Eine Welt voller Mediäv(al)isten?

Andrew Elliott schreibt in seinem neuen Buch „Medievalism, Politics and Mass Media“ über die fatale Leere des modernen Mittelalters

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Unterhaltungswert und künstlerische Freiheit von mal mehr, mal weniger erfolgreich vermarkteten Mittelalterbildern lässt sich harmlos streiten. Damit ist weder gesagt, dass solche massenmediale Verarbeitung im 21. Jahrhundert stets zum Streit einladen würde, noch, dass sie stets harmlos wäre. Brisant wird sie dort, wo sie zur Verzerrung wird, wo unkontrolliert ein Mittelalterbild heranwächst, das bedenkliches bis bedrohliches Gewicht in unserer Gesellschaft entfaltet.

An dieser Stelle setzt das vorliegende Buch an. Sein Verfasser Andrew Elliott ist kein Mediävist, sondern Medienforscher an der Lincoln School of Film & Media. So geht es in dieser Publikation auch nicht darum, wieder einmal zu erklären, wie ‚das Mittelalter‘ nun tatsächlich ausgesehen habe. Worum es hier geht, ist der Nachweis, in welchem Maße sich in den letzten Jahren ‚das Mittelalter‘ medial verselbstständigt hat, im Sinne einer semantischen Entleerung frequent gebrauchter Begriffe. Bei der Verwendung eines bestimmten Vokabulars in Massenmedien ginge es also nicht mehr um irgendeinen Bezug zur Vergangenheit: Dem populären Wort- und Bildschatz rund ums Mittelalter sei heute vielmehr die Generalbedeutung ‚Das Andere‘ eingeschrieben. Zugleich, so verstehe ich Elliott, hafte diesem Mittelalter aber eben doch noch die diffuse Vorstellung eines ‚dunklen Zeitalters‘ an, sodass ‚Das Andere‘ (und damit sind letztlich ja Menschen gemeint) zugleich das Unterlegene, Rückständige und Düstere sei. Damit, so der Verfasser, würde das Mittelalter in seiner massenmedialen Ausschlachtung zum Vehikel politisch-ideologischer Botschaften.

Der theoretischen Grundlegung dieser These widmet Elliott drei einleitende Kapitel. In weiteren fünf Kapiteln füllt er diesen Rahmen dann mit zahlreichen Referenzen aus den englischsprachigen Massenmedien seit der Jahrtausendwende: Ansprachen, Pressemitteilungen oder Tweets zum Beispiel. Der thematische Schwerpunkt liegt dabei, vereinfacht gesagt, auf der Auseinandersetzung zwischen der westlichen Welt und dem Islam, wobei primär radikale Positionen in ihren Verflechtungen und Auswüchsen betrachtet werden: Figuren wie George W. Bush, Marine Le Pen, Osama bin Laden und Anders Breivik, oder Organisationen wie die „English Defense League“ und der „Islamische Staat“. Aus der jeweiligen Funktionalisierung von Wörtern und Bildern, die dem semantischen Feld ‚Mittelalter‘ zugeordnet werden können – beispielsweise Crusade oder Dark Ages – konstruiert der Verfasser sukzessiv ein Gesamtbild, das er als „self-referential media climate“ charakterisiert: In den Massenmedien ginge es in zunehmendem Maße allein noch um die Resonanzmächtigkeit von simplifizierenden Mittelaltertropen, deren Banalität ein bedrohliches Potenzial inhärent sei.

Banalität ist zugegeben eine schwer fassbare Größe. Elliotts Versuch einer Nutzbarmachung erfolgt über den Begriff des banal medievalism. Sein Anschluss an Hannah Arendts vieldiskutiertes Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ aus den frühen 1960er Jahren mag zunächst etwas gesucht wirken, ist in der gegebenen Kürze jedenfalls wenig klärend, zumal Arendts Wortwahl seinerzeit eine Kontroverse auslöste. Ergiebiger ist Elliotts weitere Anlehnung an Michael Billigs Studie „Banal Nationalism“ von 1995, aus der er für seine eigene Untersuchung die Prämisse gewinnt, „the unconscious use of the medieval past to define the present“ sei „an act of half-remembering but also of half-forgetting“; hier hätte man sich allerdings wiederum eine etwas umfangreichere Diskussion von Billigs Studie gewünscht. Diesen proklamierten banal medievalism analytisch zu fassen und damit für weitere Diskussionen verfügbar zu machen, bleibt jedenfalls die eigentliche Herausforderung.

Elliotts Verknüpfung einer beeindruckenden Fülle an Daten zeugt einerseits nicht allein von einer aussagekräftigen Recherche, sondern auch vom nötigen medienthereotischen Rüstzeug. Andererseits besteht bei dieser Flut an Informationen die Gefahr, viele Leser auf halbem Weg zu verlieren – und davon dürfte auch mancher Mediävist betroffen sein. Dies ist insofern bedauerlich, als sich das Buch gerade vor dem traditionellen Mittelalterforscher wird behaupten müssen. Denn die These, das Mittelalter der Massenmedien habe sich unkontrolliert von Allem entfremdet, wofür man wissenschaftlich einstehen könne, muss Konsequenzen für das Selbstverständnis der Mediävistik im frühen 21. Jahrhundert haben. Mit der bloßen Korrektur von Oberflächlichkeiten und Missverständnissen ist es da nicht mehr getan: Die Mediävistik muss ihre gesellschaftliche Relevanz behaupten! Dass andererseits ein Medientheoretiker wie Elliott darauf verzichtet, frequent gebrauchte Reizbegriffe wie ‚Europa‘, ‚die westliche Welt‘ oder ‚der Islam‘ eingehender zu diskutieren, könnte man ihm rasch zum Vorwurf machen. Und auch seine Einschätzung, die künftige Aufgabe liege wohl weniger in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit „any kind of medieval original“, als vielmehr in der Analyse von „mediated medievalisms“, scheint die Tiefendimension der traditionellen Erforschung dieses Mittelalters zu unterschätzen.

Für einen fruchtbaren Austausch zwischen diesen eigenartig distinkten Sphären bietet das Buch leider kein eigentliches Diskussionsangebot. Die Betrachtung schließt eher düster in der kritischen Identifikation jenes banal medievalism mit „anything one wishes to be disassociated from“ – eine Perspektive, die befremdlich auch jene Diskussion abschneidet, die sich um die riesige Living History/Reenactment/LARP-Community etabliert hat: Hier wird doch auch ein Mittelalter mit viel Aufwand und Freude wiederbelebt, ohne dass man überall destruktive Ideologie am Werk sehen wollte. Ihr Potenzial, das weiterhin diffuse Phänomen ‚Mediävalismus‘ für systematische Befragungen zugänglicher zu machen, entfaltet die vorliegende Publikation insofern wohl vor allem im Zusammenschluss mit anderen Arbeiten zum Themenkomplex. Denn die Diskussion lässt sich zumindest ein gutes Jahrzehnt zurückverfolgen, denkt man etwa an den 2007 von David Marshall herausgegebenen Band „Mass Market Medieval – Essays on the Middle Ages in Popular Culture“; und jüngste Publikationen wie Richard Utz’ „Medievalism. A Manifesto“ (2017) oder Daniel Wollenbergs „Medieval Imagery in Today’s Politics“ (2018) betonen umso mehr die politische Dimension.

Forschungsgeschichtlich betrachtet ist es trotz dieser Vorstöße vielleicht immer noch zu früh, Mediävisten und Medientheoretiker zur nachhaltigen Zusammenarbeit anzuhalten. Zeitgeschichtlich scheint es fast schon zu spät, denn die von Elliott zusammengetragenen Beispiele ließen sich mit Blick allein auf die letzten Monate mühelos ergänzen – man befrage einmal „Google News“ nach ‚Islam‘ plus ‚Mittelalter‘… Dass das vorliegende Buch zu solcher Reflexion anregt und dem Interessierten sowohl die Resultate einer umfangreichen Recherche als auch die Skizze einer praxisorientierten Theorie an die Hand gibt, das ist sein Verdienst. Daraus jetzt auch und speziell im deutschsprachigen Raum etwas zu machen, diese Aufgabe ist (weiterhin) gestellt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Andrew B.R. Elliott: Medievalism, Politics and Mass Media. Appropriating the Middle Ages in the Twenty-First Century.
Boydell & Brewer, Rochester 2017.
225 Seiten, 35,49 EUR.
ISBN-13: 9781843844631

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