Wohltuende Rückkehr zum Analogen

Ein surrealer Blick auf die Generation Smartphone von Lorenz Pauli

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lorenz Pauli, der nach eigenen Aussagen seine Bücher für Kinder von vier bis elf und für Erwachsene schreibt, beschäftigt sich nicht zum ersten Mal mit dem Thema „Buch im Buch“. Die bereits 2012 erschienene Pippilothek??? ordnet sich genauso wie das aktuell erschienene Oje, ein Buch! in eine Bilderbuch-Subgattung ein, die in den 2000er Jahren einen beträchtlichen Aufschwung genommen hat: Das Buch im Buch im Buch von Jörg Müller, Das Lieblingsbuch des Benni Stern vom Duo Julia Donaldson und Axel Scheffler, Die fliegenden Bücher des Mr. Morris Lessmore von William Joyce, Balthasar und die Bibliotheksfledermaus von Jakob Perschy und Hans Döring, Bücher öffnen Welten von Colin Thompson, ferner das bezaubernde Mein Buch, mein Freund, ein Abenteuer von Jane Blatt und Sarah Massini, bereits für die jüngsten Buchliebhaber geeignet, und nicht zuletzt Wo die Geschichten wohnen von Oliver Jeffers können stellvertretend genannt werden für eine ganze Gruppe, in der nicht selten das traditionelle Medium Buch sowohl narrativ als auch illustrativ umworben wird.

Pauli präsentiert nun eine gänzlich digital durchsozialisierte Gestalt, die nicht von ungefähr den Namen Frau Asperilla trägt. „Per aspera ad astra“ – durch das Raue muss sie sich kämpfen, um zu den Sternen zu gelangen. Und das Raue beginnt bereits mit dem Geschenk, das für Juri bestimmt ist und das er Frau Asperilla unter die Nase hält. Diese, ganz digitaler Elefant im analogen Porzellanladen, zerreißt das Geschenkpapier und weiß mit dem Inhalt nichts anzufangen. „Es erzählt sich gar nicht“ – so ihre Klage, bevor Juri ihr erklärt, wie man mit einem Buch umgeht. Als das Lesen und das Umblättern der Seiten funktionieren, spart Frau Asperilla nicht mit Kommentaren zu der Geschichte, die sie vorliest. Auf diese Weise entsteht ein lebendiger Wechsel zwischen Rahmenhandlung und Binnenerzählung, zwischen Extra- und Intradiegese. Letztere ist als eher traditionelle Kettengeschichte einzustufen: es geht um Mama Maus, die sich verlaufen hat, weil sie nicht zwischen links und rechts unterscheiden kann. Aus diversen Begegnungen mit Monstern und Drachen geht sie unbeschadet hervor und kehrt danach wohlbehalten zu ihren Kindern zurück. Da Mäuseprotagonisten alles andere als selten sind, ruft dieser Plot vielfache intertextuelle Reminiszenzen auf. Neben Julia Donaldsons und Axel Schefflers Welterfolg The Gruffalo wäre hier ebenso „Hast du Angst?“, fragte die Maus von Rafik Schami und Kathrin Schärer zu erwähnen. Während die Maus im Gruffalo jedoch nur damit droht, den Gruffalo, das Monster also, zu fressen, es sei ja ihre Lieblingsspeise, setzt die Maus hier die Drohung in die Tat um, indem sie das Monster im Ganzen verschlingt. Die Drachen, die später vor der Tür stehen, wimmelt sie ab, indem sie ihnen ein Buch in den Rachen wirft. Als Mama Maus wieder zu Hause ist, gesteht sie ihren Kindern, warum sie sich verlaufen hat. Wo links und wo rechts ist, liegt immer an der Perspektive, so stellt sich dabei heraus. „Ja: Andersrum ist’s andersrum“ – so lautet die Erkenntnis des Buchliebhabers Juri. Vielleicht schwingt da durchaus ein bisschen Gnade für die digitalen Medien mit, weil man mit ihnen problemloser die Perspektive wechseln kann als mit einem Buch.

Womit Oje ein Buch! neben dem Grundthema „Buch im Buch“ punktet, ist die gelungen vorgeführte Rolleninversion. Eigentlich ist es die Aufgabe der Erwachsenen, Kindern Bücher näherzubringen, Titel auszusuchen und ihnen vorzulesen. Wenn „die Großen“ aber nur dem Digitalen frönen, müssen die Kinder die Leerstelle des Analogen neu beleben. Der kleine Junge bekehrt Asperilla zum Buch, weist ihr den Weg zu den Sternen und tut sich damit selbst einen großen Gefallen. Er findet nicht nur jemanden, der für ihn liest, sondern gleichzeitig jemanden, der mit ihm über das Buch diskutiert. Damit führt Pauli ebenfalls ein schönes Beispiel für dialogisches Vorlesen vor Augen.

Dieser Rahmen ist jedoch fast schon eine Dystopie (mit Happy End), surreal und angereichert mit einer märchenhaften Geschichte in der Geschichte, der es auch an parodistischen Akzenten nicht zu mangeln scheint. Die Illustrationen von Miriam Zedelius sind passgenau dazu angefertigt. Was sofort ins Auge fällt, ist, dass Juri und Frau Asperilla in einer kargen Schwarz-Weiß-Welt agieren. Während sie lediglich mit Linien aus Kohlestift skizziert sind, kommt alles, was zum Buch im Buch gehört, farbig in den Grundfarben und in Grün daher.

Zum Schluss drängt sich lediglich die Frage nach den primären Adressaten des Bilderbuches auf: Für kleinere Kinder ist die Geschichte in der Geschichte eventuell nicht uninteressant, die sogenannten Digital Natives, deren Habitus aufs Korn genommen wird, werden sie indessen kaum zur Kenntnis nehmen. Für Eltern jedoch, egal ob Digital Natives oder Digital Immigrants, die sich mehr dem Smartphone als ihren Kindern widmen, könnte Oje ein Buch! einen Anstoß zur Reflexion geben. Per aspera ad astra…

Titelbild

Lorenz Pauli: Oje, ein Buch!
Illustriert von Miriam Zedelius.
atlantis - orrell füssli verlag, Zürich 2018.
32 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783715207421

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