Eine Reise ins eigene Unterbewusstsein

Haruki Murakamis „Die Ermordung des Commendatore 2“: die Frage nach dem Ich und der Realität

Von Nadine WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadine Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Haruki Murakami, schon seit mehreren Jahren einer der Top-Anwärter auf den Literaturnobelpreis, legte im April seinen zweiten Band des Romans Die Ermordung des Commendatore vor. Wie auch im japanischen Original ist das Buch zweigeteilt – in Japan hatten Murakamis Leser jedoch das Glück, dass beide Bände zeitgleich erschienen. Der deutschsprachige Band 1, Eine Idee erscheint, wurde bereits im Januar veröffentlicht, erst drei Monate später folgte jetzt Band 2, Eine Metapher wandelt sich.

Doch schafft der gefeierte Schriftsteller, der mittlerweile vierzehn Romane und etliche Erzählungen geschrieben hat, es auch, die offenen Fragen und Rätsel aus Band eins weiterzuspinnen, die Spannung aufrecht zu erhalten und den Roman zu einem gelungenen Abschluss zu bringen?

Auch in Murakamis neuestem Streich haben wir es wieder mit dem namenlosen Protagonisten zu tun, der zu Anfang von Band eins von seiner Frau verlassen wurde. Nachdem dieser einige Wochen mit seinem klapprigen, alten Peugeot ziellos durch die Gegend gefahren war, bekam er von einem Freund das Angebot, das Haus seines kranken Vaters Tomohiko Amada zu hüten. Jener gilt als einer der talentiertesten Maler des japanischen Nihonga-Stils und lebt mittlerweile in einem Pflegeheim. Auch der Protagonist ist Maler, verdient seinen Lebensunterhalt allerdings mit eher unkreativen und unbefriedigenden Porträts. Erst als er in Amadas Haus einzieht und ihm sein mysteriöser Nachbar Menshiki ein Porträt von sich in Auftrag gibt, schien unser Held wieder in seiner Profession aufzublühen. Angeregt von dunklen Gruben im Wald, nächtlich klingelnden Glöckchen und der aus einem Bild in die reale Welt entstiegenen Figur des „Commendatore“, entwickelte der Protagonist einen völlig neuen, eigenen Malstil. Menshiki, begeistert von seinem Porträt, gab ein weiteres Bild in Auftrag: der Protagonist soll die dreizehnjährige Marie malen, die womöglich Menshikis Tochter ist.

Band eins endete zum Leidwesen vieler Fans mitten in der Geschichte. Eine Metapher wandelt sich steigt genau dort ein, wo sein Vorgänger zu Ende war: der Protagonist porträtiert Marie in wöchentlichen Sitzungen und versucht, das schüchterne Mädchen aus der Reserve zu locken, um ihre Persönlichkeit besser in seinem Bild einfangen zu können. Sie verstehen sich gut, nicht zuletzt, da beide ein gewisses Misstrauen Menshiki gegenüber hegen – und da Marie ebenfalls von der Grube und den mysteriösen Ereignissen im Wald weiß. So beschließt der Protagonist, Marie Tomohiko Amadas Meisterwerk „Die Ermordung des Commendatore“ zu zeigen: das Bild, das er auf dem Dachboden des Hauses aufgefunden hatte und dort versteckt hält. Kurz darauf verschwindet das Mädchen jedoch, und der Held sieht sich gezwungen, vom Sterbebett Amadas hinab in seine eigenen Abgründe, in sein Unterbewusstsein zu steigen, um Marie zu retten.

In traumhaft anmutenden Sequenzen irrt der Protagonist durch sein eigenes Ich – dort ist es dunkel, eng und überall lauern Metaphern und Doppelmetaphern. Der gefährliche Weg führt ihn über einen Fluss in der Unterwelt, dem Styx aus der griechischen Mythologie ähnlich, der von dem gesichtslosen Mann bewacht wird, der im ersten Band im Prolog auftaucht. So ist das also, will man rufen und eigentlich direkt noch einmal Band eins zur Hand nehmen, um besagten Prolog noch einmal zu lesen. Ein langer, niedriger Tunnel, nicht unähnlich einem Geburtskanal, führt den Protagonisten schließlich zurück in die Grube im Wald, wo er erst einmal festsitzt und auf Hilfe wartet. Doch ist er noch derselbe wie vor seiner Reise in die Unterwelt? Und was ist mit dieser dunklen Seite, die in ihm schlummert? Hat er sie überwunden oder muss er lernen, mit ihr zu leben?

Ähnlich wie schon in Mister Aufziehvogel und 1Q84, den beiden Romanen, denen Die Ermordung des Commendatore wohl am meisten ähnelt, stehen Ich-Erzähler und Leser vor der Frage, ob die Realität und man selbst noch genauso beschaffen ist wie zuvor. „Welche Bedeutung hätte eine Welt, in der sich nichts verändern würde, auch wenn eine Idee erlischt? Und welche Bedeutung hätte eine solche Idee?“, fragt der Commendatore den Protagonisten.

Murakamis Hauptfiguren sind oftmals gefangen in ihrer eigenen Passivität. Sie werden verlassen, sie werden in ein Abenteuer hineingezogen oder -gestoßen, sie werden gezwungen, zu handeln. Auch hier, im zweiten Band des Commendatore, ist das der Fall. Der Ich-Erzähler lässt sich treiben, er wartet darauf, dass etwas passiert, zeigt aber selten Eigeninitiative. Genauso verhält es sich auch mit seiner Malerei: arbeitet er zunächst als Porträtmaler und fertigt statische, austauschbare Bilder an, sind es das Haus Tomohiko Amadas sowie dessen Gemälde, welche ihn dazu befähigen, seinen bisherigen Stil hinter sich zu lassen und mit Menshikis Porträt etwas völlig Neues zu entwickeln. Ebenso aus der Passivität reißt ihn Marie, das Mädchen, das trotz ihres jungen Alters nicht nur viel vom Leben, sondern auch den Protagonisten versteht. Ähnlich wie in Murakamis Meisterwerk Mister Aufziehvogel, in dem es die Jugendliche May Kasahara ist, die den Protagonisten anstupst, ihn aus seiner Lethargie holt und ihn zum Handeln bringt, bringt auch Marie den Fluss des Ich-Erzählers wieder zum Fließen.

Einzig die Fixierung des Romans auf den Busen eines dreizehnjährigen Mädchens mutet manchmal befremdlich an. Marie ist, wie so oft die Figuren in Murakamis Werken, ein merkwürdiges Mädchen, und ihr besonderes Problem ist ihr unterentwickelter Busen. Dies macht ihr schwer zu schaffen, denn sie streut es öfters in Konversationen mit dem Ich-Erzähler ein, so wie andere von ihrem störrischen Dackel oder ihren spröden Haaren berichten. Normalerweise machen die Macken Murakamis Mädchen, wie beispielsweise May Kasahara, sympathisch, in diesem Falle jedoch löst es lediglich ein Stirnrunzeln beim Leser aus, da Marie auch – glücklicherweise – überhaupt keine sexuelle Rolle in dem Roman einnimmt. Wozu also ein Mädchen, das keine Lolitafigur ist, ständig über ihren Busen mäkeln lassen?

Dass Murakami stets viele Fragen in seinen Romanen aufwirft und die wenigsten davon klar beantwortet, dürfte den meisten seiner Leser mittlerweile bekannt sein. Auch hier passieren wieder unerklärliche Dinge, die die Grenzen zwischen Realismus und Phantastik aufbrechen, Platz machen für den magischen Realismus, diesem ominösen Zwischending, das Murakami in seinem schriftstellerischen Schaffen so gut meistert. Selbst seine Romanfigur Menshiki weiß davon: „Im Leben gibt es einige Dinge, die man nicht erklären kann, und auch einige, die man nicht erklären sollte. Denn in den meisten Fällen geht dabei das Wichtigste verloren.“ Murakami liefert hier selbst die perfekte Antwort auf diejenigen, die sich über die offenen Fragen in seinen Werken beschweren.

Dennoch muss man Murakami attestieren, mit Die Ermordung des Commendatore einen seiner rundesten Romane geschaffen zu haben. Viele Fragen sind es dieses Mal nicht, die am Ende offenbleiben – alles fügt sich erstaunlich harmonisch zusammen. Wiederkehrende Motive und diese spezielle Atmosphäre, die sich beim Lesen eines Murakami-Romans einstellt, werden wohl nach wie vor die Leser in zwei Lager spalten: die, die ihm mangelnden Einfallsreichtum unterstellen und sich ohnehin schnell bei seinen Büchern langweilen, werden auch an seinem neuesten Werk keine Freude haben. Fans jedoch, die immer gerne zurückkehren in Murakamis abgedrehtes Universum, können eine Lektüre genießen, die zwar nicht den Titel als bester Murakami aller Zeiten gewinnen wird, trotzdem aber zu seinen besseren Büchern gehört.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore. Band II. Eine Metapher wandelt sich.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
DuMont Buchverlag, Köln 2018.
500 Seiten, 26,00 € EUR.
ISBN-13: 9783832198923

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