Baselitz – der Anachronist

Konstanze Rudert und Günther Gercken geben zum 80. Geburtstag des Künstlers den Ausstellungskatalog zur „Maniera Baselitz“ heraus

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden hat sich zum 80. Geburtstag von Georg Baselitz etwas ganz Besonderes ausgedacht: Unter dem Titel Maniera Baselitz – Das Nonkonforme als Quelle der Phantasie wird erstmals ausgewählte Druckgrafik altdeutscher, niederländischer und italienischer Meister des Manierismus mit Baselitz’ grafischen Werken von vergleichbarer Intensität  zusammengeführt. Die Zusammenstellung soll – so kann man im von Konstanze Rudert und Günther Gercken herausgegebenen Katalog lesen – einen motivischen Dialog und zugleich eine stilistische Konfrontation ergeben. Während im westlichen Nachkriegs-Deutschland der 1950er und 1960er Jahre die abstrakte Kunst vorherrschend war, hielt der junge Künstler Baselitz damals an der gegenständlichen Kunst fest und sah sich in einer Art Wahlverwandtschaft zu den Künstlern des Manierismus hingezogen. Denn die Künstler des 16. Jahrhunderts hatten sich von den Idealen einer „klassischen“ Formensprache in mehr oder weniger radikaler Weise abgewandt, sich damit gegen die Festschreibungen einer kanonischen Bildkunst aufgelehnt, die sie als überkommen empfanden. In dem Willen zur Zerstörung der klassischen Ideale empfand Baselitz eine starke Zuneigung dem Manierismus gegenüber – er hat selbst eine bedeutende Manierismus-Sammlung zusammengetragen –, während er formale Bezugnahmen immer bestritt.

 Dem Manierismus werden Werke der Spätrenaissance zugeordnet, die alle technischen Möglichkeiten  ausschöpfen, um den eigenen Stil, die maniera, hervorzuheben. Kennzeichnend für diese Stilepoche ist die Abkehr von ausgewogenen Kompositionen, die Darstellung des menschlichen Körpers in verzerrten Proportionen, starker Verdrehung oder dynamischer, teilweise auch physisch unwahrscheinlicher Verrenkung. Die klassische Perspektive wird bewusst missachtet, Bildthemen werden kapriziös, expressiv bis abstoßend hässlich dargestellt. Auch Baselitz provoziert den bewussten Bruch mit unseren Sehgewohnheiten gegenständlicher Bilder.  Er ruft beim Betrachter ikonografisch tradierte und in diesem Sinne wiedererkennbare Bildmuster ab, um sie bei der Übertragung ins Zeitgenössische dann bis zur Unkenntlichkeit zu verfremden. Diese Verfremdung führt zu einer Umkehrung, auch zu einer Aufhebung des ursprünglichen Sinngehalts sowie der originären Sinnlichkeit und Bildästhetik. Die hervorgerufenen Emotionen des Betrachters reichen von Faszination über Irritation bis zum ästhetischen Schock.

In Baselitz’ Werkgruppe der „Helden“ mit ihren disproportionierten Figuren und trostlos verlassenen Landschaften wird der Protest des Künstlers gegen die Zeit zum Programm. Diese barfüßigen Freigänger in ihrer abgerissenen Militärkleidung bewegen sich aufbegehrend durch eine zerstörte Landschaft mit gefallener roter Fahne. Sie sind Verlierer im Aufbruch. Diese Figuren beziehen sich gleichermaßen auf die Körperverzerrungen des Manierismus, die idealische Darstellung von Künstlern in der Natur – vor tiefen Horizonten –  in der Romantik und  die realistische Präsentation des Künstlers als Wanderer (Courbets Bonjour Monsieur Courbet, 1854), aber auch auf das eigensinnig Verquälte bei den Schweden Ernst Josephson und Carl Frederick Hill. Hier wird das Zusammengesetzte, ja Zusammenführende dieser Neuen Typen im Formalen wie Inhaltlichen offensichtlich.

Die „Helden“-Bilder  werden  dann abgelöst durch das Bild vom rebellischen Maler, der auf den Resten des Alten zu neuen Ufern aufbricht, eine versteckte Selbstdarstellung. In B.j.M.C. (Bonjour Monsieur Courbet) zeigt er einen seiner „Helden“, verweist aber im Titel auf jenes 1854 entstandene Gemälde von Courbet, in dem dieser sich selbst dargestellt hatte. In Baselitz’ Gemälde Verschiedene Zeiten (1965) befindet sich die Figur mit Palette und Pinseln hinter einem auffälligen Gitter. Es verweist auf den Zaun, hinter dem Paul Gauguin auf einem Bild zu sehen ist, das er nach Courbet bezeichnet hat: Bonjour Monsieur Gauguin (1889). Erneut leitet Baselitz sein Bild von einer älteren Künstlerdarstellung ab und legitimiert seine damit kunsthistorisch in einem Zirkelschluss. Der Bildraum ist bei Baselitz nicht als perspektivische Konstruktion und als Handlungsraum, sondern als komprimierter Rahmen für die statisch erstarrten Konfigurationen angelegt.

Baselitz legt dann bald ein oder zwei markante waagerechte Linien an, mit denen er die Figuren durchschneidet und die er nutzt, um Teile der Figuren gegeneinander zu versetzen. So entstehen die ersten „Frakturbilder“, an denen er bis 1968 weiterarbeiten sollte. Dieser Eingriff wird den Abschied vom „Helden“-Motiv mit sich bringen und den Zugang zu anderen Motiven eröffnen. Vor allem erlaubt er neue malerische und grafische Möglichkeiten, die schließlich auch zur Umkehrung der Motive führen sollten.

Indem Baselitz die Grundlagen unseres Sehens, nämlich die seit der Frührenaissance sakrosankte Idee eines perspektivisch-tektonisch gebauten Bildraumes mit den darin agierenden Figuren auf den Kopf stellte, indem er sie zu Antipoden unserer Vorstellungswelt machte und damit außer Kraft setzte, gewann er die Freiheit, den Gegenstand außerhalb seiner Darstellungsfunktion einer neuartigen, gegen-ständlichen Authentizität zuzuführen. Seine veränderte Sicht auf die Dinge zwingt uns, von unserem Wissen um den Bildvorwurf Abstand zu nehmen und verstärkt den Beziehungsreichtum von Formen und Farben zu erkennen.

1963 hatte er die Druckgrafik als variationsreiches Medium für sich entdeckt, um im Gegensatz zu den meist großen Gemälden mit kleinformatigen Radierungen von Kopfmotiven oder Tier- oder Landschaftssujets zu beginnen. „Helden“-Figuren, die sich, als versteckte Selbstdarstellungen zum „Rebellen“, zum „Hirten“, zum „Jäger“ oder „Gefangenen“ geworden, in kahl geschlagenen Landschaften präsentieren. Neben Radierungen wurde dann auch die ein- oder mehrfarbige Holzschnitttechnik genutzt. Die Gegenkraft des spröden Materials reizte dazu, die Metallplatten oder die Holzstöcke mit Sticheln, Nadeln und Messern zu „attackieren“.

Baselitz ist ein Anachronist, ein Widerspruchsgeist, ein Provokateur – seine formalen Provokationen bestehen in dem Unfertigen seiner Arbeiten, den gewagten Maßstabssprüngen, dem Auf-den-Kopf-Stellen und Drehen des gegenständlichen Bildes. Erfindung und Zufall – beides gehört zu seiner Kunst. „Durch aggressive, dissonante Verkehrung der Ornamentik wird das Bild methodisch organisiert“, sagt Baselitz und bezieht sich damit auf die verschiedenen Formen der Verkehrung, die er einsetzt. Wenn er ein frühes Motiv in einer „dissonanten Verkehrung“ der Gegenwart darstellt, die seinen gegenwärtigen Stil charakterisiert, dann verlieren eingeführte historische und kulturelle Bedeutungen ihre Lesbarkeit. Die körperliche Schockwirkung wird dann umso wesentlicher. Das vermittelt in anschaulicher Weise – in Bild wie Schrift – der von Konstanze Rudert und Günther Gercken herausgegebene Katalog zur Dresdener Ausstellung.

Das kuratorische Konzept der Ausstellung formulieren Konstanze Rudert und Claudia Schnitzer: „Es beobachtet einerseits die kreative, verfremdende Aneignung traditioneller Bildthemen und Kompositionsprinzipien durch den Künstler und spielt andererseits mit den Reaktionen des Betrachters darauf“. Günther Gercken führt in seinem Beitrag aus, dass Baselitz, indem er das Neue im Alten und das Alte im Neuen anschaulich macht, den Zeitabstand von 500 Jahren überwindet. Es ist selbstverständlich für Baselitz, dass Bilder aus Bildern stammen und nicht aus der Realität. Er orientiert sich an Kunstmodellen, die sich in der Kunstgeschichte bewährt haben. Gleichzeitig muss er aber die Vorbilder zerstören, um zu eigenen Werken zu kommen. Bei seinen Clair-Obscur-Holzschnitten erkennt man nicht nur die technische Übereinstimmung mit den frühen Clair-Obscur-Holzschnitten, sondern auch den Unterschied in der Weltauffassung. Auch in der Darstellung von isolierten menschlichen Körperteilen ist ein manieristischer Zug sichtbar.

Im Gespräch mit Baselitz betont das Sammlerpaar Annemarie und Günter Gercken: „Die Atelierbesuche haben uns immer in eine Art Schock versetzt“. 1965 besuchte der Hamburger Biochemiker und Kunstinteressierte Gercken das (West-)Berliner Atelier von Baselitz und erwarb eine erste Zeichnung von ihm. Über ein halbes Jahrhundert hinweg hat das Sammlerpaar dann eine bedeutende Baselitz-Sammlung aufgebaut, Gercken hat Ausstellungen mit Werken von Baselitz initiiert und geholfen, den Künstler bekannt zu machen. 2016 hat das Sammlerpaar wesentliche Teile ihrer Sammlung an die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gestiftet – ein großes Konvolut von Papierarbeiten. Sie bilden auch den Grundstock der Dresdener Ausstellung.

Die 140 ausgestellten Werke werden in 11 Themengruppen präsentiert: „Unheimliche Nähe“, „Surreale Perspektiven“, „Frakturen – zerlegte Bildwelten“, „Horror vacui“, „Ein neuer Typ – Helden und Antihelden“, „Einsame Herolde im Labyrinth der Zeiten“, „Schonungslose Analysen“, „Paradoxien von Inhalt und Form“, „Mensch und Baum – Das Sebastian-Motiv“, „Glorie zum Schein“. Da die Arbeiten von Baselitz und die der Manieristen, die ihm augenscheinlich als Vorlage dienten, im Katalog ohne kommentierenden Text angeboten werden, kann man auch die Broschüre Maniera Baselitz zu Rate ziehen, die ausschließlich für den internen Ausstellungsgebrauch gedacht ist. Dort schreibt Konstanze Rudert: „Als Rebellen oder Partisanen sind sie Identifikationsfiguren für den Künstler selbst; mit einer je eigenen Geschichte und einem eigenen Schicksal, mitunter auch abgeleitet aus einer konkreten historischen Situation, aber in ihrer Verletzbarkeit und Einsamkeit verallgemeinerbar, ja universal“. Einige Erklärungen sollen hier versucht werden.

Baselitz’ Großer Kopf (Selbstbildnis) (1966) wird Hans Sebaldus Behams Großer Christuskopf mit Dornenkrone (um 1522) gegenübergestellt. Baselitz greift auf die alte Technik des Clair-Obscur-Holzschnittes zurück, das heißt farbige Hell-Dunkel-Holzschnitte von mehreren Druckstöcken. An die Stelle der Dornenkrone sind wurmartige Wülste getreten, die sich über das ganze Gesicht ziehen und die Kehle durchbohren. Der Kopf ist gezeichnet von den Erschütterungen und Verletzungen des Jahrhunderts. Aus dem Andachtsbild des leidenden Christus, das den Betrachter zum Mitgefühl auffordert, ist ein unnahbares, ja bedrohlich wirkendes Porträt geworden, das sich dem Betrachter verweigert. Die den Kopf einrahmende Landschaft ist nur noch Folie. Baselitz’ Köpfe sind entweder geteilt – zerschnitten und wieder zusammengefügt – oder animalische Stümpfe, Fleisch-Klumpen. Die zwei Hälften des Gesichts passen nicht zusammen und bilden doch ein Ganzes, eine Fraktur als Ausdruck der Erschütterungen, Blessuren der Zeit, während die auf dem Kopf stehenden Köpfe, nachdenklich mit aufgestützter Hand oder in ein Strichwerk eingebunden, die Augen angstvoll geöffnet – das ähnelt am ehesten noch dem Ecce-homo-Vorbild – ganz andere Haltungen demonstrieren. Idol (1964) erinnert dann mehr an einen unkenntlich verstümmelten Kopf eines Kriegstoten, und auch die Frakturen in Ohne Titel (1967) geben nur ein versehrtes Antlitz wieder.

In der Radierungsfolge Oberon (1964) haben sich phantasmagorische Köpfe wie über einen Brunnenrand gebeugt – und wir, die Betrachter, bilden die Tiefe des Raumes. Die Köpfe schauen uns durchdringend, wie Rechenschaft von uns fordernd, an. Verblüffend ähnlich in der Haltung der Heiligen Familie (um 1589) von Hendrich Goltzius, nur eben Thema und Motiv haben sich bei Baselitz radikal verändert, ja ins Gegenteil verkehrt. In seiner Kupferstich-Folge Die vier letzten Dinge (um 1578) gibt Goltzius ein Gedränge von Körpern, hierarchisch geordnet (Die Auferstehung der Toten, Die Trennung der Erlösten von den Verdammten) und im chaotischen Durcheinander (Die Ankunft der Erlösten im Himmel, Der Sturz der Verdammten in die Hölle), wieder. Hier schaut der Betrachter auf die transzendenten Szenen nach dem Tod, in Himmel und Hölle, während Baselitz die Perspektive umgekehrt, den Betrachter zum Demonstrationsobjekt umfunktioniert hat.

Ohne Titel (Mit Hund und Axt) (1976) lautet eine Kaltnadel-Radierung von Baselitz. In der von Schraffuren, Kürzeln, Schleifen, gegenständlichen Gebilden eingebundenen, nur undeutlich erkennbaren männlichen Figur ist der Hund und die Axt unten im Bild kaum zu erkennen, aber ein Baumstamm weist auf die geleistete Arbeit hin. Waldarbeiter (Paranoiamarsch) (1967) heißt das Bleistift-Aquarell von Baselitz, dem erkennbar Juste des Justes Figur von vorn, Kopf im rechten Profil (um 1543) als Vorlage diente. Doch Baselitz hat seine Figur frakturiert, den Kopf hat er neben den Körper in den rechten Bildrand förmlich hineingequetscht, ein Baumstamm ist ihr vor die Füße gefallen und sie hält einen getöteten Hasen in der Hand. Die unterschiedlichen Zustände des Holzschnitts Ohne Titel (1966) belegen augenscheinlich die Situationsveränderung von düster und erschrocken zu locker und gelöst.

Von dem moralischen Impetus in Andrea Andreanis Obscur-Holzschnitt Die Tugend bedrängt von Liebe, Irrtum, Unwissenheit und Meinung (1585) ist in Baselitz’ Forstarbeiter (1967) nur die verschlungene Form, das undeutbare Gewirr von Körper- und Baumfrakturen übrig geblieben. Der dämonisch wirkende Kopf ist einfach auf das labyrinthische Gewirr aufgesetzt. Die Figur wirkt wie ein Waldgeist, ein Dämon, der die Szene beherrscht und der sein Werk – das reinste Chaos – überblickt. Baselitz mag aber auch Gian Jacopo Caraglios Kupferstich Furor (1524), ein junger, nackter Mann, der sich wie Laokoon höllischen Untieren erwehren muss, oder Hendrik Goltzius’ Clair-Obscur-Holzschnittfolge Demiurg in der Höhle der Unendlichkeit (1588-1590), dessen Clair-obscur-Holzschnitt Herkules erschlägt Cacus (1588) oder Hans Baldung Griens Holzschnitt Der große heilige Sebastian im Auge gehabt haben – die Gesichter haben gewisse Ähnlichkeiten.

Grün – Roter (1966), eine Kaltnadel-Radierung, einer der bekannten Wandersleute in Marschuniform steht frontal dem Betrachter zugewandt – „ein Bote“ steht unten rechts unter der Signatur. In den Händen hält er einen Draht – hat das etwas mit den gasförmigen Behältern auf dem Boden zu tun? Ist er ein Terrorist, ein Grüner oder ein Roter? Dass Baselitz ein Antikommunist ist, hat er in seinem Gespräch im Katalog zum Ausdruck gebracht. Wenn man dagegen diese Arbeit mit Hans Weiditz d.J.  Holzschnitt Ecce homo (Christus als Schmerzensmann) (1522) oder Albrecht Dürers Schmerzensmann mit ausgebreiteten Armen (um 1500) vergleicht, dann sind zwar bei Baselitz die Körperhaltung und die angewinkelten Arme geblieben, aber aus dem Schmerzensmann ist ein revoluzzerhafter Zeitgenosse der 1960er Jahre geworden, der dem Establishment den Kampf angesagt hat.

Derselbe Figurentyp ist von Baselitz in unterschiedlichen Zustandsdrucken in einer Kaltnadel-Radierung  Ohne Titel (1965) in einen von Schwalben umgebenen Mauerdurchbruch gesetzt worden – hat das etwa mit dem gespaltenen Deutschland und der Aufforderung zu tun, die Mauer, die die Deutschen in West und Ost trennt, niederzureißen? In den Mauerdurchbruch und auch auf den Körper des Mannes ist eine friedliche, ländliche Szene hineingezeichnet worden. Albrecht Dürers Ecce homo (Schmerzensmann mit gebundenen Händen) (1512) in seiner verzichtenden Geste wird Der neue Typ (2006) mit auffordernd ausgebreiteten Armen  entgegengesetzt. Dagegen zeigt sich in der Kaltnadel-Radierung Rebell (1965) der junge Mann mit Sprengstoff-Utensilien entschlossen, dem Betrachter gegenüberzutreten. Der Hirte (1965)  hält dann sogar die Sprengschnur in der Hand, während der Boden schon einem  Trümmerfeld gleicht. Hendrick Goltzius’ Apollo (1588, Kupferstich) im Strahlenkranz schreitet kühn den Gestirnen zu, dagegen hält der Wandersmann mit den Arbeitswerkzeugen in Ohne Titel (1966) inne beziehungsweise begibt sich als L.R. auf dem Weg zur Abeit (1965) in die morgendliche Landschaft.

Die aktionsbereite Haltung des mit einer Keule ausgerüsteten Großen Herkules (Knollenmann) (1589) von Hendrick Goltzius hat Baselitz in der Gouache Ein neuer Typ (1965) übernommen – auch die Knollenform hat er in anderen Arbeiten wiederholt verwendet –, aber bei ihm fehlen alle Kampfgegenstände; lediglich ein Wanderstock liegt ihm zu Füßen, und nur die ausgebreiteten Arme deuten auf die Entschlossenheit und den Aufbruchs-Impetus hin. Welch ein Unterschied zwischen Dürers Fahnenschwinger (Der Fähnrich) (um 1501), einem kampfbereit die Fahne schwingenden Militär – dahinter liegt eine noch unberührte Küstenlandschaft –, und Baselitz’ Ein neuer Typ (1965, Mischtechnik) oder Rebell mit der Fahne (1966, Kupferstich), in der die Dargestellten ihre Fahne abgeworfen haben und nun auf dem Boden schleifen lassen – desillusioniert von der Unmöglichkeit ihrer Aufgabe.

Ein Faschist flog vorüber heißt die Strichätzung (1998), die Baselitz in mehrfacher Ausführung schuf. Sie ist eine Reaktion auf das gleichnamige Gemälde von Arkadij A. Plastov, ein Beispiel des sowjetischen Realismus, das in der DDR recht bekannt war. In einer friedlichen Heidelandschaft, in der Kühe weiden, liegt der von den Deutschen erschossene Hirte, schmerzvoll von einem Hund betrauert. Durch Reduktion gestaltet Baselitz das Motiv des getöteten Hirten um: Er verleiht ihm mal mit wilden Strichen und Schattierungen expressiven Ausdruck, mal stellt er ihn als schreienden Ankläger dar, mal als friedlich Entschlafenen. „Die zarten, kalligrafisch anmutenden Linien des Getöteten (1. Zustand) werden zunehmend durch schroffes Liniengebilde überformt und so das Thema abstrakt und brutal formuliert“, heißt es in der Broschüre. 2015 hatte Baselitz mit dem gezeichneten Zyklus Visit from Hokusai, die in New York präsentiert wurde, auf sich aufmerksam gemacht. Sie waren als Diptychon konzipiert, inspiriert von einem Altersporträt des japanischen Meisters auf einem Brief. Baselitz schlüpft in dessen Rolle und vermittelt bei etwa gleichbleibender Körperhaltung in den schonungslosen Selbstporträts des auf seine Hauptwerke verweisenden Japaners ganz unterschiedliche Stimmungen. Aber das Motto des verkappten Selbstporträts geht bei Baselitz noch viel weiter zurück. Er hat es bereits aus Hendrick Goltzius’ Kupferstich Apollo von Belvedere (1592) entnehmen können, in dem sich der Künstler rechts unten am Bildrand konterfeit hat.

Wieder war es Hendrick Goltzius, der mit seinen Holzschnitten Maria Magdalena (1585–1588) und Der junge Johannes der Täufer die Anregung für Baselitz’ Tuschzeichnung Engel (1965) gegeben hat. Die sitzenden Figuren in Baselitz’ titellosen Farbholzschnitten von 1966 haben Anregungen von Lucas Cranachs d. Ä. Heiligen Christophorus (nach 1509), aber auch von Hans Weiditzʼ d. J. Ecce homo (Christus in der Rast) (um 1500–1536) empfangen. Anstelle der gestochenen Zeichensprache der alten Meister sind bei Baselitz fließende, sich verschlingende Formen getreten, der Kopf ist fragend nach oben gerichtet, ein Ausdruck der Ratlosigkeit und Ungewissheit. Dürers Eisenradierung Der Schmerzensmann, sitzend (1515), aber auch Hans Sebald Behams Holzschnitt Schmerzensmann am Kreuzesstamm sitzend (1527) haben Baselitz dann wiederum zu der Kaltnadelradierung Die Falle (1965) inspiriert, doch schlingt sich in letzterer eine Fessel um die Arme des jungen Mannes, dessen Füße in einer Falle gefangen sind. Vergeblich bemüht sich der Mann, die Hände in den Boden krallend, sich zu befreien. (Farb-)Holzschnitte (1967) zeigen den Körper dieses jungen Mannes zweigeteilt. Der Oberkörper wird von einer Baumscheibe getragen, vor ihm liegend ruht ein Hund. Der Unterkörper sitzt dagegen auf dem Boden. Der Baumstamm verbindet beide Körperteile miteinander. Daneben schwebt die abgetrennte Hand  des jungen Mannes. Bei den Clair-Obscur-Holzschnitten experimentiert Baselitz mit dem unkalkulierbaren Moment der Verschiebung, das jeden Abzug zu einem Unikat werden lässt. Der Farbholzschnitt ermöglicht das Spielen mit flächiger Farbigkeit und Raumtiefe. So vermag Baselitz ganz unterschiedliche Wirkungen zu erzielen.

Ausstellung und Katalog zeigen: Frakturen, Motivumkehrungen, Verfremdungen, Entgegensetzungen, Brechungen, Verschiebungen, Zerlegungen und Zusammensetzungen machen die Arbeiten von Baselitz aus. Die Brüche werden von ihm als kompositorische Disharmonien bewusst eingesetzt.

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Konstanze Rudert / Günther Gercken (Hg.): Maniera Baselitz. Das Nonkonforme als Quelle der Phantasie – Nonconformity as imagination’s wellspring.
Sandstein Verlag, Dresden 2018.
168 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783954983803

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