht aufgetreten sind. Katô entwickelt eine Bindung zur Agenturchefin Mie, deren wahre Identität – bis sie sich überraschend aus dem Geschäft zurückzieht – verborgen bleibt.

Flašar beschäftigt sich anhand des Herrn Katô mit der Frage eines authentischen Lebens. Indem der Protagonist mehrere Fake-Existenzen durchspielt, kommt er dem Problemkreis Sinnkrise, Identitätssuche, Entfremdung und Vereinsamung näher – eine Gemengelage, die ihn selbst betrifft und sein Stresslevel in nicht geringem Maße erhöht. Was macht sein Dasein aus und wie kann es bis zum Ende gut gelingen? Wie können die eingefahrenen Routinen des Ehepaars durchbrochen und die fehlende Kommunikation endlich in Gang gesetzt werden? Wie das Bewahrenswerte der Familie erhalten bleiben, das Katô, der seine eigene Kindheit noch nicht ganz bewältigt hat, voller Sehnsucht imaginiert?

Während er sich also mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzt, wird ihm bewusst, dass er einen neuen Umgang mit seiner Frau finden muss, angefangen mit einem Zugeständnis in Bezug auf die Wohnsituation – das große Haus auf dem Hügel überfordert sie. Beide haben für die Ehe Opfer gebracht, auf Dinge verzichtet. Die Frau wendet sich wieder dem Tanzen zu, was der nicht humorlose Katô als Bedrohung in Gestalt von Ballettlehrern in engen Hosen wahrnimmt. Seinerseits ist er wütend darüber, dass sie nicht endlich die Heftung der Taschen seiner frisch erstandenen Hose auftrennt, zumal ihn die zugenähten Taschen schon bei der ersten Begegnung mit Mie in Verlegenheit gebracht haben. An dieser und anderen Stellen macht sich angenehm der Humor der in Sankt Pölten geborenen Autorin Flašar bemerkbar, die vermutlich auf das Bernhard-Dramolett Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen anspielt, in dem ebenfalls die Frage aufgeworfen wird, ob ein kürzlich erworbenes Beinkleid passen will. Damit die für das Rentnerdasein gedachte Hose tragbar wird, braucht es die Hilfeleistung des Fadenlösens bzw. im übertragenen Sinne die Bestätigung seiner Existenz und seiner Lebensleistung durch die Ehefrau, die ein um diverse Erfahrungen reicherer Katô am Ende – trotz des männlichen Stolzes – dankbar akzeptiert.

Herr Katô spielt Familie reflektiert die conditio humana des Angestelltenlebens als eine typische Existenzform der Moderne. Der Text beschreibt eine quasi zeitlos und global gültige Situation der Suburbia. Hinsichtlich der japanischen Kulisse, die Flašar für ihr Psychogramm des Pensionärs wählt, mögen sich deshalb Zweifel einstellen. Warum muss Herr Katô eigentlich Japaner sein? Das japanische Setting bringt zunächst die Möglichkeit, Trends der Zukunftsgesellschaft, wie sie sich in den letzten Jahren zuerst in Japan manifestierten, ansprechen zu können – darunter die Geschäftsidee, mit dem Angebot von Nähe Geld zu verdienen. Man denke an die Tiercafés, die das Streicheln von Katzen oder wahlweise Eulen feilbieten und sich schon in Deutschland etabliert haben.

Tatsächlich bietet u.a. die japanische Agentur Client Partners bestellbare Mitmenschen an. Vom Kunden gewünscht sind problemlose Beziehungen zu anderen in einem Sozialgefüge, das in der Realität offenbar nicht leicht zu ertragen ist und auch nur oberflächlich gut funktioniert, während es im Grunde, wie mancher wohl denkt, eine große Täuschung sei. Nach der Dreifachkatastrophe von Fukushima hat die WHO im Land einen signifikanten Anstieg von Depressionen bemerkt. Aber schon vor dem 3.11 genannten, einschneidenden Ereignis war Japan kein Land, das für seine menschliche Wärme bekannt ist. Erwartungshaltungen, Erfolgsdruck, Gruppenzwang sowie ein Korsett aus Regeln und Normen üben auf den Einzelnen so viel Druck aus, dass man sich an anderer Stelle Erleichterung verschaffen möchte. Das Bedürfnis nach emotionaler Interaktion jenseits der eingeschränkten Alltagskontakte brachte die kommerziellen Tierbegegnungsstätten hervor.

Da war der Schritt nicht weit zum Mietmenschen. Alte Formen wie der Host, ein japanischer Gigolo, werden mit den neuen Modellen übertroffen, sie gehören auch nicht mehr dem Rotlichtmilieu an, sondern spiegeln Psychotrends der Mehrheitsgesellschaft wider. Was man im Westen gerne als bizarre Entwicklung wahrnimmt, belegt nur die Vermutung, dass in Japan ein starkes Gespür für Konsumtrends vorhanden ist. Das Land, in dem sich die Kommerzialität des Turbokapitalismus meist ungebremst ohne beispielsweise theologische Einwände in alle Bereiche des Lebens einnistet, ist Indikator für die schöne neue Welt von morgen und ihre Psychopathologie. Das Unglücklichsein zahlreicher Japaner versucht demnach eine Glücksindustrie zu kompensieren – in den 1990er Jahren trat sie zunächst mit zahlreichen therapeutisch intendierten „Heilungsprodukten“ (Stichwort iyashi) hervor. Der Buchmarkt wartete mit Ratgeberliteratur (ikikata no hon) auf.

Mit der Kategorie „J-Modus“ lässt sich Flašars Werk noch präziser deuten. Dieser meint eine spezielle Erzählweise, die manchen japanischen Texten eigen ist, ebenso den aus dem Japanischen übersetzten Texten sowie Texten in europäischen Sprachen, die japanische Vorbilder (Haruki Murakami, Yôko Ogawa, Hiromi Kawakami) oder die Arbeit hybrider Autoren wie Amélie Nothomb miteinbeziehen und eben ein japanisches Element zur Geltung bringen wollen, d.h. auf inhaltlicher, stilistischer oder ästhetischer Ebene japanisieren: immer eine Gratwanderung zwischen Effekt und Exotismus. Im „J-Modus“ zu erzählen, bringt den Vorteil mit sich, schwerer nachvollziehbare Mentalitäten literarisch erproben zu können, ohne unglaubhaft zu wirken oder anzuecken. Als Garnitur finden zudem oft japanische Soziotypenmodelle wie die des Freeters und ein allgemeineres (Fuji, Tatami, Yen) oder weniger gängiges japanspezifisches Inventar (Dorama, Karuizawa, Washi) Eingang in den Text.

„J-Modus“ bedeutet im besten Fall eine gewisse offene Form mit wechselnden Szenarien, unerwartete und enigmatische Wendungen des Erzählgeschehens, eine enge Fokussierung auf wenige Figuren und deren eigenartige Welt, eine originelle Metaphorik und als philosophische Basis die Akzeptanz des Absurden. Dies alles bietet Herr Katô. Einzig der „Nachtrag“ erscheint verzichtbar, denn dessen „Erklär-Modus“ läuft der poetischen Fluidität des großen „J“ leider zuwider.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Milena Michiko Flasar: Herr Katō spielt Familie.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2018.
176 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783803132925

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